Die „Neue Subjektivität“ der siebziger Jahre und ihre Wiederbelebung in der Gegenwart

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die gegenwärtige Literatur und Kultur ist von den literarischen und kulturellen Entwicklungen in den 1970er Jahren deutlich geprägt. Die gegenwärtig verbreiteten Erinnerungen an das Jahrzehnt vor fünfzig Jahren stehen dabei in ihren oft (auto)biographischen Prägungen selbst der „Neuen Subjektivität“ der siebziger Jahre nahe. 2020 erschien die Aufsatzsammlung Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie „alternativer“ Autoren aus den 1970ern und danach, im September 2021 Helmut Böttigers Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur, im selben Monat als „Roman über ein schillerndes Jahrzehnt voller Umbrüche“ Jenny Schons Das Seidenbrokatsofa. Viele Artikel über weitere Bücher mit früheren Rückblicken auf die siebziger Jahre sind in dieser Mai-Ausgabe von literaturkritk.de aufgelistet.

Dabei geht es nicht zuletzt um Differenzen und Affinitäten zwischen den siebziger Jahren und den kulturellen Entwicklungen im Umfeld der linken Studentenbewegung des Jahres 1968. 1968, so eine bis heute vielfach verbreitete Meinung, war ein kunstfeindliches, literarisch unproduktives Jahr, ein Tiefpunkt der deutschen Literaturgeschichte. Doch sogar im berüchtigten linken Kursbuch 15 vom November 1968 zeigte sich die Literatur durchaus lebendig. Sogar der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, eine der maßgeblichen intellektuellen Orientierungsfiguren für die Studentenbewegung, trat hier als Übersetzer spanischer Dichtung hervor, und neben fünfzehn Seiten Prosa von Beckett standen zahlreiche Gedichte, darunter vier von Ingeborg Bachmann. 1968 feierte keineswegs nur die Dokumentarliteratur ihre Triumphe. In diesem Jahr auch gelang Siegfried Lenz mit seinem Erfolgsroman Die Deutschstunde der literarische Durchbruch, Hubert Fichte mit dem Roman aus der Hamburger Subkultur Die Palette, Rolf Dieter Brinkmann mit Keiner weiß mehr und Horst Bienek mit Die Zelle. Peter Handkes Kaspar wurde in Frankfurt uraufgeführt, Max Frischs Biographie in Zürich. Günter Eich veröffentlichte die anarchischen Prosaminiaturen Maulwürfe, Elias Canetti seine Reiseaufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch und in der Neuen Rundschau, an das Thema seines Hauptwerkes Masse und Macht (1960) anknüpfend, den großen Essay über Kafka, den „größten Experten der Macht“ (Der andere Prozeß).

Das alles ist zwar schon vorher entstanden, doch hat sich 1968 kaum ein Autor davon abhalten lassen weiterzuschreiben. Als Enzensberger 1971 eine Sammlung seiner Gedichte 1955 – 1970 veröffentlichte, war klar, daß auch er 1968 auf das Schreiben von Lyrik nicht ganz verzichtet hatte. Günter Grass publizierte schon 1969 seinen Roman örtlich betäubt, der zwar nicht in Deutschland, doch immerhin in den USA außerordentliche Resonanz fand. Heinrich Böll schrieb nach 1968 seinen wohl bedeutendsten Roman Gruppenbild mit Dame. Ingeborg Bachmann arbeitete, dem Faschismus in den Geschlechterbeziehungen nachgehend, an ihrem Todesarten-Zyklus, und Uwe Johnson begann, in einer Mischung von dokumentarischen Verfahrensweisen und traditionellem Erzählen, mit der Niederschrift der Jahrestage (1970, 1971, 1973, 1983).

