Ein Werk

Carl Einsteins „Bebuquin“ in einer kommentierten Ausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immerhin, man kann es ein Werk nennen. Und das ist angesichts der Unsicherheiten, die bei der Beschreibung und Einordnung des 1912 als „Roman“ erschienenen Bebuquin des damals 27 Jahre alten Carl Einstein schon eine halbwegs belastbare Charakterisierung. Denn auch einen Roman wird man diesen Text kaum ernsthaft nennen wollen, und damit sind die Schwierigkeiten noch lange nicht abgehandelt. Immerhin teilt der namengebende Protagonist des Textes diese Skepsis, was die Gattung betrifft: „Traurig, rief er aus, welch schlechter Romanstoff bin ich, da ich nie etwas tun werde, mich in mir drehe“.

Dabei hatte Einstein auf so etwas wie eine Handlung nicht ganz verzichten können, wie Gottfried Benn bei aller Wertschätzung noch posthum bemerkte. Es gibt einen Protagonisten, der am Ende tot ist, einen Konkurrenten, Nebukadnezar Böhm, ein echtes Alter Ego vielleicht und ein Objekt der Begierde, Fräulein Euphemia. Klaus H. Kiefer nimmt freilich an, dass Bebuquin (niemand weiß bis heute, wie der Name auszusprechen ist, vermerkt er) und Böhm nun doch nur zwei Varianten derselben Person sind, allein schon deshalb, weil Böhm allzuoft zwischen den verschiedenen Seinszuständen wechselt, so lange, bis es selbst Bebuquin zu viel wird und er ihn dringend und endgültig tot sehen will. Dabei kommt er trotz alledem bei Euphemia nicht zum Zug, was man der dicken Dame, die leider keinen Nachnamen verdient hat, kaum nachtragen kann, kommst sie doch bei Bebuquin nicht „auf ihre Kosten“: „Lagen wir zusammen, kommt Dir die Philosophie, und das ist sehr komisch.“ Beim Sex ist Philosophie keine gute Idee, entnehmen wir dem. Von den konkludenten genderspezifischen Annahmen abgesehen, ist hier auch erkennbar, warum diese Leute so viel davon zu sprechen hatten: Über Sexualität zu reden, ist eben auch einer der zentralen gesellschaftlichen Tabubrüche. Über die Praxis ist damit allerdings noch nichts gesagt.

Gerade einmal 21 Jahre alt will Carl Einstein (1885–1940) gewesen sein, als er diesen fulminanten Text begonnen hat. Das jugendliche Alter merkt man ihm an, ist der Text doch mit großer, entschiedener Geste, dem Willen zum Regelbruch, dem Ekel vor dem Realismus, mit dem gediegenen Halbwissen des jungen Mannes gerade über das, was da noch sexuell seiner harren mag, geschrieben: „Erotik ist die Ekstase des Dilettanten“, deklamiert Böhm, und fährt fort: „Die Frauen sind immer aufreibend, da sie stets dasselbe geben, und wir nie glauben wollen, dass zwei ganz verschiedene Körper das gleiche Zentrum besitzen.“ Mit Bebuquin sind wir eben auch auf dem Niveau eines Otto Weininger angekommen, dem das „Weib“ mehr als unheimlich war.

Bekannt geworden und im Gedächtnis geblieben ist Einstein vor allem als Autor des Bandes zum 20. Jahrhundert und damit zur noch jungen Avantgarde der Propyläen-Kunstgeschichte, der zwischen 1926 und 1933 drei Auflagen erlebte. Das ist für eine Kunstgeschichte, die sich exklusiv der so intensiv verfemten Moderne zuwendet, ein erstaunlicher Erfolg. Vergleichbare Bedeutung kommt aber wohl auch Einsteins Arbeiten zur afrikanischen Kunst zu, die im Rahmen der postkolonialen Studien neue Aufmerksamkeit erlebt haben (schade, dass in der Werkausgabe die beiden Bände von 1915 und 1921 so lieblos nachdruckt wurden; im Reclam-Druck verliert der erste von beiden, Negerplastik, einfach zu viel an Präsenz).

