Geheimer Legationsrat aus Preußen und englischer Blaustrumpf in den Fängen des pädagogischen Eros

Peter Sprengel erzählt die Geschichte von August von Varnhagens Briefwechsel mit Charlotte Williams Wynn

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit der Biographie eines schreibenden Menschen aus dem neunzehnten Jahrhundert befasst, stößt früher oder später auf die rücksichtslose Praxis einer vielleicht dezenteren Zeit, die das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse ebenso wie den Unterhaltungswert von Klatsch und Tratsch empfindlich einschränkt: die Briefverbrennung. Absender verlangen bei Ableben des Empfängers die Originale zwecks Vernichtung zurück, die Beseitigung der Briefe wird in Testamenten festgelegt, Nachkommen bewahren den guten Ruf des Verstorbenen auch ganz ohne Anweisung, indem sie Korrespondenzen verschwinden lassen oder – wenn sie zum Oeuvre gehören – gekürzt und bearbeitet in Druck geben. Da loben wir uns die Erben Charlotte Williams Wynns, die den handschriftlichen Vermerk „to be burnt“ auf den Briefen Karl August Varnhagens (1785–1858) ignorierten. Peter Sprengel schafft anhand des Briefwechsels des ehemaligen preußischen Diplomaten und der 22 Jahre jüngeren Tochter eines walisischen Parlamentariers durch kluge Verflechtung, faktenreiche Kommentierung und gelegentliches Unterlaufen der Chronologie ein Bild der Schreibenden, ihrer Zeit und ihrer Gesellschaften.

Charlotte Williams Wynn lernte Varnhagen, Witwer nach Rahel, im Jahr 1836 auf einer Familienfahrt durch Deutschland kennen. Ihr Vater Charles Watkin William Wynn besuchte in Begleitung seiner Frau sowie seiner Töchter und Nichten die Kurbäder in Ems und Wiesbaden. Die Begegnung auf dem Rheinschiff begründet die Jahrzehnte andauernde Brieffreundschaft, „Briefliebe“ heißt es im Untertitel des Buches. Es ist insofern ein ungewöhnlicher Briefwechsel, als der eine auf Deutsch und die andere auf Englisch schreibt. Sprengel schätzt, dass um die tausend Briefe zwischen den beiden gewechselt wurden. Es sind große Verluste zu beklagen, so manches rekonstruiert der Autor aus den Antworten, gelegentlich bleibt nur die psychologisch plausible Spekulation.

In diesen letzten Bereich fällt auch die Vermutung, dass Varnhagens erste Affizierung der charmanten und lebensfrohen Mutter galt, die ihn an der familiären Geselligkeit auf der Reise und im Kurbad teilhaben ließ und die bereits zwei Jahre nach dieser einzigen Begegnung starb. Der Briefwechsel zwischen Charlotte Williams Wynn und Varnhagen, der sich nach wenigen gemeinsam verbrachten Wochen entspinnt, steht von Anfang an unter dem Vorzeichen des pädagogischen Eros, denn Varnhagen bringt Wynn Deutsch bei, zuerst persönlich, dann aber vor allem indirekt in seiner Funktion als Schriftsteller, dessen Bücher sie im Original lesen möchte. Bereitwillig schenkt und schickt Varnhagen ihr seine Bücher, aber auch die anderer Autoren. Beeindrucken konnte er die Engländerin nicht nur durch seine publizistische und biographische Tätigkeit, sondern auch durch seine Bekanntschaften in der großen Welt, seine frühere Bedeutung auf dem diplomatischen Parkett und selbstverständlich als getreuer Bewahrer und Mehrer des intellektuellen Nachruhms seiner verstorbenen Frau Rahel Levin. Wer mit einem geborenen und gar nicht zurückhaltenden Chronisten und exzessiven Autographensammler korrespondiert, muss aber auch darauf gefasst sein, dass jede Zeile Veröffentlichungspotential besitzt.

