Der Star als Mond, oder: Wie Joachim Ringelnatz versuchte, sich einen Reim auf Asta Nielsen zu machen
Ein Versuch aus Anlass ihres 50. Todestages am 25. Mai 2022
Von Rüdiger Singer
Der stumme Gruß (ein Tagebucheintrag)
Gestern Abend erlebte ich zum ersten Mal Joachim Ringelnatz. Es war in ,Schall und Rauch‘ [einem literarischen Berliner Kabarett], er las eigene Gedichte. Bei seiner Entre [sic] flog mir aus seiner nackten Matrosenbrust ein blaugemaltes Herz mit meiner Name durchbort [sic] von einem Pfeile entgegen. Und auf die Brücke die dieser stumme Gruss zwischen uns warf, sollte in wenigen Minuten meinem Herz in flammendes rot [sic] zurückeilen.
So lautet ein Tagebucheintrag von Asta Nielsen, dem erste Weltstar des Kinos, in die Schreibmaschine getippt vor knapp über hundert Jahren, am 4. Dezember 1921. Dass das Deutsch der Dänin noch etwas holpert, beeinträchtigt die poetischen Stimmigkeit dieser Miniatur umso weniger, als ja schon Ringelnatz, obwohl Vers- und Vortragskünstler, eine ,stumme Brücke‘ gebaut hatte: Der Ex-Seemann war offenbar als Kuttel Daddeldu aufgetreten und hatte sich eine Liebes-„Tätowierung“ auf die Brust geschminkt. Die Begegnung im Kabarett markiert, wie es in Barbara Beuys‘ Standard-Biographie von 2020 heißt, „den Beginn einer Freundschaft zwischen der groß gewachsenen Diva und dem kleinen nervös-ironischen Wortgenie, die im Lauf des Jahrzehnts intensiver wurde und erst mit Ringelnatz‘ Tod ihr irdisches Ende fand.“ Herzlichkeit und Unbefangenheit dieser Freundschaft sprechen sehr direkt aus Fotos von Urlaubs-Begegnungen auf Hiddensee, die beide beim gemeinsamen Lesen und hemmungslosen Herumalbern zeigen.
Und dennoch findet sich noch in Ringelnatz‘ Reisebriefen eines Artisten von 1927 ein Gedicht ÜBER ASTA NIELSEN, das sie nicht als Vertraute vorstellt oder gar anspricht, sondern in bewundernde Ferne rückt. Fünf Strophen, fünf Versuche, sich einen Reim auf sie zu machen, jeder in neuem Tonfall, aus neuer Perspektive:
ÜBER ASTA NIELSEN
So eine Landschaft gibt’s: Wo man den bleichen
Mond über weiten Ebenen sieht,
Der glanzlos, deutlich durch die Ferne zieht,
Die – weil sie in uns liegt – wir nie erreichen.
Jemand deutete auf eine Dame hin,
Die die Treppe scheuerte.
Er beteuerte:
Sie sei eine Königin.
Und ich wollte Klarheit, fragte
Sie, ob sie das sei, was jener dachte.
Und sie sagte:
„Nein!“ – Scheuerte und lachte.
Zu der großen Künstlerin kam ein Verehrer,
Schenkte ihr ein schweres Stück
Gold. Sie gab es freundlich ihm zurück,
Dankte wie ein gütiger und weiser Lehrer.
Man verwundete und scheuchte sie,
Böse oder dummbelehrt gezielt.
Töten konnte man sie nie.
Weil sie einfach Mensch ist, und weil sie
Es auch bleibt, wenn sie Theater spielt.
Blicke lange ihr ins Gesicht
Und dann denke nicht
Ihrer, sondern deiner selbst. Und sprich
Lange du mit mir über dich.
Der Stil des Gedichts schwankt zwischen dem hohen Ton der ersten Strophe und dem Reim „scheuerte/beteuerte“ in der zweiten; die Darstellung Nielsens pendelt zwischen diversen Überhöhungen und der treuherzigen Versicherung, sie sei „einfach Mensch“. Doch war nicht nur die Deutung dieser Künstlerin eine produktive Herausforderung für den Lyriker – auch das Gedicht ist trotz Mondschein teilweise dunkel für uns, fast hundert Jahre nach seiner Entstehung und fünfzig Jahre nach Nielsens Tod am 25. Mai 1972. Um etwas Licht hineinzubringen, werde ich es mit Blick auf biographische Hintergründe und zeitgenössische Zeugnisse interpretieren, und zwar strophenweise. Doch folge ich nicht Ringelnatz‘ Anordnung, sondern gehe zunächst der hindeutenden Geste nach, die Strophe 2 eröffnet, und lasse mich dann von der Logik der angebotenen Perspektiven leiten.
