Eine lyrische Reise vom hellenischen Mythos ins Heute

Pia Birkels Gedichtband „schmelzwert“ ermuntert zum Nachdenken

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In mythisch kolorierten Momentaufnahmen werden Zeitspannen überbrückt. Imaginierte Gestalten aus der hellenischen Epoche treten poetisch in die Gegenwart ein. Was zunächst eher wie ein gekünsteltes Vorhaben als ein künstlerisches Gedankenspiel anmutet, erscheint in dem lyrischen Debütband von Pia Birkel sprachmächtig, artistisch und klangvoll. Zugleich dichtet die junge Autorin, 1998 im Schwarzwald geboren, nun in Leipzig ansässig, eher bedächtig als rauschhaft.

Die „haarrisse der antike“ würden „im ferngespräch mit partikeln“ sichtbar. So treten Spiegelungen zutage, die Sprache erscheint durchlässig. In das Gewebe gegenwärtiger Dichtungen wird Diana, die Göttin der Jagd, ironisch und ernsthaft eingebettet, auf gewisse Weise auch mit Wörtern neu eingekleidet. Doch das Spiel mit den Begriffen ist niemals nur Zeitvertreib. So fährt das lyrische Ich „neulich im monat november“, also im Nebelgrau der Endlichkeit, einen ganzen Tag hindurch über „den sumpffluss breit“, angemessen illusionslos – „mir ist alles fasten“, besonders auf dem Fluss Lethe:

setzen, vergärt uns, versandet die sprache–
am bach erinnern, zutage gebracht
fasten die tage voran.

einander, wir wissen nur
fragen die niemand uns klärt,
neulich im monat november.

Die Sprache also „versandet“ oder nimmt lyrische Gestalt an, in denen die Erinnerungen Raum finden und beheimatet sein können. Wir denken selten poetisch, schwebend, leicht oder unbeschwert, aber Pia Birkel weiß von der Musikalität, die auftreten und erklingen kann, selbst wenn im antiken Mythos auch „fragen die niemand uns klärt“ unbeantwortet verbleiben. Gedacht werden darf freilich, dass Antworten bestehen oder Antwortversuche, ob religiöser, philosophisch erhabener Art oder in Dichterworten. Aber genügt das? Die Sprache „versandet“, sie darf karg werden und nüchtern – bei den „fragen die niemand uns klärt“, sowohl im November, dem Monat des Totengedenkens, als auch an sonnigen, sommerlichen Tagen, an denen die Antworten, wenn die Endlichkeit spürbar wird, genauso ausbleiben. Wie dürfen wir lesend sein, dass die Dichterin auf Klärungsversuche verzichtet und zugleich nicht in einer lyrischen Schwermut versinkt.

Auch in einem späteren kurzen Gedicht mit dem bewusst gewählten Titel neues vom jenseits kehrt das Thema wieder – es gebe in den „maschen der sprache“ kein Entrinnen. Das „dunkle netz“, aus Worten „geknüpft“, wird „mit aller sanftheit des fischens“ über das lyrische Ich geworfen – und es erfährt, wie Worte „sich um mich verengten“. Eine Fremdheitserfahrung wird berichtet, ganz neu, auch undramatisch, nicht stilisiert. Dieses Gedicht steht sozusagen an der Schwelle des Übergangs oder Endes – auch Schwebezustände werden nicht vorgestellt:

mein körper fremd, gebadet geölt
sank nirgends hinab
als ich im sterben lag.

Pia Birkel negiert die Träume und Fantasien, auch die Vorstellung des Mythos, mit denen sie arbeitet. Dennoch zeigt sich eine besondere Form der Nachdenklichkeit, wenn dem dahinscheidenden lyrischen Ich der Körper „fremd“ wird, ist damit jede Art von Fortdauer ausgeschlossen? Den Begriff Seele meidet die Lyrikerin vernünftigerweise. Wird „neues vom jenseits“ gezeigt, sichtbar gemacht? Das scheint so zu sein, wenn nämlich eine letzte innere Erfahrung benannt wird – „mein körper fremd“. Der Sterbende nimmt sich selbst nicht mehr als kontrollierend, lebenstüchtig und lebenskräftig war, sondern sieht nur, dass die körperliche Gestalt ihre Kraft verliert, noch gespürt wird, aber schon so, als ob sie bereits „fremd“ ist. Auch von hier aus lassen sich Wege des Denkens und Dichtens zur hellenischen Welt öffnen, etwa Fragen über Leib und Seele. Doch die Lyrikerin verzichtet darauf, diese Formen des Mythos auszusprechen oder gar zu diskutieren. Über den Körper dichtet sie später:

ich reiche dir den arm, behalte ihn:
mein körper ist ein land,
in dem ich nicht mehr leben kann.

ich reiche dir den finger, nimm die hand:
mein körper ist ein land,
in dem ich mir nicht selbst gehöre.

ich reiche dir den wein, vergifte ihn:
mein körper ist ein land,
in dem ich invalide bin.

So rätselhaft diese Verse zunächst anmuten, so lässt der Abschluss dieses längeren Gedichtes aufmerken:

ich geh nicht demonstrieren, nur zum
supermarkt. ich würde emigrieren,
ungefragt! ich weiß nur nicht, wohin.

Lesend ertappt sich die eine oder der andere vielleicht unerwartet beim Lächeln. Es stimmt, was die Dichterin zu den analytischen Experimenten am Anfang schreibt, denn die Sprache liege wie „eingespannt“ hier und solle doch immer „ausgelesen“ werden, gedeutet, verstanden, sinnreich und erkenntnisgesättigt möglicherweise anmuten oder zum Nachdenken anregen. Doch Pia Birkel sträubt sich gegen diese Vereinnahmungen oder Okkupationen von außen.

Das gewählte Bild hierfür ist der Körper, der als Land bezeichnet wird, das besetzt werden kann, aber dem lyrischen Ich eigentlich nichts raubt. Es ist die Weisheit des antiken Philosophen Diogenes, der alle Fragen letztlich abweist und Alexander dem Großen, der ihm einen Wunsch erfüllen wollte, bekanntlich sagte: Geh mir aus der Sonne! Also würde hier das lyrische Ich natürlich „emigrieren“, ohne dazu gedrängt zu werden, doch es geht nicht einmal zu Demonstrationen, bloß zum Supermarkt. Weil es nicht weiß, wohin es sonst gehen sollte, kann es einfach dort bleiben, wo es sich aufhält: „ich würde emigrieren, / ungefragt! ich weiß nur nicht, wohin.“

Die junge Dichterin gibt mit ihren Sprachkunstwerken Einblicke in das weite Land einer Philosophie, die außerhalb jeder Systematik liegt. Ihre außergewöhnlichen Gedichte dürfen von Leserinnen und Leser entdeckt, erkundet und bestaunt werden. Pia Birkels Debüt beeindruckt sehr.

Titelbild

Pia Birkel: schmelzwert. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2022.
72 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305147

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