Die sich wiederholenden Lebensgeschichten

Claudia Schumacher begleitet ihre Protagonistin in „Liebe ist gewaltig“ behutsam in ein selbstbestimmtes Leben

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gewalt in Familien ist in der Literatur immer noch ein verschwiegenes Thema, nur wenige Romane und Erzählungen wagen sich, dieses Tabu aufzugreifen, den Betroffenen eine Stimme, eine Sprache zu geben, die Leser:innen mit der damit verbundenen Brutalität zu konfrontieren. In gewaltbetroffenen Familien geht es nicht sanft und behutsam zu, da gilt das Recht des Stärkeren, und er setzt es gegen jene ein, die er ihm unterlegen sieht. Die Umwelt schaut gerne weg, denn Wissen würde bedeuten zu handeln, Stellung zu beziehen, etwas zu tun. Wie bestens ein solches von Gewalt geprägtes Familiensystem gegen innen und gegen außen funktioniert, deckt Claudia Schumacher in ihrem Debütroman Liebe ist gewaltig auf, schonungslos und sprachlich stark.

Schon der Titel weist mit aller Deutlichkeit darauf hin: In dieser Familie gibt es Liebe und Gewalt. Es geht nicht um ein Entweder-oder, vielmehr erlebt die Protagonistin Juli Ehre die Verknüpfung von beiden seit frühester Kindheit. Sie liebt ihren Vater, sie liebt ihre Mutter, sie will sie nicht verlieren. Und verstrickt sich immer mehr in den Verwirrungen, wenn sie die Schuld bei sich sucht, an ihren Erinnerungen zweifelt, nirgends Gehör findet und sich schämt. Schuld und Scham zerstören noch das letzte Stückchen Selbstvertrauen. Juli ist mit einem Vater konfrontiert, der zeit seines Lebens leugnet, was er getan hat. Und daran kann niemand etwas ändern. Denn wenn Papa etwas bestimmt, ist das so. Dieser Vater ist ein auf die Automobilbranche spezialisierter Anwalt, der hohes Ansehen genießt. „Schaut her, der wunderbare Herr Ehre – noch wurde kein Mensch geboren, der es mit ihm aufnehmen kann!“, so wird er den Leser:innen vorgestellt. Daneben oder vielmehr darunter ist „diese Frau mit der Taille, die Papa mit seinen mittelgroßen Händen beinahe umfassen kann. Und natürlich: die schönen Söhne.“

Die ältere Schwester ist seit je anders, schon früh geht sie weg von zu Hause, zurück kommt sie nie mehr, auch nicht auf Besuch. Der Erstgeborene verlässt das Elternhaus ebenfalls, doch lebt er im Nachbardorf und „aus unerfindlichen Gründen kommt er jede Woche heim, der Masochist, der hat definitiv einen Schaden. Aber die Hauptgeschädigten, das sind Bruno, Mama und ich.“ Sie wurden geschlagen, „aber Bruno bekam ab wie kein Zweiter. Reines Glück, dass er nicht einfach mal draufging dabei.“

Alles zu erzählen beginnt Juli als „seelisch zerschmetterte Siebzehnjährige“ mit Selbstmordgedanken in einem Kneippkurort mit Moorheilbad, wohin sie von ihrer Mutter gebracht wird, nachdem sie einen Zusammenbruch hatte. Aber in einer Rehaklinik scheint das Risiko gering, dass jemand herausfinden würde, was wirklich mit ihr los ist, besteht doch die große Gefahr, dass die Eltern ihre Zulassung als Anwältin/Anwalt verlieren würden – zynischerweise ist auch die Mutter Anwältin. Immerhin ist Julis Selbsterhaltungstrieb so stark, dass sie uns, den Leser:innen, zu erzählen beginnt.

Sie erzählt, wie der Vater Bruno einmal halbtot geschlagen hat und sie die Mutter bittet, etwas zu tun. Schlimmer als alles ist die Scham über sich selbst, dass auch sie nichts unternommen hat.

War wie zersplittert in tausend Teile. Herz, Kopf und Körper nicht in der Lage, einander zu folgen. Erst als Papa fertig war, ging Mama zu Bruno und sagte: Komm. Das muss verarztet werden. – Normaler Abend daheim bei den Ehres, der beliebten Familie mit den netten Kindern und der charmanten Mutter.