Die scheuernde Dame (Strophe 2)
Jemand deutete auf eine Dame hin,
Die die Treppe scheuerte.
Er beteuerte:
Sie sei eine Königin.
Diese Hindeutung war für zeitgenössische Leser*innen mehr als eine Andeutung: In gleich zwei erfolgreichen Filmen, der Tragödie Die arme Jenny (1912) und der Komödie Vordertreppe-Hintertreppe (1914/1916), spielte Nielsen eine junge Frau aus proletarischen Verhältnissen, die die Treppe scheuert und einen höhergestellten Mann beeindruckt. Er gaukelt ihr die Aussicht auf ein besseres Leben vor, sie glaubt ihm zunächst – und sucht am Ende des ersten Films den Freitod im Schnee, im zweiten Film dagegen entlarvt sie den Betrüger und findet ihr Glück bei einem treuen Kellner.
Der „Jemand“, der im Gedicht die Position des Verführers einnimmt, spricht allerdings nicht mit der die Treppe Scheuernden, sondern (nach der hindeutender Stummfilmgebärde) über sie. Damit ruft er das „lyrische Ich“ auf den Plan:
Und ich wollte Klarheit, fragte
Sie, ob sie das sei, was jener dachte.
Und sie sagte:
„Nein!“ – Scheuerte und lachte.
Keine „arme Jenny“ also, die aus dem Milieu ihrer Hintertreppe herauswill und sich deshalb gerne als „Königin“ huldigen lässt, sondern eine Frau, die zufrieden mit ihrer Arbeit ist und sich über männliche Huldigungen und Zuschreibungen amüsiert. Hier geht es nicht nur um die Filmfigur, sondern um die Schauspielerin: Nielsen wurde 1881 im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro geboren, ihr Vater war ein kränkelnder, oft arbeitsloser Schmied, ihre Mutter eine Wäscherin und Putzfrau. Doch berichtet Nielsen in ihren 1946 erschienenen Memoiren auch von einer vergleichsweise glücklichen Zeit zwischen 1883 und 1890, als ihr Vater gut bezahlte Arbeit im schwedischen Malmö fand. Die Familie lebte zwar weiterhin in einer Hinterhauswohnung, nun aber mit schöneren Räumen. Wie Nielsen sich erinnerte, wurden die Sonntage „dadurch gefeiert, daß meine Mutter früher aufstand als gewöhnlich. Ehe noch die Sonne aufging, wurde schon mit Schrubber und Bürsten hantiert, das Haus bebte vom Reinemachen, und Lieder […] mischten sich unter das Klatschen nasser Lappen, das Kratzen der Bürste und das Klappern der Töpfe.“ Die kleine Asta schloss aber auch Freundschaft mit einer jungen Frau, die in noch deutlich besseren Verhältnissen lebte: „Ich fand sie göttlich, wie sie da in all dem verwaschenen Hellroten lag, mit den runden weißen Armen faul unter dem Kopf auf dem spitzengeschmückten Kopfkissen.“ Nielsen verschweigt nicht, dass dieser bescheidene Luxus einem „guten ,Onkel‘“ zu verdanken war, doch das Gewerbe besagter Charlotte Carlson störte die Eltern des Mädchens keineswegs, und auch die Memoirenschreiberin zeichnet einfach das Bild einer lebenslustigen und warmherzigen Persönlichkeit.
Als Schauspielerin verkörperte Nielsen, wie der Kritiker Roland Schacht schrieb, „heute eine Kurfürstendamm-Göre, morgen eine Dame, eine Köchin, eine Mutter, eine Dirne“ (zit. nach Koebner) und wurde selbst zum internationalen ,Star‘. Doch stellt Andrea Haller nach Auswertung von Frauenzeitschriften der 1910er Jahre fest: „Im Unterschied zu anderen Filmschauspielerinnen wurde sie nie als ,Filmsternchen‘ bezeichnet, sondern als ambitionierte, selbstständige Künstlerin porträtiert.“ Und so hat es seinen präzisen Sinn, wenn im Gedicht die Überhöhung zur „Königin“ zwar abgewiesen wird, aber dennoch als objektive Tatsache dasteht, dass da eine „Dame […] die Treppe scheuerte“: Nielsens Verwandlungsfähigkeit war noble Kunst und harte Arbeit.