Nach dem Vorabdruck einiger Kapitel im Jahre 1907 in Franz Bleis Zeitschrift „Die Opale“ druckte Franz Pfemfert Einsteins Text im Jahre 1912 zuerst in seiner Zeitschrift, dann in einer selbständigen Ausgabe, die er 1917 erneut auflegte. Ein zeitgenössischer Bestseller ist Bebuquin damit nicht geworden, und ob man, wie Kiefer, in Anlehnung an Rudolf Großmanns Lithographie aus dem Jahr 1922 die Karriere Einsteins in jenen Jahren „kometenhaft“ nennen kann, ist wohl Geschmacksache – zum bekannten Autor haben ihn, bedingt, die Ausgaben nach 1945 bei Limes, Insel, Suhrkamp und Reclam gemacht. Zumindest zum geheimen Klassiker der Moderne ist Einsteins Bebuquin damit – wenngleich spät – geworden. Ein bemerkenswertes Buch ist Bebuquin dennoch von Beginn an, und bemerkt worden ist es auch.

Einsteins Text erschien genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um innerhalb des avantgardistischen Jahrzehnts die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Man wird – anders als bei Gottfried Benns Morgue-Zyklus, dessen Wirkung vor allem auf die zeitlich deutlich nachgelagerte Rezeption zurückgeht – davon ausgehen müssen, dass die Wahrnehmung des Textes zumindest in den avantgardistischen Zirkeln schon früh recht breit gewesen ist. Zwar sind die Auflagen von Zeitschrift und Verlagspublikationen vergleichsweise klein geblieben (von maximal 7000 ist bei der Zeitschrift die Rede), aber die Besprechungen, die Kiefer in der nun bei Metzler erschienenen Edition abdruckt und die von 1913 bis 1925 reichen, zeigen eine intensive Beschäftigung mit dem Text, der zum einen sein eigenes Klientel, die avantgardistische Boheme um 1910, ins Visier nahm, zum anderen eine völlig ungewohnte Art von Prosa präsentierte.

Einstein hat wohl mit den „Dilettanten des Wunders“ jene kleine Gruppe avantgardistischer Künstler gemeint, denen in einer genialen Mischung aus Kreativität, Hochstapelei, Selbstbewusstsein und glücklicher Hand nichts weniger als die Revolutionierung der Kunst gelingen würde. Kein Mensch dieser Zeit, der seine fünf Sinne beisammen hatte, hätte sich um 1910 auf dieses „Meer des nie Geahnten“ (Adorno) hinausgewagt, das diese Bildenden Künstler, Autoren, Kritiker und eben Kunsthändler und Verleger befuhren. Ein Text, der solche Verrücktheiten aufzunehmen und angemessen zu gestalten versucht, kann nur von allem abweichen, was bis dahin bekannt und sich Roman nennen durfte.

Die Kategorialisierung als Roman verdankt Bebuquin vielleicht noch am ehesten dem Umstand, dass ein fiktionaler, halbwegs chronologisch (nach Einsteins bestem Willen nicht „biografisch“) daherkommender erzählender Text zumeist als Roman firmiert. Einstein unternimmt aber im Laufe der knapp 100 Seiten des Erstdrucks alles Mögliche, um einen solchen Eindruck zu verhindern. Bis hin zu jenem knappen und entschiedenen Schlusswort, mit dem Bebuquin seinem Leben und dem Text ein Ende setzt: „Aus“. Spätestens damit hat Bebuquin seinen vornehmen Platz in der Literaturgeschichte gefunden. Alles andere, was vor diesem Schlusswort zu finden ist, lässt sich aus seiner Perspektive mit größter Milde bewerten.

Dabei ist der Text aus heutiger Sicht mit seinem entschiedenen Subjektivismus kaum mehr erträglich (ich bekenne). Die Menagerie aus Huren und Leidenden verschiedenster Art, den athletischen Arbeitern, die die berühmte Schauspielerin dahinschmelzen lassen, den bewusst dekadenten Schauplätzen (Theater, Hotel, Bar, Zirkus, möbliertes Zimmer) und den zahlreichen Bemühungen, sich im Abstrakten, ja „Geistigen“ überhaupt zu bewegen, ist nicht immer nach unserem Gusto – was die bevorzugt männlichen Akteure nicht daran hindert, einerseits über die Abgründe des Weiblichen herzuziehen – Klein-Möbius über den physiologischen Schwachsinn des Weiblichen –, um sich dann andererseits im nächsten Moment an den nächstbesten entblößten Busen zu werfen. Das hat viel von Nietzsche und Nietzsche-Verachtung, Vitalismus und Nihilismus und ein bisschen zu viel männliche Hormone auf der Suche nach Erfüllung. Der junge Einstein kippt mit vielleicht unklugem Bedacht und großem Schwung so ziemlich alles, was in seinen Kreisen an Wahrnehm-, Sag- und Denkbaren zu finden ist, in den Text – und lässt seitdem seine Exegeten rastlos an der Deutung arbeiten. Unter „absoluter Prosa“ ist da kaum was zu haben. Was eben auch zeigt, dass da auf Seiten der Exegeten viel Ernsthaftigkeit am Werke ist, wobei das Spielerische des Textes auf der Strecke bleibt. Seine Zeitgenossen hatten damit weniger Probleme, sondern sahen in Bebuquin, wie etwa Max Hermann-Neiße, das Exempel für die fast zeitgleich präsentierte Theorie (etwa in Einsteins Brief über den Roman, was der Essay mit Bebuquin zu tun hat, wird Hermann-Neiße am besten erklären können).