Varnhagens militärische und diplomatische Umtriebigkeit bis in die Zeit nach dem Wiener Kongress hatte allerdings nicht zur Folge, dass er es zu Reichtum und hohen Ämtern brachte. Und so gilt er der Familie Wynn nicht als gute Partie, als er 1839 einen ziemlich verqueren Brief mit einem halbherzigen Heiratsantrag an Charlotte schickt. Dem Antrag war die zweite persönliche Begegnung vorausgegangen, traute Spaziergänge im sommerlichen Kurgarten von Wiesbaden inklusive. Aus diesem Idyll flieht Varnhagen nach Berlin, wo er sich einsam fühlt. Schon auf der Reise dorthin schreibt er sich seine ambivalenten Gefühle von der Seele und schließlich einen Brief, in dem er um Charlotte Wynns Hand anhält und gleichzeitig alle möglichen Hinderungsgründe gegen eine Heirat anführt. In seinem, der Geschichte rund um das „grüne Blatt“ – das ist die Farbe des von Varnhagen für den Heiratsantrag verwendeten Briefpapiers – gewidmeten Kapitel („Tasso in Wiesbaden 1839/40“) zeigt Sprengel anschaulich, wie schlecht die äußeren Bedingungen für dringliche Kommunikationsbedürfnisse wie Liebesgeständnisse, Selbst- und Fremdversicherung und Heiratsanträge um 1840 waren.

Zwei Wochen nach dem Antrag trifft Wynns Absagebrief mit Begründung ein, im Original wie alle ihre Briefe auf Englisch. Hier spricht eine selbstbewusste, kluge Frau, die sich in einen ebenso klugen aber weitaus beleseneren und erfahreneren Mann verliebt hatte, vielleicht aus Bewunderung, den zu heiraten sie sich aber nicht vorstellen konnte. Und das nicht nur aus den äußeren Gründen, die ihre Familie anführte (zu wenig Geld, an Preußen gebunden, ohne repräsentatives Amt), sondern weil sie den Gedanken an Heirat für sich bereits prinzipiell verworfen hatte – wenngleich sie unter Umständen bereit gewesen wäre, den Entschluss für Varnhagen zu revidieren.

Bei Lektüre des ersten Kapitels des Buches („Annäherung 1836–1839“) könnte der Eindruck entstehen, der Fünfziger Varnhagen wäre auf dem Rheinschiff einem Mädchen im besten Heiratsalter begegnet, aber Charlotte Williams Wynn war keineswegs mehr jung. Mit fast 30 galt sie bereits als schwer vermittelbar, aus späteren Selbstaussagen erfahren wir, dass sie, vorgeblich aus Schüchternheit, auf ihre englischen Bewerber arrogant wirkte, und dass sie zu Hause nicht unter die Haube zu bringen war, dürfte für die beiden jüngeren Schwestern für einige Zeit durchaus problematisch gewesen sein. Zwar enthält Wynns Absage auf Varnhagens Antrag das Eingeständnis, dass sie in ihn verliebt sei, ihm das auch signalisiert habe. Das sei aber ganz unabhängig von einer gemeinsamen Zukunft erfolgt. Indem sie von sich in der dritten Person spricht, stellt Wynn eine Distanz her, die ihre Ablehnung vielleicht abmildern soll, auf jeden Fall wirkt es wie die Bestätigung, dass sie trotz entflammter Liebe an ihrem Plan festhält. Sie schreibt, Varnhagens Heiratsantrag habe sich an eine Frau gerichtet, „who said she wished never to marry an Englishman, but would prefer living in Germany alone, and that is I believe my real wish“. Das ist ein Lebensentwurf, den Wynn nicht verwirklichen kann, schon hatte sie ihren Platz und ihre Aufgabe in der Betreuung des kranken Vaters und der Unterstützung der jüngeren (verheirateten) Schwestern gefunden, eine Bestimmung, die ihr, wie spätere Briefe zeigen, immer wieder zu viel abverlangte und sie an dem hinderte, was ihr wichtig war: zu lesen, zu reisen, sich zu bilden.

