Poesie und Bombenkrieg

Zum ersten Todestag der großen Dichterin Friederike Mayröcker

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Die unvergessene österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker starb vor einem Jahr am 4. Juni 2021, in ihrem siebenundneunzigsten Lebensjahr. Sie hat ein umfangreiches Werk hinterlassen: Prosatexte, Hörspiele, Kinderbücher, Vorlagen für Theaterszenen, Essays und natürlich Lyrik, vor allem Lyrik. Darin hat sie die wichtigen Themen ihres langen Lebens in einer einzigartigen hochpoetischen Sprache verarbeitet: ihre Liebe zu Ernst Jandl, Erinnerungen an die Kindheit, ihre Liebe zur Sprache und -–zunehmend in den letzten 25 Jahren – Gebrechlichkeit im Alter und Tod.

Es gibt nur wenig „politische“ Texte in ihrem Werk. Das folgende Gedicht ist, schon weil die Überschrift provokant hervorsticht, eine Ausnahme.

Bomben auf Bagdad

Maszliebchens Ponyhaar und daffodils
Reisepflanze, Salz in der Nähe von
ceiling (Plafond), der Spritzwagen Ende
März weil schon Wärmewellen wie Sommer, ich
habe dich wiedergesehen im mannigfaltigen Reich deiner
Augenflügel, dein weiszes Hemd weil wir ausgehen, du hast
dich ins Feinste gekleidet und duftend, auf 1 blutigen
Ast meine tolle Sprache und überlege : wie
händle ich diese Tolle (Locke) : tolle
lockende Sprache, auf 1 blutigen
Ast : es musz der Wahnsinn hinein in diese Sprache
musz noch der Wahnsinn hinein. Dieser Tage
1 Schreiben von einem mir Unbekannten der mich duzte und vorgab
er schreibe mir weil er gehört hatte ich sei noch am Leben, etc., im
giardino, dampfendes Rot oder Lila, Anita Pichler nämlich sie
hat ihrem Hund Aspirin verabreicht, 1 biszchen, im
Fenster ich glaube die Bäume : 1 Weisz in den Bäumen, so fern
von dir, auf meinem Tisch Vogelfeder in Tintenfasz (ganz
verlogen?), und überhaupt diese Triton Geschichten, schön
ich halte inne du bist bei mir ich werde dich nicht
mehr lassen, das ist ein freches Bassin wie wir zeitweise
umgingen mit einander. Der Mandolinen Abend am Meer, melancholisch
am Meer gelegen (Fado), dieser Spleen o sole mio, diese
Gier nach dem Schreiben eines Gedichts, wäre immer gerne
dein geniales Hündchen gewesen, Rüschen von Staub, T. S. Eliots
WASTE LAND, die Paradieses Sprache wiedergefunden, die
Flammenbäume blühen auch hier, „und Manfred kam dazu, schaute
uns über die Schulter und sagte : wieder das Huschen..“

Der Titel Bomben auf Bagdad fällt auf. Er bezieht sich ganz direkt auf ein Kriegsgeschehen, das zu Beginn dieses Jahrhunderts die Welt wochen- und monatelang in Atem gehalten hat.

Der Krieg im Irak begann am 20. März 2003 mit der Bombardierung ausgewählter Ziele in Bagdad und führte schließlich zur Eroberung der Hauptstadt und zum Sturz des irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein. Bereits Anfang Mai desselben Jahres erklärte US-Präsident Bush den Krieg für siegreich beendet. Das Gedicht wurde am 29.03.2003, also nur wenige Tage nach Beginn der Bombardierung der irakischen Hauptstadt, geschrieben.

Die verstörende Überraschung des Lesers folgt bereits in den ersten Zeilen. Das Gedicht greift darin die Überschrift nicht nur in keinem Wort auf, sondern verlagert den Blick weg vom Kriegsgeschehen auf Blumennamen: vielleicht auf ein bunt ausgemaltes Deckengemälde, eine Frühlingsidylle, eine Vorahnung auf den Sommer. Die Bilder gehen unvermittelt in Erinnerung an ein Du über: „weil wir ausgehen“. Die Erinnerung ist so stark, dass die imaginierte Vergangenheit wie selbstverständlich zur Gegenwart wird. Und noch einmal ändert sich der Blick der Schreiberin abrupt. Er ist jetzt ganz auf die Sprache gerichtet. Der Wechsel geschieht über das Wort „Tolle“, das einmal „seine“ Haarlocke meint, das andere Mal die „tolle lockende Sprache“. Über Wörter, die lautlich identisch, inhaltlich aber verschieden sind, werden Verbindungslinien von einem Aspekt des Gedichts zu einem anderen hergestellt. Die Sprache bestimmt den Fortgang innerhalb des Textes. Solche Linien, die sich über Assoziationen wie von selbst ergeben, verdichten Mayröckers Sprache und schaffen in ihrer Lyrik magische Momente.

