Verspielte Ernsthaftigkeit

Jelena Schwarz dichtet in „Buch auf der Fensterbank“ fantasievoll, kritisch und lebensnah

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jelena Schwarz, die von 1948 bis 2010 lebte, dichtete im Untergrund, verborgen vor der Welt, insbesondere vor den Machthabern der Sowjetunion. Verbreitet wurden ihre Texte überwiegend durch Schreibmaschinenkopien. Im deutschen Sprachraum blieb sie auch nach 1989 weithin unbekannt, zumal es offensichtlich nicht einfach war, ihr poetisches Werk ins Deutsche zu übersetzen, ohne den mitunter verspielt anmutenden Eigensinn ihrer Dichtungen zu verformen. Das Problem ist nicht neu, hier wird es aber neu offensichtlich und bewusst: Übersetzungen von Gedichten sind eine literarische Herausforderung besonderer Art. Oleg Jurjew, der Vater des Übersetzers Daniel Jurjew, schreibt über die poetische Kunst der Dichterin:

Zu dem, der sie liest, ist die Dichtung von Jelena Schwarz, im Unterschied zu den meisten anderen Beispielen ernsthafter Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts, überaus gnädig. Sie unterhält ihn und lehrt ihn etwas, sie erzählt ihm vor dem Einschlafen Schauermärchen und tröstet ihn letztendlich. Tritt mit ihm in einen spielerischen Dialog (biedert sich aber nicht an).

Von „siamesischen Fünflingen“ berichtet Jelena Schwarz und von „Ungeheuern des Zwielichts“, die vor Wünschen förmlich brodelten, von der Sprachmacht der Gedichte, die sich zwanghaften Ordnungsprinzipien entzögen: „Gestern, während du schliefst, / Kreisten sie / Über dem Bettkopf.“ Doch nicht fantastisch entrückt, traumhaft verstiegen sind diese Verse gedacht und geformt, denn das lyrische Ich weist alle Regimenter der verstockten Borniertheit und Saturiertheit sogleich ab. Gegen die Dressurabsichten jeglicher Art und alle einengenden Schulmeistereien artikuliert sich poetischer Unmut:

In euch besiegt
Die Gelehrsamkeit alles, ob Liebe, ob Zärtlichkeit,
Einen Menschen wollt ihr züchten,
Der einem Bonsaigarten gleicht.

Lesend mögen wir hier den inwendigen Trotz entdecken, den hartnäckigen Widerstand gegen so manche Zuchtmeister, auch gegen jene, die alles Wachstum beschneiden und kontrollieren möchten, sich vor Leidenschaften fürchten und Menschen nur nach einem eigenen Maßstab „züchten“ wollen, orientiert an ihrer Pädagogik der Engherzigkeit. Wer ein „eisiges Herz“ hat, der agiert auf diese Weise. Die Lyrikerin wehrt sich poetisch:

Ich aber bin bald am Ende meiner Prüfung
Und reise ab, zu den Himmelssteppen.

Jelena Schwarz wählt auch besondere Bilder, farbig und prächtig, etwa wenn sie von den „rostigen Schnappeisen des Todes“ und dem „seidenen Fangnetz des Lebens“ spricht. Sie erwägt, ob es ein „himmlisches Geheimwissen“ geben könnte – und wendet sich von hohen Gedanken sogleich wieder spielerischen Versen zu, fern aller Metaphysik und Transzendenz. So fabuliert Jelena Schwarz über eine lustvolle Geschichte, der es an Bitterkeit nicht mangelt. Ein Gardeleutnant wurde zu Katharina der Großen gerufen, und während er die junge, „nackte Kaiserin“ umschlang, den „erlauchten Bauch“ küsste, sagte er ihr, dass er eine andere Frau begehrte und liebte – die Zarin befahl ihm bleich, diese zu heiraten. Zehn Jahre später „verprügelt er sein duldsam sanftes Weib“ und denkt an Katharina zurück: „Zur Hochzeit kam die Zarin bunter als ein Pfau.“ Diese lyrische Geschichte bleibt verwickelt, die Beziehung zur „scharfen Zarenkrone“ unmöglich, auch unvernünftig. Die „Große Katharina“ hatte das Kommando, sprach: „Herein!“ – kontrolliert, mit der Geste der Herrscherin, die der Gardeleutnant doch nicht lieben konnte:

Doch kann ein Reich verliebt sein,
Und kann man denn ein Land umarmen,
Indem man eine Frau umarmt?

Auch wer Macht hat und ausübt, bleibt, so scheint es, ohnmächtig und, wie hier vermutet, unglücklich. Ein unglückliches Los ist auch der Ehefrau des Gardeleutnants zuteil geworden. Diese Geschichte konnte nicht gut ausgehen. Die Lyrik von Jelena Schwarz erscheint besonders und eigensinnig, sie malt gewissermaßen ihre eigenen Bilder und sträubt sich gegen die Formen der Gewalt mit einer Sprache, die nach Offenheit sucht, während sie zugleich weiß, dass es weder menschenfreundlich noch gütig zugeht auf der Welt. Nicht einmal der Humor tröstet, trotzdem flackert er stets wieder auf und lädt alle Lesenden ein, für Momente nur zu schmunzeln – etwa wenn die Dichterin uns Cynthia vorstellt, eine Heldin der Elegien des römischen Dichters Properz, berühmt für ihr Talent, aber auch für ihren „schlechten Charakter“. Jelena Schwarz schreibt: „Ihre Gedichte sind nicht erhalten, aber ich habe trotzdem versucht, sie ins Russische zu übersetzen.“ Sie lässt einen Griechen über Schnee im Juli sowie über den verborgenen Sinn der Farben dichten und deren geheime Bedeutung. Die ungeschmeidige Cynthia erkennt den poetischen Kitsch und erwidert:

Schnee kann nicht im Juni plötzlich fallen,
Regen strömt nicht trüb im Januar.
Ein armseliger und alberner Schönschwätzer bist du.
Und von diesen ganzen Reden
Ist mir die ganze Seele schwarz geworden.

Diesen Ton vernehmen wir in der Dichtung selten, auch darum lässt sich sagen: die Poesie von Jelena Schwarz ist eine späte Entdeckung. Ihre Lyrik verzaubert nicht, vermag aber Blickrichtungen zu öffnen und zu verändern, ob auf Machtverhältnisse im zaristischen Russland und anderswo oder auf eine als weltentrückte Schöngeisterei maskierte Dichtung. Dichten und schreiben, so lernen wir mit Jelena Schwarz, steht unausweichlich in Bezug zur Wirklichkeit dieser Welt.

Titelbild

Jelena Schwarz: Buch auf der Fensterbank. und andere Gedichte.
Herausgegeben und aus dem Russischen von Daniel Jurjew.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
120 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783751800761

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