1968 war also ein vielschichtiges und durchaus ertragreiches Jahr der deutschsprachigen Literaturgeschichte und darüber hinaus, blickt man auf die damaligen literaturtheoretischen Debatten zurück, ungemein folgenreich. Vor allem auch der Begriff „Postmoderne“, der in Deutschland erst in den 70er und 80er Jahren Karriere machte, wurde hier erstmals diskutiert. The Case for Post-Modernism lautete der Titel eines Vortrags, den der amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler 1968 in Freiburg hielt. Fiedlers Aufwertung der populären Kultur gegenüber den hermetischen, in hohem Maße interpretationsbedürftigen Kunstanstrengungen der literarischen Moderne und sein Appell, „die Kluft zwischen Bildungselite und der Kultur der Massen zu schließen“, hinterließ 1969 unübersehbare Spuren in Rolf Dieter Brinkmanns Acid-Anthologie der „neuen amerikanischen Szene“. Sie erschien im März Verlag, der die Literatur der siebziger Jahre mit geprägt hat.

In den USA hatte sich seit den fünfziger Jahren in Opposition sowohl zur restaurativen Eisenhower-Ara als auch zu einer erstarrten, erschöpften und durch den „New critcism“ akademisierten literarischen Moderne (William Faulkner, Ernest Hemmingway, Saul Bellow, Ralph Ellison, Robert Lowell) eine anarchopolitische Gegenkultur herausgebildet, die ihre Zentren in New York und San Francisco hatte. Die „Beat Poets“, die „New York Poets“ und die Dichter der Black Mountain School setzten dem form- und elitebewußten Kunstanspruch der literarischen Moderne nach dem Vorbild des Jazz die improvisierte Offenheit des beiläufig Gemachten entgegen, zogen der schriftlichen Fixierung zum „Werk“ den mündlichen Vortrag vor (Allen Ginsberg, Frank O‘Hara). Sie suchten Bewusstseinserweiterung in der Droge und in den elektronischen Medien. Thomas Pynchons großer, verwirrend episoden- und figurenreicher Roman Die Enden der Parabel führte 1973 die Impulse dieser frühen amerikanischen Postmoderne fort, indem er sowohl auf die europäische Hochkultur (Beethofen, Wagner, Eliot, Rilke, Joyce) als auch auf die Mythen der amerikanischen Hollywood-Kultur (Dracula, King Kong, Marx Brothers) zurückgriff und der abstrakten, analytischen und technologischen Vernunft den Wahnsinn, das Chaotische und Spielerische entgegensetzte.

In Deutschland hielt die von den weltweiten Studentenprotesten getragene Revolutionseuphorie nicht lange an. Die Hoffnungen, die Autoren wie Uwe Johnson (in seiner literarischen Chronik der 365 Jahrestage zwischen dem 20. August 1967 und dem 20. August 1968, die mit Rückerinnerungen an die Vergangenheit seit den zwanziger Jahren verknüpft ist) in den tschechischen Reformsozialismus setzten, wurden durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag nachhaltig zerstört.

In den frühen siebziger Jahren ging als Signal kollektiver Umorientierungen das Schlagwort von der „Tendenzwende“ um. Mit Peter Schneiders Erzählung Lenz und Karin Strucks tagebuchartigen Aufzeichnungen Klassenliebe erschienen 1973 zwei literarische Texte, die als besonders charakteristisch für jene Veränderungen in der westdeutschen Literatur galten, die von der Kritik bald mit dem Etikett „Neue Subjektivität“ versehen wurden. In den siebziger Jahren artikulierte diese sich als Unbehagen an gesellschaftstheoretischen Abstraktionen und politischen Aktionismen, die sich gegenüber der Befindlichkeit des einzelnen Subjekts gleichgültig gezeigt hatten. Bezeichnend dafür waren die Sätze, mit denen Peter Schneiders Lenz ketzerisch seine Schwierigkeiten mit jenem Theoretiker bekundete, dessen Schriften von der 68er Generation wie die Bibel zitiert worden waren: „Schon seit einiger Zeit konnte er das weise Marxgesicht über seinem Bett nicht mehr ausstehen. Er hatte es einmal verkehrt herum aufgehängt, um den Verstand abtropfen zu lassen, hatte er einem Freund erklärt. Er sah Marx in die Augen: ‚Was waren deine Träume, alter Besserwisser, nachts meine ich? Warst du eigentlich glücklich?‘“

