Ungerade Wege in ungeraden Zeiten

Hilde David erinnert sich an „Abschiede, Aufbrüche“ in Hamburg zwischen 1926 und 1949

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Tag am Anfang des Monats März 1936. Soeben waren deutsche Truppen in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert. Hilde David, die sich an ihre Kindheit und Jugend erinnert, war für eine relativ kurze Zeit von Hamburg nach Köln gezogen, weil ihr Vater dort eine neue Stellung gefunden hatte. Als dieser am Abend nach Hause kam, sah er besorgt aus, einen Krieg jedoch glaubte er trotz des Bruchs international gültiger Verträge nicht befürchten zu müssen: „Irgendwann, erklärte er, müssten ja mal wieder normale Zeiten eintreten.“ Die äußerten sich einstweilen darin, dass er von der Krankenkasse, bei der er beschäftigt war, wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten entlassen wurde. Die Familie packte ihre Sachen und kehrte in die Heimatstadt zurück. Dort, an der Elbe, blieben sie mit kriegs- und nachkriegsbedingten Unterbrechungen bis an das Ende ihrer Tage. Vater und Mutter allerdings trennten sich. Das Mädchen Hilde wuchs fortan allein bei der Mutter und der Großmutter auf, die zu wesentlichen Teilen die Betreuung übernahm. Einfacher wurde, wie sich bald zeigte, das Leben allerdings nicht.

Geboren 1926, als sich die Weimarer Republik unter dem Schirm wiedergewonnener Stabilität wähnte, verbrachte Hilde David ihre Kindheit, später dann den größten Teil des Erwachsenwerdens in Quartieren, von denen sich die noble hanseatische Gesellschaft fernhielt. Es waren die Heimstätten der kleinen Leute, die ihre Existenz überwiegend in wenig komfortablen Verhältnissen hinbrachten. Die Autorin focht das freilich nicht an. Ihre Mutter war Mitglied bei der sozialistischen Arbeiterjugend, hatte lose Kontakte zur oppositionellen Fraktion der KPD (O), trat ihr aber nicht bei. Der Vater, ein Angestellter, war beeinflusst von der bündischen Jugend, hatte Bücher von der gewerkschaftlichen Büchergilde Gutenberg im Regal. Mag sein, dass die beiden den Idealen einer auf gegenseitige Unabhängigkeit bedachten Kameradschaftsehe anhingen, in der Praxis bewährten sich diese jedoch nicht. Seit 1925 verheiratet, sammelten sie Erfahrungen in Beziehungen, die das Fundament der Ehe beeinträchtigten. Dass sie – einstweilen – zusammenblieben, war der Ankunft der Tochter geschuldet. Ein Kind, lautete die wenig überraschende Maxime, solle „in elterlich-ehelicher Gemeinschaft aufwachsen“.

Politisch schlugen die Herzen der Familie links. Tochter Hilde lernte früh, dass man die „braunen Nazis“ nicht mochte, auch, dass man die am Küchentisch diskutierten Dinge nicht nach außen tragen sollte. Mit der Machteroberung Hitlers und seiner Partei wurden die gewohnten Abläufe des Alltags nicht völlig beiseite gedrückt, bisweilen wurden sie jedoch unkalkulierbarer. Im August 1934 starb Reichspräsident Hindenburg. Die Mutter, die ihn nicht schätzte, meinte, nun sei niemand mehr da, der die Regierung würde bremsen können. Das war zwar kaum mehr als Wunschdenken, aber es lässt ahnen, dass die Politik in der Familie eine gewisse Rolle spielte. Auf welchem Niveau und mit welcher Intensität, bleibt offen. Über Gewalt und Terror, über die Verfolgung Oppositioneller und Andersdenkender erfährt man einstweilen nichts.

