Kommunikationsprobleme

Eva Raisigs Debüt-Roman „Seltene Erde“ ist anspielungsreich und lässt manche Frage offen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zentrum von Eva Raisigs originellem Roman-Debüt Seltene Erde stehen drei weibliche Entitäten; zwei Frauen und eine Raumsonde. Bei ersteren handelt es sich um Lenka und um die eigentliche Protagonistin Therese, aus deren Sicht einer der beiden Handlungsstränge erzählt ist. Vorwiegend zumindest.

Therese ist eine eher antriebs-, ziel- und orientierungslose junge Frau von 23 Jahren aus offenbar gut situiertem Elternhaus, die „nicht weiß, wohin mit sich“, und es sich leisten kann, ein Studium nach dem anderen abzubrechen. Ihre ebenso verständnislosen wie liberal-besorgten, letztlich aber doch konservativen Eltern sehen das zwar nicht gern, lassen sie aber gewähren. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Immerhin ist ihre Tochter seit einigen Jahren volljährig. So offen wie Thereses Zukunft ist auch ihre sexuelle Orientierung. Ihr Begehren gilt „[o]ft Frauen, manchmal Männer, manchmal weder noch“.

Zu Beginn der Handlung (nicht aber der des Romans) lernt sie auf der russischen Seite des Finnischen Meerbusens die doppelt so alte und – zumindest was das Überleben der Menschheit in den „nächsten Jahrtausenden“ betrifft – grundpessimistische Astrophysikerin Lenka kennen, die „sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem letzten Faktor einer Gleichung beschäftigt, mit der sich die Zahl intelligenter Zivilisationen in der Galaxis abschätzen lassen soll“. Denn sie interessiert sich sehr für die Chancen einer Kontaktaufnahme mit Außerirdischen. Erst kürzlich bekam sie aus einer allerdings recht unsicher erscheinenden Quelle versichert, in einem argentinischen Dorf sei es durchaus möglich, Aliens zu sichten. Ja, es sei dort nicht einmal etwas Besonderes. Natürlich zögert sie keine Sekunde, sich auf den Weg zu machen.

Kurzentschlossen begleitet Therese ihre neue Bekannte auf den südamerikanischen Kontinent. Am Reiseziel, einem unscheinbaren Örtchen am Fuße des fiktionalen Berges Azarcumbre, angekommen, lernen sie einen ambivalenten jungen Mann namens Fabián kennen, der wie selbstverständlich von zahlreichen UFO-Beobachtungen spricht, und den beiden Frauen nicht nur den Beweis erbringen will, dass Aliens die Erde schon vor langer Zeit besuchten, sondern ihnen auch in Aussicht stellt, mit Hilfe seiner Großmutter eine Sichtung von Außerirdischen zu ermöglichen.

So versuchen Therese und Lenka auf allerlei Wegen einen Kontakt mit extraterrestrischen Wesen herzustellen oder doch wenigstens einmal ein UFO zu sehen. Hierzu lassen sie sich sogar auf die „spirituelle Scheiße“ eines Drogentrips ein. Doch wird ihre Hoffnung ein ums andere Mal ent- wenn nicht gar getäuscht. Denn Fabián und seine Großmutter könnten sich am Ende als ebenso wenig wahrhaftig herausstellen wie es die scheppernden Werbesprüche der durch den Ort tuckernden Lautsprecherwagen sind.

All dies wird überwiegend aus der Perspektive Thereses erzählt, gelegentlich aber auch aus derjenigen Lenkas und einmal sogar kurz „[a]us Fabiáns Sicht“. Dabei erweist sich die Erzählinstanz dieses nicht chronologisch erzählten und von Rückblenden in das freudlose Leben von Thereses suizidaler Großtante durchsetzten Handlungsstrangs nicht immer als ganz zuverlässig. Das mag auch daran liegen, dass sie selbst nicht wirklich weiß, was Sache ist.

Dafür aber ist ihr ein einnehmender Ton eigen, der sich gelegentlich ausnimmt, als führe sie eine Unterhaltung mit den Lesenden oder ein Selbstgespräch. Zum Lesevergnügen trägt auch ein trockener, oft ironisierender Humor bei, der den Text gemeinsam mit der pessimistischen Grundhaltung einer Realistin wie ein Basso continuo begleitet. Köstlich ist etwa, wie Lenka mit der ernsthaften Erörterung der Möglichkeit einer kommunikativen Interaktion zwischen verschiedenen intelligenten Spezies das „Abschiedsgrillen“ einer stark ironisierten Gruppe von Backpackern aufmischt.

