Fürsorge für einen Schmarotzer

Michael Krüger erzählt in „Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“ von der schicksalhaften Begegnung zweier Männer

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erzählung beginnt vor der im Titel genannten Rückkehr, nämlich auf dem Flughafen Paris-Orly. Da bekommen wir es mit dem Ich-Erzähler zu tun, dem unsere Sympathie nicht entgegenfliegt. Er äußert sich abfällig über den Mitarbeiter einer Verwandten und über die lächerlichen Anzüge mitteleuropäischer Fluggäste. Mit sich selbst ist er auch nicht im Reinen, kommt sich fremd und überflüssig vor. Seine Einsicht, dass wir immer weniger wissen, je mehr wir lernen, ist der erste Satz, den man gern zustimmt. Jedenfalls lieber als der Vermutung, die letzte Frage, die sich die Menschheit vor ihrem Ende stelle, könne die nach dem Wetter von morgen sein.

Mitten in seine zumeist düsteren Gedanken hinein drängt sich ein alter Mann auf dem Platz neben ihm. Und als der Erzähler aufsteht und sich wieder hinsetzt, erfahren wir von seinen Schmerzen und von den Symptomen und Befunden eines Schwerkranken. Der Alte, vom Aussehen her mal an Orson Welles, mal an einen verfetteten Marlon Brando erinnernd, heftet sich wie ein Schatten an den kranken Erzähler.

Einen Flug nach München gibt es erst wieder am nächsten Tag, und die beiden Männer landen im gleichen Hotel. Der Alte wirkt ärmlich und verströmt doch eine Aura von Luxus, so dass der Erzähler verloren gegangenen Reichtum vermutet. Im Hotel wird der Erzähler, der sich Bleistift und Papier für seine Träume auf den Nachttisch legt, von einer Verrückten angerufen, die in ihren eigenen Theaterstücken auftreten möchte – nur spielt die niemand. Der Erzähler weiß um sein Schwanken zwischen Distanz und Empathie. An seinem Grab soll es einmal heißen, er habe immer einen guten Rat oder einen Taler übrig gehabt.

Seine Widersprüchlichkeit zeigt sich am nächsten Morgen, als der Alte seine Hilfe braucht, weil seine Kofferrollen defekt sind. Einerseits findet er Gott falsch beraten, dass er Menschen wie dem Alten die Gabe der Sprache verliehen hat, andererseits bezahlt er anstandslos dessen Rechnung für die Minibar. Im Taxi in München fährt der Alte mit zum Erzähler nach Hause, um sich telefonisch Geld zu beschaffen. In einem ellenlangen Telefonat deutet er mit ‚name-dropping‘ eine Bekanntschaft mit Frankreichs ehemaligem Präsidenten Mitterrand an. Der Erzähler hat das Gefühl, sich den Tod ins Haus geholt zu haben, und denkt an Mord. Aber wie bringt man den Tod um?

Jetzt erfährt man den ehemaligen Beruf des Erzählers: Teilhaber und zuletzt alleiniger Gesellschafter einer Künstleragentur, die mit der Vermittlung von Schauspielern für banale Fernsehkrimis viel Geld verdient hat. Dort war er für die Finanzen und die Verträge zuständig.

Er führt den Alten, der wohl weder Geld noch Familie hat, in ein Wirtshaus, wo der mit seinem Temperament die Tischrunde unterhält. Der Erzähler will ihn bei einer Frau Huber unterbringen, der erst der Mann und dann die Hunde weggelaufen sind. Der Alte will aber das Zimmer beim Erzähler nicht aufgeben, der immer häufiger Wörter „verliert“, die sich weigern, ihm über die Zunge zu kommen, sodass ihn die Angst vor dem Gespenst der Demenz befällt. Er behauptet, in Schweizer Berghöhlen seien wertvolle Bilder gelagert, mit denen er ein Museum aufbauen wolle, und erzeugt beim Erzähler eine aus Misstrauen und Behagen gemischte Atmosphäre.

Andere Leute halten ihn für gebildet und charmant. Ein Arzt aber stellt eine manisch-depressive Verstimmung fest und empfiehlt die Aufnahme in eine Nervenheilanstalt. Der Alte will den großen Film über Deutschland drehen, in dem sich sieben Leipziger nach 50 Jahren bei einem Klassentreffen wiedersehen. Er besitzt Überzeugungskraft genug, zwei Bahnsteige stundenlang sperren zu lassen, angeblich um die Ankunft der Hauptdarsteller zu filmen. Doch sein Projekt wird niemand je umsetzen.

Sein Leben geht zu Ende, als er aus einem Hochhaus stürzt – oder gestürzt wird. Zu seinem Begräbnis kommen auch Leute, denen er Geld schuldete. Der Erzähler bezahlt den Leichenschmaus, hält aber keine Trauerrede. Wie er findet, hat er einem Schmarotzer geholfen, der ohne seine bedingungslose Fürsorge verbittert aus dem Leben geschieden wäre, so aber bis zum Schluss von einem großen Projekt träumen durfte.

In exquisiter Sprache, voller Ironie und Sarkasmus, wird die Geschichte eines Duells zweier Männer erzählt, von denen einer von kühler Distanz zu anrührender Mitmenschlichkeit findet. Auf die prallen Nebenhandlungen und teils skurrilen Randpersonen kann hier nicht eingegangen werden. Man darf annehmen, dass sich Erfahrungen des preisgekrönten Autors als Lektor, Verlagsleiter, Herausgeber und Übersetzer in der Geschichte des Mannes widerspiegeln, der es nicht übers Herz bringt, einen Roman zu Ende zu schreiben. Das fände er hirnverbrannt, weil ihn das Erzählen über die Nichtvollendung ein Leben lang am Leben halten kann.

Wer um die schwere Krankheit des Autors weiß, wird die literarische Meisterschaft bewundern, mit der er schildert, wie ein ebenfalls Kranker einem Älteren hilft und dabei immer weniger nach den eigenen Gebrechen oder danach fragt, ob der Andere diese Fürsorge „verdient“ hat.

Titelbild

Michael Krüger: Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah. Eine Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
220 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518472309

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