In der DDR äußerte sich schon in den späten sechziger Jahren ein zunehmendes Unbehagen gegenüber den kollektivierenden Ansprüchen eines staatsbürokratischen Sozialismus, der die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen immer stärker einengte. Autoren wie Uwe Johnson oder Heinar Kipphardt mussten in den Westen übersiedeln oder, wie Heiner Müller, den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband in Kauf nehmen. Eine literarisch folgenreiche Provokation der Normen des „Sozialistischen Realismus“ gelang 1968 Christa Wolf mit ihrem Roman Nachdenken über Christa T. Die Geschichte einer an der Gesellschaft leidenden, mit 36 Jahren an Leukämie sterbenden Frau löste eine heftige literaturpolitische Diskussion aus. Wolfs Programm einer „subjektiven Authentizität“ wurde von Autoren wie Irmtraud Morgner, Volker Braun oder Ulrich Plenzdorf (Die neuen Leiden des jungen W., 1972) fortgeführt. Wie begrenzt jedoch in der DDR die Spielräume literarischer Subjektivität und Opposition blieben, zeigte sich mit aller Deutlichkeit 1976 bei der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Rund 150 Autoren der DDR protestierten gegen diese Disziplinierungsmaßnahme erfolglos, in der Folgezeit verließen zahlreiche Künstler das Land und gingen in den Westen, unter ihnen Thomas Brasch, Jurek Becker, Sarah Kirsch, Rainer Kunze, Günter Kunert und Erich Loest.

In der Bundesrepublik artikulierte sich das Unbehagen an sozialistischen Dogmen der Studentenbewegung in der literarischen Hinwendung zu Träumen und Phantasien, zu den Erfahrungen mit dem eigenen Körper und den persönlichen Problemen in privaten Beziehungen. Davon profitierte vor allem auch die Lyrik, die sich seit 1975 bei Autoren wie Lesern einer bemerkenswerten Beliebtheit erfreute. Gedichte von Nikolas Born, Jürgen Theobaldy, Wolf Wondratschek und anderen wandten sich in betont einfacher, kunstloser und das Einverständnis mit dem Publikum suchender Umgangssprachlichkeit, die sich von den hermetischen Traditionen der literarischen Moderne lossagte, den Alltagserfahrungen des Subjekts zu. Während einige Ideologiekritiker mit Verdikten wie „resignativer Rückzug ins Private“ oder „Narzissmus“ die Neue Subjektivität in die Tradition alter deutscher Innerlichkeit stellten, verteidigten sich die jüngeren Autoren mit dem Hinweis, sie verstünden das Subjekt als eine „sozialen Größe“, die durchdrungen ist von gesellschaftlichen Widersprüchen. „Das Private ist das Politische“, erklärte Karin Struck 1977. Dass sich die forcierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich mit dem kritischen Blick auf die Gesellschaft verbinden konnte, zeigten in der Prosa die stark autobiographischen Werke auch der älteren Autoren: u.a. Uwe Johnsons