Überhaupt ist die Astrophysikerin die interessanteste Figur des Romans. Gelegentlich gleiten ihre oft ebenso spekulativen wie theoretischen Überlegungen ins nur scheinbar Skurrile ab. „Warum“, ruft sie einmal voller Empörung aus, „haben auch ausgerechnet wir ein Universum mit Zeit abbekommen!“. Ihr Interesse an Astrophysik und Erstkontakten scheint durch ihre – natürlich unglückliche und unerfüllte – erste Liebe zu einem älteren Herren mit angegrauten Schläfen geweckt worden zu sein, was bedauerlicherweise etwas klischeehaft wirkt, was aber vielleicht ebenso beabsichtigt ist wie die zahlreichen Wiederholungen mancher Kernsprüche.

So wird etwa die gerne als Weisheit auftretende Banalität, dass „Ambivalenzen aus[zu]halten“ seien, geradezu strategisch eingesetzt. Und dass immer wieder einmal die „blassblaue“ Färbung verschiedener Dinge und Phänomen erwähnt wird, ist ebenfalls kein Zufall. Was es damit auf sich hat, ist allerdings erst am Ende des Buches zu erfahren.

Ausgesprochen originell und gelungen sind die zahlreich eingestreuten Metaphern und Bilder, zu denen natürlich stets an einem passenden Ort gegriffen wird, was dazu führen kann, dass sich „die Zukunft so trüb und abgestanden vor einem aus[breitet] wie Wasser im Einfuhrbereiche eines Hafenbeckens“. Schön ist auch die Wendung, es gäbe es „keinen Grund, nach einem Grund zu suchen“. Manchmal gelingen der Autorin gar einzelne Sätze, die für sich schon die Lektüre eines ganzen Buches lohnen: „Wer von der Hoffnung lebt, stirbt an Verzweiflung.“

Auch der Raumsonde Voyager I, ihres Zeichens Protagonistin und Ich-Erzählerin des zweiten Handlungsstranges, eignet ein ganz spezieller Erzählstil. Die 1977 auf die Reise in den interstellaren Raum geschickte Botschafterin gefällt sich etwa darin, berühmte Zitate aus Literatur, Philosophie und Wissenschaft entsprechend ihrer jeweiligen Lage und Situation aufzugreifen und falls angebracht umzuwandeln. So verlangt sie etwa „mehr Licht“, macht sich Kants Rede vom „ewigen Frieden“ ebenso zu eigen wie Schopenhauers an Leibniz gerichtete Replik von „der schlechteste[n] aller Welten“ oder metaphorisiert den Suizid als „Weg ins Freie“. Dann wieder verkehrt die einsam durchs All gleitende Sonde Friedrich Rückerts Ausspruch „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ zur Klage „Die Welt kam mir abhanden“ und wandelt eine berühmte Stelle aus Schillers Wilhelm Tell zu der Einsicht ab: „Es kann die Frömmste nicht in Frieden schweben, wenn’s keinen Nachbarn gibt, dem es missfällt“. Denn die Sonde ist auf ihrer ereignislosen Reise durch die leeren Weiten des Alls ganz auf sich selbst und ihre Reflexionen zurückgeworfen.

Ebenso wie die sich und ihre Sprache immer mehr verwirrende und verlierende Sonde spielt auch Lenka gerne einmal auf Historisches aus der Wissenschaftsgeschichte an. In ihrem Fall natürlich auf eine Anekdote aus dem Leben zweier Koryphäen der Theoretischen Physik, der zufolge Niels Bohr Alfred Einstein gegenüber versichert habe, natürlich glaube er nicht daran, das Hufeisen Glück bringen. Dass dennoch eines über seiner Tür hängt, begründete er damit, er habe gehört, es hülfe auch, wenn man nicht daran glaubt.

Überhaupt sind beide Handlungs- oder besser Erzählstränge auf vielfältige Weise miteinander verschlungen und verschränkt. Das reicht von Überlegungen, was aus der menschlichen Historie überliefernswert und -möglich ist, über die jeweilige Suche nach extraterrestrischen Wesen und die damit verbunden Hoffnungen auf Kontaktaufnahme bis hin zu den Parallelen zwischen den goldenen Datenplatten, die der einsamen Sonde mit auf ihren Weg in die Unendlichkeit geben wurden, und der „Zeitkapsel“, die Lenka einst als Kind im elterlichen Garten vergraben hat.

So hat Eva Raisig ein vielfach durchkomponiertes Debüt vorgelegt, das die Tragödie des Daseins erträglich macht, indem sie sie als Komödie auf die Bühne stellt. Offen aber bleibt die Frage, wie die Kommunikation mit Aliens gelingen soll, wenn nicht einmal die zwischen zwei Freundinnen möglich scheint.

Titelbild

Eva Raisig: Seltene Erde. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
350 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783751800624

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