Die unbestechliche Künstlerin (Strophe 3)
Die folgende Strophe deutet eine weitere Komponente ihrer Schauspielkunst an, wiederum vor dem Hintergrund eines verfehlten Annäherungsversuches.
Zu der großen Künstlerin kam ein Verehrer,
Schenkte ihr ein schweres Stück
Gold. […]
Nach den Irritationen der zweiten Strophe („Dame“ und Scheuerfrau, Filmszene und Biographie, Huldigung und Auslachen) wird zunächst klargestellt: Wer ÜBER ASTA NIELSEN spricht, spricht (zwar nicht von einer „Königin“, wohl aber) von einer „großen Künstlerin“. Nicht verwunderlich, dass sie „Verehrer“ hat; doch hebt die Formulierung, dass einer davon ihr nicht Blumen oder Brillanten ,verehrt‘, sondern „ein schweres Stück/Gold“, die Szene ins Märchenhafte (man denke an „Hans im Glück“) oder auch ins Parabelhafte:
[…] Sie gab es freundlich ihm zurück,
Dankte wie ein gütiger und weiser Lehrer.
Was aber ist die Lehre, und wo liegt der Unterschied zur Idolatrie, die in der vorigen Strophe verlacht wird? Es war ja durchaus nicht so, dass die „große Künstlerin“ den finanziellen Erfolg ihrer Kunst verschmäht hätte. Doch lässt die Formulierung das „schwere Stück/Gold“ die Erwartung von Käuflichkeit anklingen, vielleicht auch von Prostituierung – und jedenfalls daran zweifeln, ob es dem „Verehrer“ nur um interesseloses Wohlgefallen geht. Obwohl Nielsen keinen landläufigen Vorstellungen praller Weiblichkeit entsprach, galt sie auch als Sexsymbol und drang insbesondere „in das fiebrig-entzückte Phantasie- und Traumleben jüngerer Männer“ ein (Thomas Koebner). Allerdings ist schwer zu bestimmen, wie weit Ringelnatz auf diese Dimension anspielt, zumal das Geschenk nicht lachend oder empört abgewiesen wird, sondern mit freundlichem Dank. Denkbar auch, dass es um die Zurückweisung lukrativer Rollenangebote in Filmen geht, die Nielsens künstlerischen Ansprüchen nicht entsprachen. In ihren Erinnerungen heißt es, dass sie im Ruf stand, „die einzige Filmschauspielerin zu sein, die fast alle Angebote ablehnte. Eine Firma hatte mir sogar in nüchternen Zahlen ausgerechnet, welche Summen mir allein bei ihr entgangen wären.“ Die Filmgewaltigen traten allerdings (wie wir noch sehen werden) nicht gerade als devote „Verehrer“ auf.
Wie auch immer: Im Gedicht transzendiert die freundliche Rückgabe des angebotenen Geschenks die Rollen von „Künstlerin“ und „Verehrer“: Sie verhält sich wie ein „Lehrer“ – ob er bereit ist, zum Schüler zu werden, bleibt offen. Was er lernen könnte, erklärt die übernächste und letzte Strophe.
