Hoffmann und Gogol, sudelnd

Caroline Schubert widmet sich in „Defiguration der Schrift“ einer Schriftpoetik der europäischen Romantik

Von Maximilian KloppertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Kloppert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Länger schon lässt sich in der Literaturwissenschaft ein neuerliches Interesse an der ‚Materialität der Kommunikation‘ entdecken. Materialität wird hierbei nicht mehr als abstrakte Reflexionsfigur eines Bereichs diesseits der Hermeneutik verstanden, sondern als konkrete Materialität schriftlicher Textzeugnisse, der man sich in verstärkt materialbasierten Studien widmet. Caroline Schubert schließt sich mit ihrer Arbeit Defiguration der Schrift jedoch nicht einfach diesem Trend an, vielmehr verbindet sie in ihrer Arbeit beide Facetten der Materialität: Intensive Lektüren der Texte von E.T.A. Hoffmann und Nikolaj Gogol einerseits, Untersuchungen unterschiedlicher Schriftzeugnisse derselben andererseits zeichnen ihre Arbeit aus.

Von Interesse sind dabei vor allem Momente, in denen die Schrift Gefahr läuft, keine Schrift mehr zu sein: Tintenkleckserei, Makulatur und Schreibfehler – allesamt Phänomene, die Materialität in besonderem Maße ausstellen, weil sie die Existenz der Schrift bedrohen und sich so zwischen Bedeutungsleere und Bedeutungssehnsucht bewegen. Gerade hiervon ausgehend sollen Einsichten in die Schriftreflexion der europäischen Romantik gewonnen werden, die, anders als häufig behauptet, sehr wohl die Materialität von Schrift in den Blick rückt – ein Projekt, das der Arbeit über weite Strecken auch sehr gut gelingt.

Den Studien zu Hoffmanns und Gogols Schriftpoetik ist ein umfangreiches Kapitel vorangestellt, welches frühromantische Schrift- und Formreflexionen mit der Materialität von Literatur verknüpft. Diese Verknüpfung markiert nicht nur eine bislang existierende große Forschungslücke, sondern gelingt Schubert auch außerordentlich überzeugend. Zudem überrascht das Kapitel, obwohl nicht eigentliches Zentrum der Arbeit, mit einer Materialfülle von nicht nur (allzu) kanonischen, sondern auch vielen spannenden, weitgehend unbekannten Texten. Einzige versäumte Chance: Die Arabeske wurde nicht an ihre kalligraphischen Ursprünge zurückgebunden, sondern primär als Formprinzip in den Blick genommen. Der Bezug auf die Kalligraphie hätte sich nicht nur wegen des Interesses der Arbeit an der Materialität von Schrift angeboten, sondern hätte sicherlich auch für die Analysen produktiv sein können, spielt Kalligraphie doch in den Überlegungen zu Hoffmann und Gogol eine Rolle.

Dies schmälert den Erkenntnisgewinn des Kapitels jedoch nicht, vor allem, weil hier nicht nur Frühromantik und Materialität miteinander verknüpft, sondern – durch die Verbindung dieses Kapitels mit den anschließenden Studien – außerdem ausführliche Bezüge zwischen Frühromantik und Romantik aufgezeigt werden – Bezüge, die sonst häufig schlicht behauptet, aber selten ausgeführt werden.

Auch die Studien zu den beiden Autoren zeichnen sich durch überzeugende Textarbeit aus, jedoch offenbart schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis ein spürbares Ungleichgewicht zwischen den beiden Teilen: Die Untersuchung von Gogols Texten umfasst rund 80 Seiten mehr als die der Texte Hoffmanns, was sich natürlich in der Ausführlichkeit der Analysen bemerkbar macht.

Im Zentrum des Hoffmann-Teils stehen zwei große Analysen: eine von Der goldne Topf und eine von Die Lebens-Ansichten des Katers Murr. Vor allem Der goldne Topf ist seit Jahrzehnten klassische Referenz für romantische Schriftreflexion; Schubert gelingt es jedoch, durch eine stärkere Betonung religiöser Motive – die im Übrigen in der gesamten Arbeit eine zentrale Rolle spielen – neue Einsichten zu gewinnen. Im Zentrum steht hierbei der Tintenklecks, der von ihr als materia prima, als Ursprungsmaterie der (poetischen) Welt verstanden wird. Durch Seitenblicke auf andere Erzählungen Hoffmanns kann jedoch dargelegt werden, dass der Tintenfleck auch in anderen Diskurszusammenhängen in Hoffmanns Werk eine zentrale Rolle spielt.