Die Briefe Varnhagens und Wynns sind auch bei und nach der Klärung der Heiratsfrage von Verehrungsrhetorik und Wertschätzung geprägt, für Varnhagen ist mit der Ablehnung aber auch seine Identität als Rahel-Witwer wieder intakt, ebenso wie jene als penibler Verwalter seines Lebens. Die nächste Begegnung der beiden im Sommer 1840 ist konfliktträchtig, denn es kann Wynn nicht entgehen, dass Varnhagen sich keine Mühe gegeben hat, doch noch zum für die Familie akzeptablen Heiratskandidaten zu werden. Varnhagen seinerseits ist beleidigt, weil Wynn eine Deutschstunde mit ihm verpasst – was wohl auf beiden Seiten für deutlich mehr steht. 

Ein interessantes Bild von der ambivalenten Position des ehemaligen preußischen Diplomaten und Konservativen ohne Überzeugung in den Jahren vor der Revolution 1848 bietet Sprengel im dritten Teil des Buchs mit dem Titel „Gesellschaft im Wandel 1840–1847“. Hier kommen auch die Geschlechterrollen der beiden Schreibenden zur Sprache, die weibliche Rolle, die Charlotte Williams Wynn selbstverständlich für sich angenommen hat und qua derer sie sich für die Beziehungs- und Betreuungsarbeit in der Familie zuständig fühlt. Aber auch ihre Lektüre von frauenemanzipatorischer Literatur. Varnhagen zeigt sich quasi protofeministisch, wenn er fordert: 

Dem, was Sie über den neuesten Roman der Gräfin von Hahn [Ida von Hahn-Hahn] sagen, stimme ich zu, besonders Ihrem geistvollen Ausspruche, daß die wahre Emanzipation der Frauen in ihrem Gewissen liegt; indeß find‘ ich es billig, daß die Einrichtung der Welt dem Gewissen etwas zu Hülfe komme.

Die letzten zehn im Buch dargestellten Jahre sind von politischen und privaten Umbrüchen von großer Tragweite gekennzeichnet. Die revolutionäre Begeisterung reißt Varnhagen einige Zeit mit. Ein Gast aus Wien, die Lyrikerin Betty Paoli, berichtet 1849, Varnhagen sei „ganz und gar des Teufels geworden und vergöttert jetzt das ‚große, majestätische‘ Volk, ganz ebenso wie früher Titel und Ordensbänder“. Sie schreibt das einem Gefühl der Zurücksetzung durch die Regierenden zu. Gegen Ende seines Lebens erfährt Karl August Varnhagen dann doch noch Anerkennung von höchster Stelle. Für Charlotte Williams Wynn ändert sich durch den Tod ihres Vaters im Jahr 1850 alles, das Londoner Familienhaus wird verkauft und sie begibt sich auf Reisen und besucht auch Varnhagen in Berlin. Als dieser 1858 stirbt, empfindet sie das trotz der seit Jahren immer größer gewordenen Distanz als schweren Schlag und großen Verlust, wie aus ihrem Brief an die Nichte und Nachlassverwalterin Varnhagens, Ludmilla Assing, hervorgeht. Die im Text in deutscher Übersetzung zitierten Briefe im Anhang im Original abzudrucken, war eine gute Entscheidung.

Sprengels Buch ist nicht nur ein Doppelporträt und eine Würdigung der beiden Briefpartner, es bietet eine ganze Reihe von Miniaturen, die die bewegte Zeit um 1850 mit zahlreichen Fundstücken zu Politik und Kultur illustrieren. Nicht jeder Leser und nicht jede Leserin wird mit den Feinheiten des englischen Parlamentarismus oder dem Namen der Spedition, bei der Charlotte ihre Bücher einlagert, etwas anzufangen wissen, aber es gelingt dem Autor auch bei seinen Abschweifungen immer wieder, den roten Faden der Erzählung rund um seine Hauptfiguren aufzugreifen. Und so bleibt ein leises Bedauern darüber, dass die beiden nicht zusammengefunden haben, und zugleich der Zweifel, ob ihnen das wirklich zu wünschen gewesen wäre.

Titelbild

Peter Sprengel: Karl August Varnhagen und Charlotte Williams Wynn. Eine deutsch-englische Briefliebe um 1850.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
426 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351844

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