Das reflektierende Gesicht (Strophe 5)
Formuliert wird das Lernprogramm als direkte Anweisung, die sich nicht nur an den „Verehrer“ richtet, sondern auch an die Leser*innen. Erster Schritt:
Blicke lange ihr ins Gesicht
Hinter diesem simplen Satz steckt einiges an Mediengeschichte – Grund genug für einen kleinen Exkurs. 1916 formulierte der Schauspieler Paul Wegener, im Stummfilm setzten die „Vergrößerung des Kopfes und der Hände, die Schärfe des Bildes, die grelle Beleuchtung, der Mangel farbiger Übergänge“ die Darsteller*innen „nahezu unter ein Mikroskop.“ Unter diesem Mikroskop des Close-Up, das seit den 1910er Jahren immer wichtiger wurde, gab es viel zu entdecken – oder auch neu zu lernen, wenn man der Argumentation von Béla Balázs folgt, der 1924 mit Der sichtbare Mensch die Filmtheorie begründete. Das Bändchen setzt mit einer großen These ein: „Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht der Menschen unleserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, daß sie die anderen Mitteilungsformen vernachlässigen konnten. […] So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche.“ Das aber sei nicht einfach eine Umkodierung, sondern ein Verlust an Authentizität: „Wer nicht redet, der kann noch übervoll sein von Dingen, die nur in Formen, Bildern, Mienen und Gebärden auszudrücken sind. […] Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schichte der Seele [sic], die Worte niemals ans Licht fördern können.“
Mit dem Film jedoch habe eine Renaissance visueller Kultur begonnen: „Die ganze Menschheit ist heute schon dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. Nicht den Wortschatz der Taubstummensprache, sondern die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.“ Allerdings werde dieser Prozess der Rückkehr zu unverbildeter Humanität noch eine Weile dauern. „Denn es ist ein Gesetz der Natur, daß jedes Organ, das nicht gebraucht wird, degeneriert und verkrüppelt. In der Kultur der Worte wurde unser Körper als Ausdrucksmittel nicht voll gebraucht und darum hat er auch seine Ausdrucksfähigkeit verloren, ist unbeholfen, primitiv, dumm und barbarisch geworden.“ In Asta Nielsen sah Balázs eine der wenigen Ausnahmen – und damit einen Vorschein des „sichtbaren Menschen“. Ein Beispiel:
In irgendeinem Film schaut Asta Nielsen zum Fenster hinaus und sieht jemanden kommen. Ein tödlicher Schreck, ein versteinertes Entsetzen erscheint auf ihrem Gesicht. Doch sie erkennt allmählich, daß sie schlecht gesehen hat und der sich Nähernde kein Unglück, sondern im Gegenteil großes Glück für sie bedeutet. Und aus dem Ausdruck des Entsetzens wird langsam, allmählich durch die ganze Skala von zagem Zweifeln, banger Hoffnung, vorsichtiger Freude hindurch die Ekstase des Glücks. Wir sehen dieses Gesicht etwa zwanzig Meter lang in Großaufnahme. Wir sehen jeden Zug um Augen und Mund sich einzeln lösen, lockern und langsam verändern. Minutenlang sehen wir die organische Entwicklungsgeschichte ihrer Gefühle und nichts weiter.
Dieses „nichts weiter“ bedeutet nichts weniger als Anschauungsunterricht in sichtbarer Menschlichkeit. Auch wenn nicht alle Krititker*innen Nielsen in so weitere Horizonte stellten: Ihre Schauspielkunst wurde allgemein als neuartig und aufregend gefeiert, ganz besonders ihr Mienenspiel in Großaufnahmen. Bald kam sogar der Begriff „mimischer Monolog“ auf. Er darf, wie Thomas Koebner in seinem scharfsichtigen Nielsen-Essay von 1995 betont, nicht so verstanden werden, als ob „durch diesen Monolog, durch diese Nah- oder Großaufnahme, die Handlung unterbrochen wäre – im Gegenteil, sie geht weiter voran, wird gleichsam nur enggeführt […]. Es sei nicht vergessen, daß die Impulse zu diesen wechselnden Ausdrücken zwar aus dem Inneren der Personen kommen, aber von äußeren Bedingungen und Vorgängen abhängen.“ Das gilt, wie Belázs meint, auch für kürzere Einstellungen: „Asta Nielsens Mienenspiel ahmt, wie das der kleinen Kinder, während des Gesprächs die Mienen des anderen nach. Ihr Gesicht trägt nicht nur den eigenen Ausdruck, sondern kaum merklich (aber immer fühlbar) reflektiert sich darin wie in einem Spiegel der Ausdruck des anderen.“
Koebner ist überzeugt, dass diese mimische Spiegeltechnik auch die Rezeption bestimmt: „Das Gesicht wird nicht nur zum Spiegel der Seele, diese Metapher ist in diesem Fall undeutlich, sondern zum Projektionsschirm von Gefühlsimpulsen, deren Licht- oder Schattenriß die Zuschauer von der anderen Seite her in erstaunlicher Klarheit lesen können.“ In Ringelnatz‘ Schlussstrophe nun wird die Aufgabe formuliert, diese Projektion in Reflexion zu überführen:
Blicke lange ihr ins Gesicht
Und dann denke nicht
Ihrer, sondern deiner selbst. Und sprich
Lange du mit mir über dich.