Geheimnisvoll klingt der Satz „auf 1 blutigen / Ast meine tolle Sprache“. In dem Wort „blutig“ wird indirekt auf das Geschehen in Bagdad verwiesen. „Blutig“ hat innerhalb von Mayröckers Werk noch eine weitere Bedeutung. Es meint auch die Überwältigung des Ich beim Schreiben durch die dichterische Inspiration. In dem Buch Und ich schüttelte einen Liebling (2005) wird das an zahlreichen Stellen deutlich, z. B. wenn sie schreibt: „Ich brenne lichterloh“ oder an Stellen wie der folgenden, die das Wort „blutig“ benutzt, um den Schreibzustand, in dem die Dichterin im wahren Sinn des Wortes außer sich ist, darzustellen:

und ich sinke nieder und es schnürt mir den Hals und ich wischte mir das Blut aus den Haaren, und immer wieder diese meine geriatrische Sicht der Dinge

Das Wort „Ast“ steht in ihrer Sammlung lyrischer Prosastücke études (2013), dort oft als „Ästchen“, für besondere, wie Äste aus einem Stamm herausragende Wörter, die sich dem Leser entgegenstrecken, auch für Verse: „diese wie Ästchen im Wind zitternden Verse“. Das Wort meint etwas Leichtes, Luftiges, Biegsames, aber gerade deswegen auch Widerstandsfähiges und Beständiges. Wenn Sprache mit dem Bild eines Astes oder Ästchens verbunden wird, dann werden das Grazile, Poetische und Schöne in den Blick gerückt. Damit ist die Dichterin Mayröcker noch nicht zufrieden: „es musz der Wahnsinn hinein in diese Sprache / musz noch der Wahnsinn hinein“.

Der Ausdruck „Wahnsinn“ ist nicht ungewöhnlich für sie, wenn sie über ihr Dichten schreibt. So redet sie in dem Buch brütt oder Die seufzenden Gärten (1998) vom „Irrwitz (Irrwisch) des Schreibens“, und in Und ich schüttelte einen Liebling benutzt sie die Wörter „Schreib Raserei“ und „Schreib Hysterie“, um den ekstatischen Zustand, der Poesie möglich macht, in ein Bild zu fassen. In brütt geht sie ausführlich auf diesen Zustand des „Wahnsinns“ ein:

ich meine : hin- und hergerüttelt müsse werden die Sprache : 1 mal HÜ 1 mal HOTT, die wohlgestalten Sätze neben den zerbrochenen Sätzen, die Geborstenheit neben der Makellosigkeit der Sprache, das Verworfene neben dem Redlichen, […]

Nur mit einer Sprache, die alles Konventionelle ablegt und sich auf das Verstörende, das Unbekannte, Ungewohnte und Fremde einlässt, kann die sprachliche Wirkung erzielt werden, die der Dichterin vorschwebt, nämlich den „abgebrühtesten Kerl zum Heulen zu bringen“, den Leser, sogar den, der sich sträubt, im Innern zu treffen und zu berühren.

Das Gedicht Bomben auf Bagdad bewegt sich – „huscht“, wie das letzte Wort des Textes andeutet, – von Zeile zu Zeile wie in Gedankensprüngen, wie von spontanen Einfällen getragen, und doch ist alles sorgfältig überlegt und komponiert. Der Satz „weil er gehört hatte ich sei noch am Leben“ und der Name der Südtiroler Literatin Anita Pichler, die wegen einer schweren Krebskrankheit 1997 im Alter von neunundvierzig Jahren starb, lassen sich – indirekt – auf den Titel des Textes beziehen. Um den Tod, den die Bomben den Menschen in Bagdad bringen, geht es auch in den Versen des Textes, einmal als Möglichkeit, das andere Mal als Tatsache.

Direkter als über diese Assoziationen wird das Elend von bombardierten Menschen in der Anspielung auf T. S. Eliots berühmten Gedichtzyklus The Waste Land angesprochen. Mayröcker hebt die Bedeutung dieses Werks durch Großbuchstaben hervor. Es ist ein Hinweis für den Leser, die Anspielung des Titels zu beachten. – T. S. Eliot schrieb sein Gedicht 1922 in einer persönlichen Krise. Es ist ein Langgedicht in fünf Teilen und schildert in einer Flut krasser Bilder Verwüstungen der Landschaft und der Seele des Menschen. Es gilt als eines der einflussreichen literarischen Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Viele Zeilen des Textes von Eliot könnten zitiert werden, um zu zeigen, was Bomben mit Menschen, mit Lebewesen überhaupt, auch mit der Liebe zweier Menschen und mit der Landschaft, die durch Krieg heimgesucht wird, anrichten. Wie genau Mayröcker ihren Text gestaltet, lässt sich an einer Kleinigkeit ablesen. Unmittelbar vor dem T. S. Eliot-Titel steht der Ausdruck „Rüschen von Staub“. „Staub“ ist das Bild schlechthin für ein totes, verwüstetes Land. Vielleicht greift dieses Wort direkt eine Zeile aus Eliots Text wie „ich will dir Furcht zeigen in einer Handvoll Staub“ auf. Jedenfalls öffnet sich mit Eliots Großgedicht ein Anspielungsraum, der Lebensfeindlichkeit, Tod und Verwüstung in den Blick des Lesers rückt.