Auf die Frage, was „eigentlich“ geschehe, lautete die Antwort: „Hier und da ein paar aufgeschnappte Sätze, zusammenhanglos, aber sich summierend zu staunender Unsicherheit, banger Bedrückung.“ Erich Kästners Emil und die Detektive, das Lieblingsbuch des Mädchens, war verboten. Überhaupt konnte fortan etliches nur noch daheim gelesen und vorgetragen werden. In Köln, der zweijährigen Zwischenstation, riefen anfänglich Kinder aus der Klasse: „Hilde ist ein Judenkind“, was vermutlich dem Nachnamen David geschuldet war. Zu geschlossener Wahrnehmung verdichtete sich dieses Erlebnis indes nicht. Es gehörte wie manch anderes zu den Details, die punktuelle, dann jedoch bald wieder vergessene Ängste auslösten.

Dies verflüchtigte sich nach der Rückkehr in die vertrauten Hamburger Gefilde nicht. Im Gegenteil. Ende April ließen sich die Eltern scheiden, die Großmutter, ohnehin eine wichtige Bezugsperson, wurde noch wichtiger. Der Vater, der inzwischen nach rechts gerückt war, ermahnte seine Ex-Frau, sie möge das gemeinsame Kind „im Sinne des Nationalsozialismus“ erziehen. Das allerdings passierte nicht. Großmutter, Mutter und Kind bildeten einen Dreimädel-Haushalt, begegneten dem Regime mit gewohnter Skepsis und hielten mit ihrer Meinung im internen Kreis nicht hinter dem Berg. Auch Hilde hatte verstörende Erlebnisse zu verarbeiten. Eine Klassenkameradin, Yvonne, kam aus einer jüdischen Familie, wurde nicht für das Gymnasium zugelassen, im Herbst 1938 teilte sie mit, dass sie mit ihren Eltern ins Elsaß ginge. „Das klang anders als ein gewöhnlicher Umzug“, kommentiert die Autorin. An einen Abschied von Yvonne erinnert sie sich nicht: „Keine Worte her und hin, keine guten Wünsche“ und „niemals Briefe“. Die antisemitische Repression ließ die Kommunikation abrupt abrechen. Fortan gab es keinen Gedankenaustausch, keine Information. Das Schicksal der Freundin verschwand ins Dunkle, das zu durchdringen fürderhin nicht mehr möglich war. Ob dies versucht wurde, bleibt offen.

Der Vater, der nach Wilhelmshaven gezogen war, fragte die Tochter gelegentlich, wie die Mutter „jetzt politisch“ stehe. Hilde fühlte sich dadurch unter Druck gesetzt. Gleiches empfand sie, wenn der Vater sich weigerte, ihr einen Krankenschein zu schicken. Das Problem für den rechtsgewendeten Mann war, dass der seit langem schon konsultierte Hausarzt ein Jude war. Das könne er der Krankenkasse nicht länger zumuten, bekundete er. War schon dies verstörend, so steigerte sich das Empfinden von Unsicherheit im Sommer 1939 im Landschulheim, das an der Ostsee gelegen war. Draußen am Horizont waren Schiffe zu erkennen, auf die geschossen wurde. Wer die Granaten abfeuerte, war unklar. Alles verharrte im Vagen. „Nur den Lärm“ hörte das Mädchen, „bis heute“, notiert sie, habe sie ihn im Ohr: „Dumpfes Donnern, stundenlang, gleichmäßig sich wiederholend, weit übers Meer hallend“, auch das „leise Sprechen der Erwachsenen und ihre besorgten Blicke“ entgingen ihr nicht.

Derartige Bilder, in denen sich die politischen Gegebenheiten spiegeln, tauchen immer wieder auf im Text. Wenn man will, dienen sie dem Versuch, das Geschehen einzuordnen. Authentisch wirken sie überall da, wo Beobachtungen und unmittelbar ausgelöste Gefühle mitgeteilt werden. Bisweilen trifft man jedoch auf allgemein gehaltene Einschübe, Fremdkörpern gleich, die spätere Einsichten transportieren, insofern aus dem Fluss des fortlaufenden Textes herausfallen. Denn der ist in der Hauptsache dem eigenen Erleben gewidmet, gibt einen dichten Eindruck von den verschlungenen Wegen in den Milieus der kleinen Leute. Wir werden gewahr, wie hier ein Mädchen aufwächst, sich von widrigen Umständen nicht aus der Bahn werfen lässt. Die Zumutungen, mit denen sie konfrontiert wird, die ihr auferlegten Schicksalsschläge erträgt sie, stets aufgefangen durch die Familie, durch Nachbarn, durch die Schule, durch die Lehrerinnen, denen sie vertraut und die ihrerseits das ihnen entgegengebrachte Vertrauen nicht enttäuschen.

