Wie lässt es sich in Deutschland leben?

Der Gesellschaftsroman „Dschinns“ von Fatma Aydemir

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren erscheinen auf dem deutschen Buchmarkt Romane, die die deutsche Nachkriegsgeschichte aus der Sicht der Minderheiten erzählen. Durch die angenommene Erzählperspektive können neue Konfliktfelder aufgedeckt werden und Fragen diskutiert werden: Was mit migrantischen Familien und ihren Nachkommen in einem fremden Land geschieht, wie sie mit ihrer Umwelt interagieren. Zu dieser Art von Literatur gehören Veröffentlichungen wie Vater und ich von Dilek Güngör (2021), Streulicht von Deniz Ohde (2020), Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron von Yade Yasemin Önder (2022) und Dschinns von Fatma Aydemir (2022).

Dieser literarische Fokus zeigt sich in Frankreich und England schon länger, beispielsweise an Romanen Rückkehr nach Reims (2016) von Didier Eribon oder Anthony Powells Ein Tanz zur Musik der Zeit / Eine Frage der Erziehung (2017). In diesen Texten werden Diskurse zu Gesellschaft, sozialer Diskriminierung und Gleichbehandlung, Armut und Prekariat, Zugehörigkeit zu sozialen Schichten und nicht zuletzt auch Gewalt angesprochen. Dass Diskriminierung, Scham und Gewalt nicht nur Familien mit Migrationshintergrund betreffen, zeigt Christian Baron 2020 mit seinem Roman Ein Mann seiner Klasse. Baron schildert eindringlich, was es für Kinder bedeutet, in Armut in einem reichen Land aufzuwachsen und zu leben und wie schwierig es ist, aus den sozialen Verhältnissen auszubrechen, Bildung zu erlangen und ein Selbstbewusstsein zu gewinnen. Auf der Anklagebank sitzen aber nicht nur seine Eltern, der ständig alkoholisierte Vater, die ratlose, depressive Mutter, sondern auch der Staat, dessen soziale Institutionen bei ihren Hauptaufgaben versagen.

In Fatmas Aydemirs Band Dschinns von 2022 werden die Lebensgeschichten von sechs Familienmitgliedern erzählt. Der Plot ist schnell zusammengefasst: Die Kinder und die Ehefrau fahren nach Istanbul zur Beerdigung von Hüseyin, der unerwartet an Herzinfarkt stirbt. Die Familie trifft sich in der Türkei, zwei Kinder kommen zu spät, der Vater ist bereits beerdigt, da der Leichnam nicht länger als einen Tag auf die Bestattung warten darf. Die Familie ist zerstritten, innerlich und äußerlich sich selbst entfremdet. Die jeweiligen Familienmitglieder bergen viele Geheimnisse und Verletzungen. Die Personen dürfen selbst das Wort ergreifen, bzw. es wird ihnen eine innere Stimme an die Seite gestellt, die über ihre inneren Regungen, schmerzhaften Erinnerungen und Gedanken berichtet.

Es handelt sich dabei um zwei Figuren, Hüseyin und Emine. Beide haben sich so viele Jahre verstellt, ihre Gedanken vor sich selbst und den anderen versteckt, dass es ihnen nicht mehr zu gelingen scheint, ehrlich mit sich selbst zu sein. Diese Aufgabe übernimmt die Stimme, die alles über die Personen weiß und einfühlsam auf sie einredet. Die Stimme, die zu Emine spricht, charakterisiert sich selbst: „Ich bin die Kluft zwischen deinem Glauben und deinem Handeln. Ich bin der Widerspruch zwischen dem Bild, das du von dir selbst hast, und dem Gesicht, das du den anderen zeigst.“ Neben den sechs Angehörigen der Familie Yılmaz spielen im Text zwei Orte die Hauptrolle: Rheinstadt (fiktiv) und Istanbul. In Rheinstadt gibt es nichts Aufregendes, nichts Schönes, nichts Interessantes. Die Fußgängerzone reicht vom Eiscafé bis zur Sparkasse, die Reihenhäuser ähneln einander, die Wohnblöcke nehmen sich gegenseitig das Licht. In der Wohnung der Arbeiterfamilie Yılmaz, die in den 70ern aus dem Nordosten der Türkei kam, ist nicht Wertvolles zu sehen, die Möbel wurden vom Flohmarkt zusammengetragen, ein alter Fernsehapparat, alles schäbig. Die Familie lebt sparsam, besitzt nur das Nötigste.

Nach dreißig Jahren Schwerstarbeit in einer Metallfabrik in Rheinstadt, erwirbt Hüseyin kurz vor der Frühpensionierung eine Wohnung in Istanbul durch das über Jahre mühsam angesparte Geld. Eine „geräumige 3 + 1-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, für die du fast dreißig Jahre gearbeitet und gespart hast, […] Du hast deine Tage in drei Schichten gelebt, […] Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer.“ Die Wohnung scheint für Peri, die mittlere Tochter von Hüseyin, das Gegenteil von der Familienwohnung in Rheinstadt:

Schon seltsam, zu sehen, wie spendabel Hüseyin beim Einrichten dieser Wohnung war. Die Konsole aus Walnussholz, die sorgfältig verputzten Wände, die üppige Stuckleiste, der große Fernseher, das alles erzählt von einem Leben, das kein bisschen dem gleicht, das Peri von Zuhause kennt.