Dies gilt auch für Die Lebens-Ansichten des Katers Murr, denn die ersten Schreibversuche des Katers zeichnen sich durch viele Kleckse aus. Eine noch größere Rolle spielt im Roman jedoch die Makulatur, ist der gesamte Roman doch von dieser durchsetzt. Durchsetzt ist der Roman noch dazu von vielen Zitaten und weiteren intertextuellen Anspielungen. Besonders gelungen arbeitet Schubert die Bezüge zur Frühromantik heraus und zeigt auf, wie diese gezielt ironisch gebrochen werden: Der Roman konfrontiert die Unendlichkeitsphantasien der Frühromantik mit der Endlichkeit des materiellen Artefakts ‚Buch‘. Trotzdem sprengt auch Hoffmanns Roman die Grenzen des Mediums. Durch den Rückgriff auf handschriftliche Zeugnisse Hoffmanns kann nämlich nachgezeichnet werden, dass der Kater auch jenseits des Romans als ein Klecksender inszeniert wird und so die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen lässt.

Zu Beginn der Auseinandersetzung Schuberts mit Gogol – alle russischen Zitate sind übrigens auch in deutscher Übersetzung abgedruckt – steht eine diskursive Verortung von dessen Werk im Kontext des am Anfang des 19. Jahrhunderts entstehenden (belletristischen) russischen Buchmarkts und der zeitgleich entstehenden Kritik an Trivialliteratur – in die Gogol gleichwohl nicht mit einstimmt.

Schubert zeigt vielmehr auf, dass dieser sich vor allem in seinem Frühwerk mannigfach auf diese – häufig als Makulatur abgewertete – Trivialliteratur bezieht. Vor allem in seinem gleichnamigen Buch knüpft er diese dabei eng an die Figur der Arabeske und wertet sie so ins Positive um. Die Paradoxierung von Innen/Außen-Verhältnissen ist dabei zuweilen äußerst humoristisch, eine Dimension der Arabeske, die genau wie die Nähe zur Trivialliteratur auch schon bei Friedrich Schlegel angelegt ist.

Auch in Gogols Roman Tote Seelen erkennt Schubert die arabeske Formreflexion, die sie hier jedoch als gescheitert begreift: Von dem als Trilogie geplanten Projekt entstehen nur zwei Bände, und der zweite Band wird von Gogol schließlich zum größten Teil zerrissen und verbrannt. Dass es sich bei der Arabeske – zumindest nach dem Verständnis Schlegels – um eine Figur handelt, die sich notorisch dem Abschluss entzieht und gerade aus dieser Unabschließbarkeit große Teile ihres Potentials entwickelt, scheint dabei nicht berücksichtigt, bzw. es wird nicht thematisiert, ob die Arabesken-Konzeption Gogols sich in diesem Punkt von der Konzeption Schlegels unterscheidet.

Das letzte Kapitel befasst sich mit unterschiedlichen Formen des (Ab)schreibens in Gogols Werk. Ausgangspunkt sind kalligraphische Übungen Gogols, die allein ob ihrer Vielfältigkeit äußerst interessant sind und noch ausführlicher hätten untersucht werden können. Hiervon geht Schubert über zu den von Gogol nicht vernichteten handschriftlichen Überresten des zweiten Bandes von Tote Seelen und zum Protagonisten von Der Mantel, der Kopist ist. Schon hierdurch zeigen sich deutliche Parallelen zu Hoffmann – auch der Protagonist von Der goldne Topf ist bekanntlich Kopist –, die am Schluss des Kapitels noch deutlicher werden. Hier befasst sich Schubert mit Gogols Signatur, die häufig nur „oooo“ ist. Genau wie der Fleck bei Hoffmann lässt sich dieses „oooo“ als materia prima lesen, die Bedeutungsleere und -sehnsucht miteinander vereint. Zwischen Anfang und Ende, Allem und Nichts oszilliert also nicht nur die Schrift, sondern – hier fast schon performativ anmutend – auch Schuberts Arbeit, die somit zu einem souveränen Schluss kommt.

Auch wenn die Autorin stellenweise mehr ins Detail hätte gehen können, lässt sich die Studie dennoch mit großem Gewinn lesen. Der Dialog zwischen Frühromantik und den Werken Hoffmanns und Gogols offenbart interessante und einleuchtende Verknüpfungspunkte innerhalb der europäischen Romantik, die, vom Phänomen der Defiguration von Schrift ausgehend, weit über dieses hinausreichen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Caroline Schubert: Defiguration der Schrift. Tintenkleckserei, Makulatur und Schreibfehler bei E.T.A. Hoffmann und Nikolaj Gogol‘.
De Gruyter, Berlin 2021.
409 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110704990

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