Jahrestage, Hubert Fichtes Versuch über die Pubertät (1974), Max Frischs Montauk (1975, ein Pendant zu Philip Roth: Mein Leben als Mann, 1974), Wolfgang Koeppens Jugend (1976), Thomas Bernhards Die Ursache (1975), Der Keller (1976) und Der Atem (1978) sowie vor allem Peter Weiss‘ dreibändiges Werk Die Ästhetik des Widerstands (1975, 1978, 1981). Hier verbindet sich der authentische Rückblick auf das eigene Leben mit einem fiktiven Gegenentwurf zu ihm, der „Wunschbiographie“ (Weiss) eines Erzählers, dessen Existenz sich im Widerstand gegen Hitler aufzehrt, und mit vielfältigen Reflexionen über die Kunst als Kräftereservoir gegen die Barbarei. Zu einem Panorama der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben neben Weiss und Johnson auch die drei Bände von Elias Canettis seit 1971 entstandener Autobiographie (Die gerettete Zunge, 1977; Die Fackel im Ohr, 1980; Das Augenspiel, 1985) und ebenfalls die dreibändige Autobiographie Manes Sperbers (All das Vergangene, 1974-1977) die eigene Lebensgeschichte ausgeweitet. Die oft frappierenden Ähnlichkeiten dieser beiden monumentalen Autobiographien resultierten aus gemeinsamen Erfahrungen: Beide Autoren sind 1905 geboren, stammen aus dem osteuropäischen Raum, sind jüdischer Herkunft, haben zeitweise in Wien und Berlin gelebt, sich mit denselben Zeitgenossen und geistigen Bewegungen auseinandergesetzt, mussten vor den Nationalsozialisten fliehen und gingen ins lebenslange Exil. Im historischen Horizont begrenzter und mit weniger zeitlicher und ästhetischer Distanz zum eigenen Leben sind die möglichst „authentischen“, durch keinen Kunstanspruch blockierten Mitteilungen von „Selbsterfahrungen“ geprägt, mit denen viele junge Autoren resonanzreich debütierten. Ihre Darstellungen von Beziehungsproblemen, Krankheitserfahrungen und gestörten Elternbeziehungen hatten vielfach spektakuläre Publikumserfolge: Verena Stefans feministisches Kultbuch Häutungen (1975), Fritz Zorns Mars (1977), Bernward Vespers Die Reise (1977), Maria Erlenbergers Hunger nach Wahnsinn (1977) und noch 1983 der Roman Irre von Rainald Goetz. Die Forderung nach Authentizität, die die Dokumentarliteratur der sechziger Jahre erhoben hatte, konnte in dieser Art von Autobiographik aufrechterhalten und mit dem Bedürfnis nach Selbstaussprache verknüpft werden. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wiederum fand ihre Fortführung auf persönlicher Ebene in der autobiographischen „Väterliteratur“, in der sich etliche Autoren mit den Verstrickungen ihrer Väter konfrontierten. Sie reichte mit viel beachteten Büchern von Christoph Meckel (Suchbild, 1980), Peter Härtling (Nachgetragene Liebe, 1980) oder Ludwig Harig (Ordnung ist das ganze Leben, 1986) in die achtziger Jahre hinein.

