Vom erfolglosen Angeln in der Weichsel

Peter Lachmann fischt im Trüben bei seiner Erforschung von E.T.A. Hoffmanns Warschauer Jahren

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss den Hut ziehen vor dem Anliegen, welchem sich Peter Lachmann widmet. Der preisgekrönte Übersetzer ist nicht nur Kenner der deutsch-polnischen Geschichte, er ist auch ein Hoffmann-Enthusiast. Diese beiden Kompetenzen vereint er in seinem Buch „Ich bin ein Spieler, der das Letzte auf eine Hoffnung wagt“. E.T.A. Hoffmann in Warschau 1804–1807. Über drei Jahre lebte E.T.A. Hoffmann in der damals preußischen Stadt, und dennoch schenkte die Hoffmannforschung dieser Zeit bisher wenig Aufmerksamkeit – Lachmann selbst hält das vorhandene Bild von Hoffmann in Warschau für oberflächlich und teilweise sogar für falsch. Oft wird diese Zeit nur kurz als glücklichste in Hoffmanns Leben bezeichnet oder stellt ein überschaubares Intermezzo bis zur Fortsetzung seiner kompositorischen oder auch dem Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit in Berlin bzw. Bamberg dar. Tatsächlich widmen Standardwerke wie die von Gerhard Kaiser oder Detlef Kremer dieser Zeit Hoffmanns bestenfalls eine Seite, in Klaus Deterdings E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk werden immerhin wesentliche Aspekte wie die intensive musische und künstlerische Betätigung oder der Einfluss des Warschauer Stadtbildes auf spätere Texte auf mehreren Seiten thematisiert. Insofern ist das Anliegen Lachmanns, seit 2019 Träger der E.T.A. Hoffmann-Medaille, gar nicht genug zu würdigen. Allerdings bleiben nach der Lektüre des Buches mehr Fragen offen als zuvor. 

Zugutehalten muss man Lachmann, dass er gleich in der Vorbemerkung darauf hinweist, dass er kein Literaturwissenschaftler sei, sondern sich dem Thema eher als „intuitiver Künstler“ genähert habe. Schon stilistisch trifft das zu; Lachmann streut mal hier, mal da eine Anekdote ein, zitiert durcheinandergewürfelt aus Werken, Briefen und Tagebüchern Hoffmanns, fabuliert über mal mehr, mal weniger zum Thema gehörende Sachverhalte – seien es Lachmanns Auslassungen über Goethes Vorschlag zur Einführung der deutschen Sprache in Polen, seine Beschreibungen über den Physiker Antoni Magier, der in der Nähe Hoffmanns erstem Domizil gelebt haben soll, der Verweis auf einen Ausflug zum Theatermann Leon Schiller, der in den 1970er Jahren ein romantisches Drama inszenieren wollte, welches laut Lachmann an Hoffmann’sche Ästhetik anknüpft, oder auch die Vorstellung eines Flügels von Joseph Elsner, den Hoffmann gesehen haben soll. Lachmann schweift ab und verliert sich manchmal in überaus langen Sätzen:

Unsere ursprünglich lebhafte Unterhaltung kam ins Stocken, ich konnte mir meinen faux pas nicht verzeihen, kam mir wie ein entlarvter deutscher Kulturpatriot vor, der, statt der Vorsehung dafür zu danken, dass, wie meine Führerin unterstrich, dieses prächtige Palais nicht den deutschen Flammenwerfern restlos zum Opfer gefallen sei und man am Beispiel dieser Malerei die Tendenz zur Italienisierung, nachgerade Römisierung Warschaus nachweisen könne, Hoffmanns völlig unbekannten Wandmalereien al fresco in die Schale der immensen Verluste der Stadt wirft.

Das wäre erträglicher, wenn es denn ansonsten immer wieder Passagen gäbe, die nüchterner, wissenschaftlicher ausfielen – bezeichnet sich das Buch doch selbst als „Studie“. Leider sucht man solche Abschnitte vergebens.

