Mehr Wissenschaftler in die Politik!
Bundesminister Karl Lauterbach richtet mit „Bevor es zu spät ist“ einen deutlichen Appell an Bevölkerung und Politik
Von Thorsten Schulte
Bundesminister und Professor Karl Lauterbach beschreibt in seinem neuen Buch Bevor es zu spät ist, „was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält“. Die Politik wird den Klimawandel womöglich nicht aufhalten können, weil notwendige radikale Schritte vielleicht nicht umgesetzt werden und Kipp-Punkte schneller als befürchtet erreicht werden.
Als Kipp-Punkte werden unumkehrbare Prozesse bezeichnet, welche dazu führen, dass die Erde unbewohnbar wird. Bereits das Überschreiten einzelner Kipp-Punkte hat weitreichende Umweltauswirkungen, die die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährden. Dass sich die Kipp-Punkte zudem gegenseitig verstärken, gilt als sehr wahrscheinlich. Es drohen Kettenreaktionen, welche die katastrophalen Auswirkungen beschleunigen.
Dies war schließlich auch die Botschaft der UN-Klimakonferenz 2021 in Glasgow, bei der sich zum ersten Mal in der Geschichte der Weltklimakonferenzen alle Staaten auf eine beschleunigte globale Energiewende weg von der Kohleverbrennung einigten. Bundeskanzlerin Dr. Merkel sprach in Glasgow von der Notwendigkeit einer „umfassenden Transformation unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens“. Unmittelbar nach der Klimakonferenz beendete Karl Lauterbach die Arbeit an seinem neuen Buch.
„Der Bürger muss anders essen, anders fahren, anders heizen, anders konsumieren“, unterstreicht Lauterbach darin die Notwendigkeit der Verankerung nachhaltigen Handelns nicht nur in Politik und Unternehmen, sondern im Alltag jeder Bürgerin und jedes Bürgers. Er begründet seine Thesen mit aktuellen Analysen, Studien des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Büchern des amerikanischen Journalisten David Wallace-Wells und Mahnungen von Wissenschaftlern u. a. der Hertie School und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und fasst zusammen: „Die Erkenntnis, wie bedeutsam die Kippkaskaden sind, hat alles noch dringlicher gemacht.“
Drastische Beschränkungen der CO2-Emissionen seien erforderlich, hat auch das Bundesverfassungsgericht 2021 in seinem wegweisenden Urteil zur Klimagesetzgebung festgestellt. Die bisherigen Vorschriften verschöben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Auf Druck dieses Urteils hätte die damalige Große Koalition „erstrebenswerte Ziele“ beschlossen, schreibt Lauterbach. Selbstkritisch gesteht er hernach ein, dass die Politik „die Not der Lage […] selten ungeschminkt“ mitteilt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hätten sich die wahlkämpfenden Parteien vor der Bundestagswahl wider besseres Wissen bei ihren Forderungen mit dem begnügt, „was von den Wählern noch akzeptiert werden kann“. Diese Deutlichkeit, klare Sprache und Ehrlichkeit zeichnen das Buch von Bundesminister Lauterbach aus.
Lauterbachs These ist, dass „Wissenschaftler sowohl im Parlament als auch in den Parteien stärker vertreten“ und direkt beteiligt sein sollten. Dann würde es schneller und effektiver bei der Energiewende vorangehen. Während der Corona-Pandemie hat die Politik bewiesen, dass die Einbindung der Wissenschaft beispielsweise im Beraterstab im Kanzleramt gut funktionieren kann. Die Ergebnisse der Coronapolitik seien schlechter geworden, „wenn Politik und Wissenschaft sich voneinander trennten“.
Zugleich gesteht er beispielsweise, dass zur Bekämpfung des Klimawandels Benzin und Heizöl-Preise so steigen müssten, dass er den Preis „hier nicht einmal nennen will“. Wem etwas an seiner Wiederwahl liege, dürfe diese Preise nicht aussprechen. Deswegen sucht die Politik nach Kompromissen, obwohl Klimawandel und drohende Unbewohnbarkeit des Planeten wissenschaftlicher Konsens sind. Dies ist ein Resultat aus den zwei Rollen, der des Wissenschaftlers Professor Lauterbach und seiner politischen Verantwortung mit dem Ziel des Machterhalts. Der Autor gesteht diese Problematik in Bevor es zu spät ist ein.
Sehr emotional zweifelt er an, „ob wir das alles wirklich begriffen haben“, ob alle die gewaltigen Aufgaben angehen werden und ob wir es schaffen können. „Uns bleibt wenig Zeit“, schleudert er mehrfach dem Leser entgegen. Das ganze Leben müsse sich ändern – eine noch immer für zu viele beängstigende Aussage. Lauterbach kämpft. Lauterbach provoziert, wenn ein großer Teil der Bevölkerung sich „nicht einmal“ gegen das Coronavirus impfen lässt, um das eigene Leben zu retten und andere nicht zu gefährden, wie ist es dann „um die Bereitschaft bestellt, jene Veränderungen im Lebensstil zu akzeptieren, die für das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels unabdingbar sind?“ Er spitzt zu, es gehe um die Rettung der Menschheit. Er betont, dass die Situation sich auch dann über Jahrzehnte nicht verbessern wird, wenn sofort einschneidende Maßnahmen ergriffen werden: „Dafür ist schon viel zu viel im Gang.“
Dies ist keine beruhigende Perspektive. Aber es ist ein deutlicher Appell an Bevölkerung und Politik, die Energiewende zu unterstützen und dabei Probleme offen zu benennen. In der Wissenschaft ist es keine Peinlichkeit, ein Problem zu benennen und nicht gleich zu lösen. „Die ständige Korrektur ist diesem System immanent“, schreibt Lauterbach. Die Politik müsse hiervon lernen. Obschon die Umsetzung der Ausbaupläne für die Erneuerbaren Energien viel politisches Kapital kosten kann, muss mit ganzer Kraft daran gearbeitet werden. Es darf nicht laviert und lamentiert werden. Das Tempo des Ausbaus reicht nicht aus.
Und obwohl dies keine neue Erkenntnis ist und Lauterbachs Buch auch ansonsten keine überraschenden Analysen und keine unbekannten, neuen Forschungsergebnisse bietet, ist es ein bemerkenswertes Buch. Denn das Eingeständnis der unzulänglichen Kompromisssuche der Politik ist ebenso ungewöhnlich wie die Forderung nach mehr Beachtung und Einbindung der Wissenschaft in der Politik. Dass diese Forderung von einem Mitglied der aktuellen Bundesregierung vorgelegt wird, ist ein hoffnungsvolles Signal.
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