Wo sich die „Neue Subjektivität“ nicht als bloß larmoyante Auseinandersetzung mit privaten Nöten gerierte, sondern die kritischen Ansprüche der 68er Generation fortentwickelte, verschob sie die frühere Kapitalismus- und Imperialismuskritik zu einer fortschrittsskeptischen Zivilisations- und Vernunftkritik. Das kritische Interesse am „Antagonismus von Kapital und Arbeit“ wurde, zum Teil auch in der DDR, ersetzt durch das an anderen Gegensätzen: Zivilisation und Wildnis (im Einklang mit der zur intellektuellen Mode werdenden Ethnologie), Psychiater und Patient (angeregt von der Antipsychiatrie), Technik und Natur (in Übereinstimmung mit der Ökologiebewegung), Kopf und Körper, Vernunft und Mythos, Mann und Frau (im Feminismus). Die rationalistischen Traditionen der Aufklärung wurden abgewertet zugunsten der Romantik oder des Surrealismus und zuweilen auch im Anschluss an neureligiöse Gegenkulturen verabschiedet.

Die vielleicht folgenreichste Entwicklung innerhalb der „Neuen Subjektivität“ setzte 1975 mit Verena Stefans Häutungen ein. Diese „autobiographischen Aufzeichnungen“ markieren den Übergang zu einer neuen Phase der Frauenbewegung, in der Literatur im Zeichen der Selbsterfahrung und auf der Suche nach einer spezifisch „weiblichen Ästhetik“ (Silvia Bovenschen: Gibt es eine weibliche Ästhetik?) eine zentrale Bedeutung erhält. Mit der Kritik am „linken Jargon“ um 1968, der die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern unverändert ausdrückte, und gegen eine politische Revolutionsbereitschaft, die jede Veränderung privater Beziehungen zurückstellte, war Verena Stefans feministisches Kultbuch repräsentativ für eine neue Frauenbewegung, die sich in Opposition zur orthodoxen Linken konstituierte, auch wenn sie selbst aus den Emanzipationsbewegungen von 1968 hervorging. Diese Bewegung griff auf Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949) zurück, berief sich auf Doris Lessings Roman Das goldene Notizbuch (1962), entdeckte verspätet Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Romane Malina (1971) und Der Fall Franza (posthum 1979) oder auch die Romane Marlen Haushofers (Die Wand, 1965; Die Mansarde, 1969) für sich, hatte in der DDR in Irmtraud Morgner (Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, 1974; Amanda. Ein Hexenroman, 1985) und vor allem in Christa Wolf (Kassandra, 1983), in der Bundesrepublik in Anne Duden (Übergang, 1982; Das Judasschaf, 1985) hochgeschätzte Persönlichkeiten mit sehr unterschiedlichem Profil. Der westdeutsche Feminismus hat dabei mit vielfältigen internationalen Verflechtungen, nicht nur in der Literatur, in den siebziger und achtziger Jahren eine Wendung gemacht: Dominierte in ihm zunächst eine „Politik der Gleichheit“, ein Engagement, das die Frau dem Mann gleichstellen wollte, so zielte der Feminismus später eher auf eine „Politik des Unterschieds“. Sie besagt, dass traditionell männliche Eigenschaften und Werte abqualifiziert werden zugunsten spezifisch weiblicher Gegenqualitäten. Der intellektuelle und literarische Feminismus ging in den achtziger Jahren, angeregt vor allem von den französischen Theoretikerinnen Helene Cixous und Luce Iragaray, eine enge Allianz mit der „postmodernen“ Vernunft- und Zivilisationskritik ein, insofern er den rationalistischen, „logozentrischen“ Willen zur Herrschaft über die innere und äußere Natur des Menschen als „männlich“ disqualifizierte.

Die Hinwendung zum Subjekt schloss in den siebziger und verstärkt in den achtziger Jahren, die gerne auch „postmodern“ genannte Abwendung von der aufklärerisch-modernen Idee des autonomen, sich selbst und die Umwelt beherrschenden Subjekts ein und sympathisierte, angeregt vor allem vom französischen Poststrukturalismus (Lacan, Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari), statt dessen mit dem „Anderen der Vernunft“: den unbewussten, verdrängten, ausgegrenzten und im „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias) disziplinierten Bestandteilen der Persönlichkeit. Peter Sloterdijk, der 1983 mit seinem literarischen Großessay Die Kritik der zynischen Vernunft bekannt wurde, entwarf in dem zwei Jahre später erschienenen Roman Der Zauberbaum eine Psychopathologie des modernen, zivisisierten Subjekts, das sich mit seiner eigenen Natur entzweit hat.

Die katastrophalen Auswirkungen einer auf die Rationalität technischer Naturbeherrschung verkürzten Aufklärungstradition sind seit den siebziger Jahren Thema zahlreicher apokalyptischer Szenarien. 1978 veröffentlichte Enzensberger das Langgedicht Der Untergang der Titanic. Einen ähnlichen Symbolwert wie das Zerbrechen dieses einst modernsten Schiffes, mit dem auch das Vertrauen in die Fortschritte moderner Technologie zerbrach, bekam die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, von der später Christa Wolfs Erzählung Störfall handelt. Die literarischen Apokalypsen bis hin zu der in das antike römische Imperium zurückverlegten und doch auch gegenwartsbezogenen Verfallsszenerie in Christoph Ransmayrs 1988 erschienenen Roman Die letzte Welt sind entweder Warnungen vor den Fehlentwicklungen eines sich blind verselbständigenden Fortschritts der wissenschaftlichen und technischen Modernisierung oder auch Wunschphantasien vom Untergang einer verabscheuten Welt und von einem radikalen Neubeginn.