Die ärztliche Versorgung übernahm auch an diesem Abend Günther, Vaters kleiner Bruder und ihm hörig.

So folgten Grausamkeit auf Grausamkeit, sie bewirkten Lähmung, provozierten vorerst keinen Widerstand. Juli brauchte Jahre, bis sie erkannte, wie sie missbraucht wurde, um ein Familiensystem aufrechtzuerhalten, und in der Folge dazu beitrug, dass sich der Vater ungestraft so verhalten konnte, wie er es tat und als richtig erachtete. Klick machte es bei ihr erst, als ihr Vater die kleine Maus, die sie liebevoll aufgepäppelt hatte, aus dem Käfig ließ und damit in den sicheren Tod trieb. Zum ersten Mal setzte sie sich zur Wehr, schlug zu und begriff:

Bruno und ich, wir waren für unsere Eltern immer nur die Requisiten, willfährige Objekte. Mal waren wir die Schulter zum Ausheulen, gerne und immer wieder aber auch einfach der Boxsack zum Abreagieren, Projektionsfläche für die eigenen Minderwertigkeitsgefühle.

Und das hab’ ich dann begriffen. Und dann bin ich gerannt. Ohne Schuhe, aber mit wunden Füßen, bin ich in den Bus gestiegen. Weg von hier.

Zwar ist damit der erste wichtige Schritt getan, doch es steht Juli ein langer schmerzhafter Weg bevor. Sie geht Schritt für Schritt, verliert immer wieder den Mut und die Kraft, sieht sich vor unüberwindbaren Schwierigkeiten, findet sich in neuen Abhängigkeiten wieder, erkennt Gemeinsamkeiten mit ihrer Mutter. Daneben baut sie sich jedoch und zu ihrer Rettung ihre eigene Welt auf. Gamen wird ihre Leidenschaft, da ist sie jemand. Da erfährt sie endlich die Bestätigung, die sie auch im Studium nicht gefunden hat, obwohl sie es ohne Probleme bis zur Promotion geschafft hat. Im GamingRoom entscheidet sie ganz alleine. Wie sehr sie dies im sonstigen Leben verlernt oder vielleicht gar nie gelernt hat, zeigt sich besonders schmerzhaft daran, dass sie den Kontakt zu Bruno abbricht – weil er ihr die Wahrheit ins Gesicht sagt, die sie nicht hören will. Dass sie sich nämlich in ihrer Beziehung mit Thilo genau gleich verhält wie ihre Mutter, sich unterwirft, kleinmacht, nach seinem Willen tanzt. Noch einmal erfährt sie brutale Gewalt – Thilo schlägt sie. Da fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie will nicht länger Opfer sein. „Mama ist geblieben, ich muss nicht bleiben, ich werde nicht bleiben …“

Claudia Schumachers Debüt Liebe ist gewaltig beeindruckt vor allem mit der Sprache, die präzis, scharf, hart und direkt ist. Juli, die Ich-Erzählerin, nennt die Dinge beim Namen, und sie tut dies, ohne Rücksicht zu nehmen. Sie deckt auf, analysiert, urteilt und verurteilt. Sie schont niemanden, auch nicht sich selbst. Hier geht es nirgends darum, etwas verstehen oder erklären zu wollen. Es geht um mehr, viel mehr, nämlich ums Überleben in einer Familie, in der der Vater vor keiner Gewalt zurückschreckt, die Mutter ihm den Rücken stärkt und die Kinder gegeneinander ausgespielt werden.

Und wehe, wer sich da nicht rechtzeitig aus dem Spiel zu ziehen vermag. Juli ist knapp dreißig, als sie aus Thilos Umklammerung flieht. Sie weiß, dass niemand das Recht hat, sie zu schlagen oder psychische Gewalt anzuwenden. Trotzdem: „Ein Teil von mir glaubt noch immer, dass ich schlecht bin. Dass ich jeden Schlag in meinem Leben verdient habe.“ Auch am Ende des Romans hat Juli noch einen weiten Weg vor sich.

Titelbild

Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig.
dtv Verlag, München 2022.
320 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783423290159

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