Ähnlich wie Balázs ist Ringelnatz überzeugt, dass Nielsens Spiel uns Zugang zu zivilisatorisch unverbildeter Menschlichkeit gibt, da die „,große Künstlerin‘, wie es in der (noch zu besprechenden) vierten Strophe heißt, „einfach Mensch ist“ (V. 20). Bálazs formuliert aber auch, Mienen und Gebärden des „sichtbaren Menschen“ kämen „von einer Schicht der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können“; Ringelnatz dagegen glaubt, dass sich, wenn sie erst einmal ans Licht der Leinwand-Projektion gelangt sind, in Worte fassen lässt, was sie jeweils für die Selbsterfahrung der Zuschauer*innen bedeuten. Nicht in Produkten der von Balázs lange vor McLuhan beschworenen ,Gutenberg-Galaxis‘, sondern über ein Gespräch.
Andererseits erfolgt die Einladung zu diesem Gespräch in einem Druckwerk, das wiederum Briefkommunikation fingiert, den Reisebriefen eines Artisten. Und die Artistik dieser Briefe ist eine lyrische – besonders ostentativ in der ersten Strophe.
Der glanzlose/deutliche Mond (Strophe 1)
So eine Landschaft gibt’s: Wo man den bleichen
Mond über weiten Ebenen sieht,
Der glanzlos, deutlich durch die Ferne zieht,
Die – weil sie in uns liegt – wir nie erreichen.
Als Eröffnung eines Gedichts ÜBER ASTA NIELSEN ist das reichlich kryptisch. Klar ist nur, dass hier auf eine lange lyrische Tradition angespielt wird: Der Mond steht als „völlig deutscher Gegenstand“ (Morgenstern) für Innerlichkeit. Hier nur drei Beispiele, die auch durch Vertonungen berühmt sind: In Klopstocks Sommernacht von 1766/71 ergießt sich „der Schimmer von dem Monde nun herab/In die Wälder“ und weckt „Gedanken an das Grab“ verstorbener Freunde, mit denen einst genossen wurde, wie der Mond die „schöne Natur“ noch mehr verschönte. In Goethes Gedicht An den Mond von 1778 füllt er „Busch und Tal/Still mit Nebelglanz“ und weckt ebenfalls Erinnerungen an den Verlust glücklicher Zeiten, aber auch den Wunsch, mit einem vertrauten Freund zu genießen, „Was von Menschen nicht gewußt,/Oder nicht bedacht,/Durch das Labyrinth der Brust/Wandelt in der Nacht.“ In Eichendorffs Mondnacht von 1835/37 schließlich ruft der Mond „Blütenschimmer“ hervor, beschwört die Vision eines kosmischen Kusses herauf und lässt des Sprechenden Seele „durch die fernen Lande“ fliegen, „Als flöge sie nach Haus.“
Vor diesem empfindsam-romantischen Hintergrund erscheint der Ringelnatz-Mond geradezu als Trabant der Neuen Sachlichkeit: kein Schimmer, kein Nebel, keine Verbindung mit zarten Hör- oder Geruchseindrücken. Einen „bleichen/Mond“ sollen wir uns vorstellen, „glanzlos“, aber „deutlich“ und noch in der „Ferne“ sichtbar. Angesichts des Gedicht-Titels (und auch mit Blick auf die letzte Strophe) liegt aber auch eine metaphorische Interpretation nahe: Ringelnatz‘ Mondlandschaft steht für Filmkunst und besonders für Nielsens Schauspielkunst.