Zu diesen Bildern, die von intensiv durchlebten Momenten erzählen, gesellen sich Gegenbilder. Mit dem Krieg werden sie zahlreicher. Die einigermaßen geordnete Existenz wird durchgerüttelt: von Enttäuschungen und Fehlschlägen, die allesamt eingebettet sind in die Ereignisse des Krieges. In der Hafenstadt Hamburg sind das die Bomben. Im Juli 1943 lösen sie vernichtende Feuerstürme aus, denen Zehntausende zum Opfer fallen. Hildes Schullaufbahn verliert die gewohnte Kontinuität, eine Ausbildung zur Krankenschwester muss sie aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Die Angriffe der Flieger zerstören das Haus, in dem sie mit ihrer Großmutter lebt, das Mädchen verbringt etliche Wochen auf dem Land, erledigt viele der alltäglichen Pflichten. Der Zusammenhalt der Familie übersteht jedoch all diese Widrigkeiten.

Eines aber greift tief in die Gefühlswelt der Heranwachsenden ein. Sie erfährt die erste, die große Liebe zu einem Jungen, mit dem sie singt und musiziert, viel unterwegs ist, der allerdings den Ehrgeiz hat, sich als Soldat an der Front zu bewähren. In den Briefen, mit denen sie sich regelmäßig austauschen, entdeckt Hilde etliches, was sie bekümmert. In ihren Erinnerungen sieht sie darin Gedanken, die von der „Propaganda des NS-Staates“ und der „in der HJ einseitig-nationalistisch vermittelten Geschichte“ geprägt sind. Obwohl für den Kriegseinsatz nur bedingt verwendungsfähig, lässt er diese Einschränkung aufheben. Bald erreichen ihre Briefe den Geliebten nicht mehr. Am ersten Advent erreicht sie die Nachricht, dass er im Baltikum gefallen ist. Der Wunsch, sich auf eine gute Ehe vorzubereiten, hat sich als „einsamer Traum“ entpuppt.

Das Ende des Krieges bietet die Chance, neu anzufangen. Hilde David knüpft Beziehungen zur Gewerkschaftsbewegung in Hamburg, bei der sie nach dem Ende als Krankenschwester eine nun stabile Beschäftigung findet. Die von der britischen Militärregierung geförderte Reeducation bietet die Chance mitzumachen, mitzudenken, mitzuhelfen. Diese Perspektive füllt sich mit intensiv erlebter Anschauung im Winter 1948/49 während eines halbjährigen Fortbildungsaufenthalts in Schweden, veranstaltet durch das dort ansässige Komitee für demokratische Aufbauarbeit. Die dabei gesammelten Erfahrungen bilden, so scheint es, einen unverbrüchlichen Grundstock für das, was kommt: Arbeit im Rahmen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, einen Lebensgefährten, der denselben Vornamen hat wie der im Krieg Gebliebene. Ihre Wege in die Welt der Erwachsenen hat sie in den letzten Lebensjahren mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Tochter Dörte nachgezeichnet. Daraus ist ein interessantes, facettenreiches Buch geworden. Als dessen Motto mag ein Satz der Autorin stehen: „Erinnerungsarbeit ist Arbeit. Aber selbstbestimmte, nicht entfremdete.“

Titelbild

Hilde David: Abschiede, Aufbrüche. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in Hamburg 1926–1949.
Junius Verlag, Hamburg 2021.
592 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783960605485

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