Hoch anrechnen kann man ihm dennoch, dass er – selbst seit Jahrzehnten in Warschau lebend – versucht, sich in das Lebensumfeld hineinzudenken. So will er seine zentrale These, Hoffmanns späterer künstlerischer Weg sei durch den Aufenthalt in Warschau maßgeblich geprägt worden, belegen. Das Problem besteht allerdings darin, dass es zu und von Hoffmann in Warschau kaum Literatur oder Belege gibt. Und so wirft Lachmann seine Netze aus wie einst der Fischer Warsz, nach dem die Stadt der Legende nach benannt wurde, fischt im Trüben und versucht durch möglichst große Netze noch das kleinste Fischlein mit Bezug zu Hoffmann zu fangen. Diese Herangehensweise mag angesichts der dürftigen Quellen zwangsläufig sein, wirkt aber an vielen Stellen konstruiert. So betrachtet Lachmann eine Orgel, auf der Hoffmann gespielt haben soll, und wähnt sich deswegen im Augenkontakt mit ihm. Er nimmt Bezug auf die Gestaltung einer Postkarte mit getöteten polnischen Freiheitskämpfern und vergleicht diese mit den Illustrationen auf dem Einband der Erstausgabe von Hoffmanns Meister Floh, obwohl das Werk 40 Jahre vor dem Tod der Kämpfer entstanden ist. Er verknüpft einen Ballonflug im Mai 1789 im Garten des Mniszek-Palais mit einer über 30 Jahre später erschienenen Erzählung Hoffmanns. Er hört in Hoffmanns Grand Trio in E-Dur einen Krakowiak, einen polnischen Volkstanz, heraus. Er will in einer Birkenrinde im Lazienki-Park den Kater Murr entdeckt haben. Er stellt seitenlang Mutmaßungen über eine polnische Geliebte an und denkt laut darüber nach, was Hoffmann wohl in Warschau geträumt haben könnte. Oft genug gesteht Lachmann, dass er hier spekuliert habe: „Wie auch immer, man weiß nichts […]“ oder „[d]as entzieht sich unserer Kenntnis“ – überhaupt liebt Lachmann den Konjunktiv, um Vermutungen über Hoffmanns Handeln zu äußern.

Ein durchaus spannendes Kapitel zu Hoffmanns Das Gelübde, seiner „polnischen Novelle“, wie Lachmann sie nennt, wird durch eine ausführliche Beschreibung der polnischen Geschichte auf fast 100 Seiten ausgedehnt.

Das Buch hat ohne Zweifel seine Stärken. Lachmann beschreibt sehr eindrücklich die Wohnorte und Wirkungsstätten Hoffmanns in Warschau. Sehr aufschlussreich ist zudem das Kapitel über die von Hoffmann mitgegründete Musikalische Gesellschaft, aus deren Satzung Lachmann sogar zitiert. Kontrovers, aber nicht uninteressant ist seine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit Hoffmanns als Regierungsrat – hier wehrt sich Lachmann vehement gegen den Antisemitismus-Vorwurf, dem Hoffmann mittlerweile ausgesetzt ist. Auch der Abschnitt über das Verhältnis von Hoffmann und Hitzig ist anregend, und wenn Lachmann den Spuren des von Hoffmann wohl gemalten, aber inzwischen verschwundenen Freskos nachgeht oder ergründet, warum Hoffmann in Warschau nichts geschrieben hätte, dann ist das mitunter mitreißend. Leider sind diese Passagen zu selten. Die wirklich spannenden Aspekte versteckt Lachmann tief in seinem Werk, dabei hätte das Thema es verdient, lesbarer behandelt und verbreitet zu werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Lachmann: „Ich bin ein Spieler, der das Letzte auf eine Hoffnung wagt“. E.T.A. Hoffmann in Warschau 1804-1807.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
384 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826074509

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