Das ist deshalb buchstäblich einleuchtend, weil Filmleinwand wie Mond Projektionsflächen sind. Erinnert sei an Paul Wegeners Formulierung, „die Schärfe des Bildes, die grelle Beleuchtung, der Mangel farbiger Übergänge“ zeichneten den frühen Stummfilm aus und erforderten eine präzisere, differenziertere Schauspielkunst als die Bühne. Auch Béla Balàzs lässt sich wieder heranziehen: Er verwies auf die im Film „noch allzuwenig ausgenützte hohe poetische Möglichkeit, die Landschaft als lebendige Seele, sozusagen als handelnde Person mitspielen zu lassen. […] Landschaft ist eine Physiognomie, ein Gesicht […] der Gegend mit einem ganz bestimmten, wenn auch unfaßbaren Sinn. Ein Gesicht, das eine tiefe Gefühlsbeziehung zum Menschen zu haben scheint. Ein Gesicht, das den Menschen meint.“ „Seelenlandschaft“ also, noch dazu metaphorisch bezogen auf das menschliche Gesicht, dessen Mimik Balázs ja ebenfalls aus einer Seelenschicht kommen sieht, „die Worte niemals ans Licht fördern können.“ Das heißt jedoch nicht, dass Landschaftsgesicht oder Gesichtslandschaft im Ungefähr des romantischen Weichzeichners verschwimmen. Sie sollen detailliert lesbar sein, „glanzlos, deutlich“ – und tatsächlich betonen Nielsen-Kritiken immer wieder die Präzision ihrer Schauspielkunst („Wir sehen jeden Zug um Augen und Mund sich einzeln lösen, lockern und langsam verändern“) fern von Sentimentalität und mimischen Schablonen.
Diese deutliche Darstellungskunst kann Zuschauer*innen den Weg in die „Ferne“ unserer eigenen Seelenlandschaft weisen, die allerdings „– weil sie in uns liegt – wir nie erreichen.“ Immerhin könnten wir ihr (wie die Schlussstrophe verheißt) näherkommen durch ein Gespräch über Nielsens Kunst, nicht aber (wie Strophe 2 und 3 warnen) durch Versuche, die ,große Künstlerin‘ verehrend zu vereinnahmen. Dass Nielsen es wagte, sich Vereinnahmungen zu entziehen, kam nicht bei allen Zeitgenossen gut an. Davon spricht die vierte Strophe. Zunächst brauchen wir wieder etwas biographischen Hintergrund, um sie zu verstehen.
Der boykottierte Filmstar (Strophe 4)
Wie Nielsen in ihren Erinnerungen erzählt, war sie Ende 1925 verpflichtet worden, die Eröffnung eines Prachtkinos in Leipzig durch ihre Anwesenheit zu schmücken. Das Eröffnungsprogramm zog sich allerdings bis zwei Uhr morgens hin, bevor sie herausgerufen wurde. Als sie sich anschließend in der Garderobe abschminkte, wurde sie vom Direktor zum Treffen in eine Kneipe beordert. Ermüdet von einem langen Probetag, lehnte sie dankend ab. „Am nächsten Tag kam der Direktor zu mir und berichtete mit einer gewissen Schadenfreude, daß ein Dutzend Filmverleiher mich am Abend vorher in einer Bierkneipe am Eingang des Theaters erwartete hätten und daß sie aus Wut über mein Ausbleiben beschlossen hatten, meine Filme in Zukunft zu boykottieren.“ Nielsen nahm das zunächst nicht weiter ernst. „Aber so unglaublich es auch klingen mag: Von da an setzte ein Kampf gegen mich ein, den ich nicht für möglich halten würde, hätte ich ihn nicht selber erlebt. Keine Firma wagte mehr, mich zu engagieren, weil die Verleiher in solchem Fall entweder die Finanzierung des Films ablehnten oder sich weigerten, ihn in Verleih zu nehmen.“ Das ist der Hintergrund der vierten Strophe:
Man verwundete und scheuchte sie,
Böse oder dummbelehrt gezielt.
Töten konnte man sie nie.
Weil sie einfach Mensch ist, und weil sie
Es auch bleibt, wenn sie Theater spielt.
Der letzte Vers ist ganz wörtlich zu verstehen: Nielsen, schon längst mit Bühnen-Pantomimen erfolgreich, wagte den Sprung auf die deutsche Sprechbühne und feierte in mehreren Tourneen Triumphe – bis sie nach drei Jahren wieder ehrenvolle Filmangebote erhielt. Die Entstehung des Gedichts fällt noch in die Phase ihrer Verbannung von der Leinwand, die Strophe ist eine engagierte Stellungnahme des Freundes. Man mag diese Verse etwas kitschig finden, nicht ganz unähnlich denen von „Gertrud Klische, Schöneberg , Eberstraße 1“, die Andrea Haller in einer Ausgabe der Illustrierten Filmwoche von 1918 fand:
Freilich wirkt sie nicht immer schön,
Doch kann in ihrem Spiel man seh’n
Den Menschen, wie er weint und lacht,
Wenn ihn das Leben zum Spielball macht.
Sie hat sein innerstes Wesen erkannt,
Ihr scheint nichts fremd auf dem Erdenland.