Interessant ist, dass unmittelbar hinter „WASTE LAND“ im Gedicht zwei Metaphern auftauchen, die auf den ersten Blick nicht an diese Stelle zu passen scheinen: „Paradieses Sprache“ und „blühende Flammenbäume“. Aber die Vorsilbe „wieder“ in „wiedergefunden“ und das Wörtchen „auch“ verweisen darauf, dass es sich jetzt um die inspirierte Sprache handelt, die die Autorin sucht und braucht, um über die verschiedenen Aspekte des Textes „richtig“ zu schreiben. Im Angesicht von verwüsteten Ländern und in Gedanken an Kriegsgeschehen, so könnte man diese Zeile verstehen, darf die dichterische Sprache nicht versagen: „Flammenbäume blühen auch hier“.

Friederike Mayröcker geht in ihrem Buch Und ich schüttelte einen Liebling mit einer aufschlussreichen Bemerkung auf das Gedicht Bomben auf Bagdad ein:

Bruno Kartheuser, Herausgeber der belgischen Zeitschrift ‚Krautgarten‘, fragt mich in einem Brief welcher Bezug zwischen meinem Gedicht und seinem Titel ‚Bomben auf Bagdad‘, welches er abdrucken möchte, bestehe, seien Sie nachsichtig, schreibt er, und nehmen Sie mir die Frage nicht übel, worauf ich antworte, es geht um die harten Fakten der Historie im Gegensatz zur rotierenden Phantasie –

Den „harten Fakten der Historie“ stellt sie die „rotierende Phantasie“ gegenüber. In der Tat lässt sich über eine Tatsache wie die Bombardierung der irakischen Stadt Bagdad durch amerikanische Bomberflugzeuge nur sagen: Die Bombardierung ist für die unmittelbar betroffenen Menschen und das irakische Volk insgesamt eine fürchterliche Tragödie. Der mechanische Handgriff, der die Bomben auslöst, besiegelt das Schicksal von Hunderten und Tausenden. Nichts ist von dem Augenblick an veränderbar, niemand kann eingreifen. Es ist ein unumstößliches, unwiderrufliches, nicht korrigierbares Ereignis. Vielleicht meint Mayröcker diese schreckliche Zielgerichtetheit eines Geschehens mit dem Begriff „harte Fakten“. Solche Fakten gehören in ein Geschichtsbuch oder eine Reportage.

Poesie hat in ihrem dichterischen Verständnis mit einer solchen „zementierten“ Wirklichkeit wenig zu tun. Dichtung ist das Gegenteil von etwas Endgültigem. Sie zeigt das Schlimme und das Gute der Realität, zeigt diese aber niemals als einen nicht veränderbaren „Fakt“. Die Wirklichkeit in einem dichterischen Text ist vieldimensional, mehrdeutig und deshalb so beschaffen, dass Menschen eingreifen und die Tatsachen mitbestimmen und verändern können. Alle großen Kunstwerke sprechen viele Menschen an und sind in vielerlei Hinsicht interpretierbar. Sie respektieren die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Rezipienten und sind gerade deshalb menschlich. Krieg ist das Gegenteil: Er ist immer total inhuman.

Mayröcker stellt das in ihrem Gedicht dar. Der Tod ist darin auf verschiedenen Ebenen präsent. Für sie ist er am gegenwärtigsten in dem Du, von dem und zu dem sie immer wieder spricht. Der Leser darf hinter dem Du den geliebten Freund von einst vermuten. Er wird über die Erinnerung an die gemeinsame Zeit lebendig. Es sind verschiedene Erinnerungen, angenehme an Urlaube in südeuropäischen Landschaften, auch solche an kleinere Konflikte im Zusammenleben zu Hause. Die Liebe aber ist nie wirklich verschwunden und kann nicht vergehen. Sie gipfelt in dem Satz: „ich halte inne du bist bei mir ich werde dich nicht / mehr lassen“. Das Gedicht zeigt, wie über die Erinnerung die Einsamkeit überwunden und die frühere Nähe zwischen Ich-Schreiberin und dem Geliebten „poetische Wirklichkeit“ wird. Der Tod wird durch die Poesie aus der Gegenwart verdrängt. Die „rotierende Phantasie“ ist übermächtig und kann die Gegenwart verändern, auch zum Positiven. – Bomben auf eine Stadt wie Bagdad sind dagegen ausschließlich destruktiv.

Das Gedicht Bomben auf Bagdad ist ein Antikriegsgedicht, auch weil es ein Text über die Sprache und die Liebe ist. Es stellt die Größe und Menschlichkeit von Poesie der Vernichtung durch Krieg gegenüber.

In diesen Wochen des Frühjahrs 2022 ist das Gedicht von erschreckender Aktualität.