Der Roman gibt keine Antwort auf Peris Fragen, er stellt Situationen dar. Die Protagonisten können sich nicht erklären, warum Hüseyin in Istanbul anders handelt als in Rheinstadt: Er gestaltet die Wohnung für sich und seine Familie schön, er gibt das schwer erarbeitete Geld gerne aus. Die Fragen bleiben unbeantwortet, der Leser kann die offenen Stellen selbst mit seinem Wissen ausfüllen. Es steht aber fest, dass Hüseyin in der Heimat und in der Fremde anders agiert. 

Der Roman ist vielschichtig und lässt sich mehreren Genres zuschreiben. Als Gesellschaftsroman thematisiert er das Phänomen der Klassen in der deutschen Gesellschaft am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese Klassen entstehen durch Einteilung der Mitglieder einer Gesellschaft nach bestimmten Statusmerkmalen: Herkunft, Beruf, Einkommen und Bildung. Wichtig ist hier anzumerken, dass der „Klassenbegriff“ selbst in diesem Milieu kaum reflektiert wird: Die Protagonisten besitzen kein „Klassenbewusstsein“. Das bedeutet einen großen Unterschied zu den Klassenmilieus der Vergangenheit, die ihren Stolz und ihre Bedeutung aus der Zugehörigkeit z.B. zur Arbeiterklasse‘ beziehen konnten und Teilhabe in der Politik einforderten.

Gegenwärtig wird in öffentlichen Diskussionen nicht mehr von „Klassen“, sondern lieber von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten oder sozialen Umfeldern gesprochen. Allerdings würde dies bedeuten, dass es möglich erscheint, von einer Schicht in eine andere zu gleiten.Der Roman offenbart aber, dass selbst Peris Germanistikstudium kein Garant dafür ist, in der Gesellschaft aufzusteigen, einen anderen Platz als den einer Person mit Migrationsintergrund anzunehmen. Peris Entscheidung, sich in ihrem Magisterstudium mit Friedrich Nietzsche zu befassen, hat nicht nur mit ihrem Interesse an dem Philosophen zu tun, sie ist sich zugleich dessen bewusst, dass sie durch die Beschäftigung mit „diese[m] verfickte[n] Thema […], dem sie belächelnden Prof und den sie belächelnden Kommilitonen beweisen [muss], dass auch sie imstande war, Nietzsche zu lesen und ihm etwas abzugewinnen.“ Keine Protagonistin und kein Protagonist gibt sich der Illusion hin, er/sie wäre in der deutschen Gesellschaft angekommen und gleichberechtigte*r Mitbürger*in werden. 

Aydemir gestaltet die thematische Struktur des Romans etwas komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Hüseyin gehört zwar der Gastarbeitergruppe an, die aufgrund wirtschaftlicher Verträge, die zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen wurden, nach Deutschland eingereist ist und einer Arbeit nachgehen durfte. Die Gründe, warum er die Entscheidung traf, nach Deutschland zu gehen, werden durch die Bezeichnung „Gastarbeiter“ nicht klar. Der Kurde Hüseyin, kämpfte in der türkischen Armee, höchstwahrscheinlich wurde seine Truppe in Kämpfen gegen sein eigenes Volk eingesetzt. Seine Migration nach Deutschland ermöglichte ihm, ein Leben in Sicherheit, weit weg von der Konfliktregion zu führen. Aydemir zeigt mit ihrem Roman, dass Begriffe, mit denen die Gesellschaft versucht, die Migrant*innen zu fassen und sie bestimmten Gruppen zuzuordnen, selten ihre Berechtigung haben.

Der Roman von Aydemir scheut vor keinem noch so schmerzhaften Thema wie Alltagsrassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung und Nationalismus. Literarisch wird hier das verarbeitet, was Migranten in der deutschen Gesellschaft bewegt, die keine Sprache haben, die sich oft aus Scham, mangelnden Deutsch- oder Deutschlandkenntnissen nicht trauen, offensiv zu werden. Darüber hinaus leistet dieser Text noch etwas anderes. Er deutet auf zukünftige Auseinandersetzungen hin, die die gesellschaftlichen Debatten beherrschen werden. Es erscheint als das Problem einer neuen Klassengesellschaft, die sich in Deutschland herauskristallisiert. Die Aktualität der Debatte bestätigen noch mal die in den sozialen Medien kürzlich unter dem Schlagwort #vonhier geführten Diskussionen.

Literarisches Schreiben besitzt eigene Möglichkeiten, prekäre Themen und Inhalte der Leserschaft zu vermitteln. Denn in literarischen Texten werden latente Spannungen eingespeichert und früher formuliert als in der politischen und gesellschaftlichen Realität. Literarische Texte lassen Konflikte plastisch werden, da sie Figuren ins Zentrum ihrer Aushandlungen stellen. Durch das Handeln und Wirken der Figuren werden Wahrnehmungsmuster sichtbar, da nur in der Literatur ihre Emotionen und Fantasien mit aller Deutlichkeit ausgesprochen werden.

Fatma Aydemir hat einen wichtigen Roman über die deutsche Gesellschaft vorgelegt, in dem sie verdeckte Missverhältnisse offenlegt und diese zur Diskussion stellt.

Titelbild

Fatma Aydemir: Dschinns.
Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
368 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269149

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