Klaus H. Kiefer hat nun – nach dem mit Liliane Meffre besorgten Briefwechsel Einsteins (2020) – den Roman in einer kommentierten Ausgabe vorgelegt. Dabei greift er, anders als Erich Kleinschmidt seinerzeit (1985) für Reclam, nicht auf das Typoskript des Textes aus dem Jahr 1907 zurück, das sich erhalten hat, sondern auf den ersten Buchdruck, der bereits für die Werkausgabe die Grundlage bildete. Zwar hat er damit ebenso wenig eine fehlerfreie, wie bedingungslos vertrauenswürdige Vorlage, die er der Edition zugrunde legen könnte. Aber er sieht sich anscheinend dem Autorwillen noch am nächsten, liegen doch zwischen Typoskript und Buchdruck sechs Jahre und zahlreiche Eingriffe Einsteins. Dabei erweist sich Einstein als eine Art Anti-Kafka, der seinen Editoren Reuß und Staengle als derart penibler Korrektor seiner Publikationen galt, dass das Fehlen eines Kommas, das vorherige Editoren ergänzt hatten, seinerzeit Anlass zu umfangreichen Reflexionen und intellektuellen Anstrengungen gab.

Dazu gibt Einstein deutlich weniger Anlass, dafür dem Editor, den Text, wie man sich überzeugen kann, behutsam zu korrigieren (Anführung hier und da), wo er offensichtlich ohne Absicht und in wiederholter Eile falsch lag. Kiefer visiert, wie er bekennt, keine historische-kritische Ausgabe an, versucht aber zugleich, den Text Einsteins in seinem historischen Ort zu belassen und zu verorten. Das schließt ein, dass er die offensichtlichen Schwächen Einsteins bei Fremdwörtern nicht übertüncht, sondern als historisches Faktum stehen lässt (das bricht einem Einstein keinen Zacken aus der Krone). Zugleich kann man – und das ist wohl die größte Stärke des Ausgabe – Kiefer beim kommentierenden Nachdenken begleiten. Denn der Kommentar, der nicht nur aus Textverweisen besteht, sondern bewusst auch visuelle Hinweise gibt, versucht sich daran, jene kulturellen Phänomene aufzuarbeiten, die sich wie auch immer im Text wiederfinden lassen. Das wirkt und ist wohl auch nicht immer abschließend gedacht – und wird zu Ergänzungen aufrufen.

Der Rheinländer wird das französische „Bagage“ etwa kaum anders aussprechen als der Badener, auch wenn er den „Kaffee verkehrt“ eher in den Niederlanden kennengelernt hat als in Wien, das für den Süddeutschen deutlich näher liegt. Das Verständnis der „verkehrten Kaffees“, wie er im Text vorkommt, ändert das freilich nicht. Dass Frauen Auto fahren, mag vor dem Krieg noch eher selten gewesen sein (Musil beginnt den Mann ohne Eigenschaften noch damit, dass sich die Dame vom Herrn, der sie leitet, einen Autounfall erklären lässt, so weit entfernt ist ihr das), in den 1920er Jahren – ehemännliche Einwilligung oder nicht – bevölkern Autofahrerinnen dann schon zahlreich die Literatur. Aber das tut hier wohl nichts zur Sache: Wenn sich Fredegonde Perlenblick fahren lässt, dann weil das standesgemäß ist (mit dem Namen!).

So und anders mag fortfahren, wer will und daran Freude hat, dass Kiefers Verfahren zwar unabgeschlossen und fast schon experimentell ist, dafür aber den Prozess der produktiven Aneignung des Textes befördert. Was eben auch die Qualität der Ausgabe ausmacht.

Titelbild

Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders.
Mit Kommentar und Nachwort hg. von Klaus H. Kiefer.
J. B. Metzler Verlag, Heidelberg, Berlin 2022.
130 Seiten, 54,99 EUR.
ISBN-13: 9783662641323

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch