Der Musikdirektor Hoffmann als fürsorglicher Gefährte

Andreas Ulich erschafft mit seinem historischen Roman „Benfatto“ eine liebevolle wie spannende Hommage an E.T.A. Hoffmanns Bamberger Zeit

Von Anna Christina KöbrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Christina Köbrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bamberg, im Jahr 1812: Chrys(ostomus) ist 12 Jahre alt, seine Mutter ist bereits vor Jahren verstorben, der Vater seit einer Weile auf der Flucht. Der Junge muss sich allein zurechtfinden in der hierarchisch strukturierten Gesellschaft der Kleinstadt; Hunger, Gewalt und Ohnmacht bestimmen seinen Alltag. Chrys’ Lebenssituation verschlimmert sich abermals, er wird obdachlos, als vermeintlicher Dieb immer wieder abgelehnt und verfolgt, er gerät sogar zum Ziel eines Messerangriffs. Kein Geringerer als der Musikdirektor Hoffmann nimmt sich schließlich seiner an.

Der Bamberger Schauspieler, Schriftsteller und Rezitator Andreas Ulich legt mit Benfatto einen so ansprechenden wie anspruchsvollen historischen Roman für Jugendliche und Erwachsene vor, dessen Handlung sich in E.T.A. Hoffmanns letztem Bamberger Jahr abspielt. Der Musikdirektor Hoffmann wird – gemäß der historischen Vorlage – mal in aufbrausend-manischer, mal in melancholisch-trauriger Stimmung gezeigt und tritt als Schreibender bzw. Komponierender, als begeisterter Musiklehrer, als Ehemann und als Mentor, aber auch als Jurist, als Hausmusiker in bürgerlichen Kreisen und nicht zuletzt als Verehrer seiner Schülerin Julia Mark in Erscheinung. Als väterlicher Gefährte unterstützt Hoffmann den Waisenjungen, dessen Leben zunächst unter keinem guten Stern steht, schenkt ihm Aufmerksamkeit und Trost – „[n]iemand muss sich schämen, wenn er hungrig ist. Schämen sollten sich die anderen, die dich hungern lassen!“ –, bringt ihm Lesen und Schreiben bei, regt ihn zum Nachdenken an und hilft ihm, sich besser zurechtzufinden – „denn der Mensch muss sichtbar sein, […] damit ihm endlich Gehör geschenkt werden kann.“

Zu Beginn des Romans muss der junge Protagonist quer über den hochfrequentierten Markt flüchten, nachdem sein Versuch, ein Huhn des Fleischermeisters Erlauer zu stehlen, misslingt – der Metzger und sein Komplize, der Seifensieder Georg, sollen von nun an Chrys’ Gegenspieler bleiben. Während der Flucht wird ein Großteil der zentralen Figuren eingeführt, etwa Chrys’ ebenfalls aus prekären Verhältnissen stammende Freundin Justine, aber auch die von Hoffmann und Chrys verehrte Bürgerstochter Julia Mark. Eine gesonderte Vorstellung erhält der Musikdirektor Hoffmann, den Chrys auf einem Dach sitzend und von dort aus beschriebene Blätter von sich werfend erspäht. Chrys, zu diesem Zeitpunkt noch Analphabet, sammelt die Notizen. Später, nachdem er Lesen und Schreiben gelernt hat, gibt er sie dem Musikdirektor zurück – durch Chrys’ Zutun entsteht so das Fantasiestück Don Juan, aus der Schüler-Lehrer-Verbindung wird eine Freundschaft auf Augenhöhe. Dank der Ausgestaltung der freundschaftlichen Verbindung der beiden ‚Sonderlinge‘ gelingt es Ulich, der bereits 2019 Hoffmanns Märchen Die Königsbraut für ein Bamberger Kindertheater adaptierte, dem Verhältnis des Musikdirektors zu der von ihm so oft spöttisch betrachteten Stadt Bamberg (mit ihren meist wenig kunstbeflissenen Bürger*innen) eine versöhnliche Note zu verleihen.

Erzählt wird der historische Roman, der zugleich Züge eines Kriminal- und Abenteuerromans trägt (Chrys und Just decken nach und nach die kriminellen Machenschaften des Fleischermeisters und seiner Komplizen auf), aus der Perspektive des Waisenjungen in der Ich-Form. Die Erzählung wirkt trotz des historischen Stoffes durchweg authentisch, da die Unsicherheiten und Wünsche des Jugendlichen, dem sich grundsätzliche Fragen aufdrängen – „Warum behandelt mich die Welt so schlecht?“ –, und der zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten lernen muss, einfühlsam geschildert werden.

Formal besteht der Roman aus zwei Teilen, die jeweils neun überschriebene, nicht nummerierte Kapitel umfassen. Vorangestellt ist dem Roman ein auf den 15. Juli 1822 datierter Prolog, in dem Chrys – veranlasst durch die von Michalina Hoffmann verfasste Benachrichtigung über den Tod ihres Mannes am 25. Juni – ankündigt, seine Erinnerungen an das Jahr 1812 aufzuschreiben, das er an Hoffmanns Seite in Bamberg verbrachte. Auf den Roman folgt ein Epilog, in dem Chrys im Oktober 1822 von den Auswirkungen der niedergeschriebenen Erinnerung auf seine gegenwärtige Lebenssituation berichtet. Ergänzt wird all dies durch eine Nachlese des Autors, in der u.a. Zitate aus Hoffmanns Werken kenntlich gemacht werden.

‚Hoffmanesk‘ ist Benfatto nicht nur deshalb, weil Hoffmann darin zur literarischen Figur gerät und zuweilen über eine Art Spaltung seiner Persönlichkeit nachdenkt – „wie soll ich die vielen Ichs unter einen Hut bringen?“ Zahlreiche Szenen und Motive aus Hoffmanns Erzählungen – darunter insbesondere Don Juan, Der Sandmann, Der goldne Topf, Kreisleriana, Ritter Gluck und Das fremde Kind – sowie Hoffmanns Duktus und Erzählweise fließen in Ulichs Roman ein und erzeugen einen ‚Hoffmann-Ton‘. Ähnlich wie in Hoffmanns durch seine Bamberger Jahre inspiriertem Kunstmärchen Der goldne Topf stellt der Markt in Benfatto einen Schauplatz dar, an dem sich die Wege von Stadtbewohner*innen sämtlicher Stände kreuzen, wobei das dichte Gedränge schnell zu (humorvoll geschilderter) Unordnung führt:

Ich hatte mich hinter eine Bretterwand geflüchtet, an der mehrere Reitstiefel aufgehängt waren. Von dort beobachtete ich, wie Meister Dorn, der Kerzenzieher, nach einer gewaltigen Altarkerze griff, die das Bildnis der Jungfrau Maria trug, und sie mit Wucht mehrmals auf das Haupt und auf die Schultern des Fleischers niedersausen ließ, bis er endlich merkte, wen er da verdrosch. […] Der Fleischhauer riss dem Kerzenzieher die schwere Altarkerze aus den Fingern, packte sie mit beiden Händen und brach sie mit einem Ruck mitten entzwei. Die beiden Enden ließ er umstandslos fallen, und der Teil mit dem Kopf der Heiligen Jungfrau rollte [einer] jammernden Wäscheverkäuferin direkt vor die Füße.

Wenn Chrys und der Musikdirektor Hoffmann auf dem Markt einem Apfelweib zu Hilfe eilen, nachdem ihr Apfelkorb von einem – anders als in Der goldne Topf anonymen, verwirrten – Studenten umgestürzt wurde, droht das alte Weib sowohl Chrys – „[w]enn du auch nur eines meiner Kinderchen anrührst, kratz ich dir die Augen aus und blase dir durch die leeren Augenhöhlen das Hirn aus dem Schädel, du abscheulicher Bube von einem Gauner“ – als auch dem Musikdirektor: „Du verfängst dich in alldem wie die Wespe in der Flasche Bier. Das ist dein Fall“. Und auch die Schilderung ausdrucksvoller und bizarrer Mimik verrät, wer hier Inspiration lieferte:

Hinter dem Brückenfundament tauchte ein groß gewachsener Jung mit breiten Schultern auf und kam langsam näher. […] Über die linke Wange verlief ein roter Striemen, die Narbe einer Wunde, die ihm sein eigener Vater mit der Hetzpeitsche beigebracht hatte, als er noch ein Säugling gewesen war – das erzählte man sich zumindest. Sein Haar hing ihm in langen fettigen Strähnen um das blasse Gesicht, und die große Nase hatte in der Mitte, dort wo sie der Stadtbüttel vor über einem Jahr mit seinem Knüppel gebrochen hatte, einen beachtlichen Knick. Seine schmalen blauen Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sie standen immer gerade so weit offen, dass jeder sehen konnte, dass ihm zwei Schneidezähne fehlten.

Ergänzt werden die teils überspitzt dargestellten Markt-, aber auch Salonszenen durch fantastisch anmutende Visionen, die unausweichlich an das literarische Vorbild erinnern:

Die Wolken zogen eilig dahin, und ein kühler Nachthauch stricht mir übers Gesicht. Je länger ich empor sah, umso deutlicher erkannte ich das Wappen im Innern des Monds. Erst dachte ich, es wäre ein Adler mit Krone, doch dann bemerkte ich, dass es eigentlich eine Amsel war. Sie trug einen Zylinderhut auf dem Kopf und drückte mit dem Schnabel die Tasten eines großen Pianofortes. […] Der Wind blies immer stärker, und der Vogel musste kräftig mit den Flügeln schlagen, um nicht von seinem Platz am Instrument fortgeweht zu werden. Jetzt war es ein Sturm, ein regelrechter Orkan […]. Schließlich war nicht er es, der fortgeblasen wurde, sondern das Klavier. Es zersprang in unzählige Einzelteile und wurde in alle Himmelsrichtungen zerstreut.

Bei all den Anklängen an Hoffmann und das 19. Jahrhundert trägt dieser kunstvolle und gleichermaßen fantasie- wie humorvolle Roman stets eine eigene Handschrift, und Andreas Ulich vermag zu erfüllen, was er seinem Roman als Motto in Form eines Zitates aus Hoffmanns Erzählung Die Automate in der „Nachlese des Autors“ beigefügt hat:

Nichts ist mir mehr zuwider als wenn in einer Erzählung, in einem Roman, auf dem sich die fantastische Welt bewegt hat, zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, dass auch kein Körnchen, kein Stäubchen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, dass man gar keine Sehnsucht empfindet, noch einmal hinter die Gardinen zu kucken. Dagegen dringt manches Fragment einer geistreichen Erzählung tief in meine Seele und verschafft mir, da nun die Fantasie die eignen Schwingen regt, einen lange dauernden Genuss.

Diesem gelungenen Spiel mit Versatzstücken aus Hoffmanns Leben und Erzählungen jedenfalls ist zu wünschen, dass es gerade im aktuellen Jubiläumsjahr viele Leser*innen gewinnt. Hoffmann-Kenner*innen werden mit diesem Roman ohnehin ihre Freude haben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andreas Ulich: Benfatto. Roman.
Edition Bamberger Wortkunstverlag, Ebersdorf b. Coburg 2021.
350 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783755700494

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