Aber eine gewisse treuherzig-kindliche Direktheit ist bei aller Spottlust und Artistik eben auch ein wichtiger Zug von Ringelnatz‘ Lyrik – und Persönlichkeit. Immerhin war er mit der Ansicht, dass Nielsen „einfach Mensch“ sei, in bester Gesellschaft – und sie schätzte ihn für eine Verehrung, die gerade nicht vereinnahmend war, sondern spielerisch und warmherzig zugleich. Das bezeugt ja schon ihr Tagebuch-Eintrag über die erste Begegnung. Als weiteren Beleg möchte ich zu guter Letzt ein Ringelnatz-Gedicht zitieren, das zwei Jahre nach dem hier besprochenen entstand. Es spricht die Freundin direkt an und bedarf keines weiteren Kommentars – ich möchte lediglich vorschlagen, das hier entworfene spielerisch-schwärmerische Ritual mit dem plumpen Gold-Angebot des unverständigen Verehrers zu vergleichen.
ASTA NIELSEN WEIHT EINEN POKAL
(München, März 1929)
Du irrst, Asta, wenn Du denkst:
Dieser Pokal sollte Dein sein.
Du sollst ihn nur einweihn,
Daß Du ihn mir schenkst.
Der ich gestern wieder einmal
Vor Deiner Kunst glühte,
Trinke nun künftig aus diesem Pokal
Deinen Kuß und Deine Güte.
Denn das Herz ist durstiger als Kehle.
Glas zerbricht einmal. Menschenfleisch stirbt.
Deine große Barfußmädchenseele,
Asta, ewig lebt sie, webt und wirbt.
Literatur
Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch, oder die Kultur des Films [1924]. In: Schriften zum Film. Hg. von Helmut H. Diederichs, Wolfgang Gersch und Magda Nagy. München/Berlin 1982, 45-143.
Beuys, Barbara: Asta Nielsen. Filmgenie und Neue Frau. Berlin 2020.
Eichendorff, Joseph von: Mondnacht. In: Ders: Sämmtliche [sic] Werke. Bd. 1. Biographische Einleitungen und Gedichte. Leipzig 21864, 604. https://de.wikisource.org/wiki/Mondnacht.
Goethe, Johann Wolfang von: Schriften. Bd. 8. Leipzig 1789, 153-54. https://de.wikisource.org/wiki/An_den_Mond
Haller, Andrea: „Nur meine Asta! Und damit basta!“ Ein Blick in die Frauen- und Fanzeitschriften der 1910er Jahre. In: Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino. Hg. von Heide Schlüpfmann u.a. Wien 22010, 325-336.
Klopstock, Friedrich Gottlieb: Die Sommernacht. In: Oden. Hamburg, 1771, S. 161. Zit nach: Deutsches Textarchiv https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771/169.
https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/klopstock_oden_1771?p=169
Koebner, Thomas. Leibesvisitationen. Schauspielkunst im Stummfilm: Asta Nielsen. Ein Versuch. In: TheaterAvantgarde [sic]. Wahrnehmung – Körper Sprache. Hg. von Erika Fischer-Lichte. Tübingen/Basel 1995, 89-122.
Morgenstern, Christian: Der Mond. In: Alle Galgenlieder. Berlin 1932, 61. https://de.wikisource.org/wiki/Der_Mond_(Morgenstern).
Nachtfalter. Asta Nielsen, ihre Filme. Hg. von Karola Gramann und Heide Schlüppmann. Wien 22015.
Nielsen, Asta: Die schweigende Muse [1946]. Aus dem Dänischen von G. Georg Kemlein. Rostock 1961.
Ringelnatz, Joachim: Über Asta Nielsen. In: Ders.: Reisebriefe eines Artisten. Berlin 1928 [EA 1927], 38-39. https://de.wikisource.org/wiki/%C3%9Cber_Asta_Nielsen.
Ringelnatz, Joachim: Asta Nielsen weiht einen Pokal. (München, März 1929).In: Ders.: Flugzeuggedanken. Berlin 1929, 113. https://de.wikisource.org/wiki/Asta_Nielsen_weiht_einen_Pokal.
Wegener, Paul: Die künstlerischen Möglichkeiten des Films [1916]. In: Aller Anfang ist schwer… Schauspieler über ihre ersten Filme. Hg. von Renate Seydel. Berlin 1988, 13-21.