Das Prachtexemplar eines Löwen

Die Feuilletons des baltischen Grafen Eduard von Keyserling: Glanzstücke der Kunstkritik

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für seine Zeitgenossen war Eduard von Keyserling (1855–1918), der aus dem Kurland kam, alleweil der „baltische Graf“. So nannte man ihn schon immer und weiterhin, auch als er sich nicht länger um die Güter seiner Familie kümmerte, nach München übersiedelte (1895) und dort in den Kreisen der Schwabinger Bohème verkehrte. Er war und blieb dabei höchst angesehen, im konservativen wie im linksliberalen Lager. Lou Andreas-Salomé und Rudolf Kassner schätzten ihn, Robert Walser und Kurt Tucholsky bewunderten seine Arbeiten. Und unter den Trauergästen, die sich am 30.9.1918 zu seiner Beerdigung einfanden, war auch Rainer Maria Rilke. Die Rede am offenen Grab hielt Max Halbe, sein treuester Freund schon seit der Jahrhundertwende. Es soll damals in Strömen gegossen haben. Thomas Mann notierte im Tagebuch: „Telegramm der Frankf. Zeitung wegen Nachruf für Keyserling. Sehr fatal.“ Es vergingen danach noch etliche Tage, bis er diesen Artikel endlich fertig hatte.

Früh an Syphilis erkrankt, zog sich Keyserling ein schweres Rückenmarksleiden zu. Seit 1906 war er völlig blind, seit 1912 an den Rollstuhl gefesselt. „Die faszinierende Häßlichkeit dieses baltischen Grafen“, die Franz Blei beobachtet hat, ist in nahezu allen Charakterisierungen Keyserlings festgehalten; und auch das Porträt von Lovis Corinth, ein Gemälde der Münchner Neuen Pinakothek, widerspricht diesem Befund mitnichten. Es mag ja gut gemalt sein, soll sich Keyserling einmal dazu geäußert haben. Nachsatz: „So aussehn aber möcht ich lieber nich.“ Er wollte allerdings auch keineswegs so aussehen wie Stefan George. Als dieser 1904 auf Dichterfesten des Münchner Faschings als Dante Alighieri verkleidet erschien und Keyserling, der ihn gut kannte, gefragt wurde, ob dessen Physiognomie wirklich an Dante erinnere, antwortete er: „Nein, er sieht nicht aus wie Dante; er sieht aus wie eine alte Dame, welche wie Dante aussieht.“ – Trockener Humor, eine gewisse Gelassenheit, auch wenn es einmal ringsum ziemlich brodelt, vor allem jedoch ein nie nachlassendes Bemühen, sich immer einen eigenen Reim zu machen in der Betrachtung der Kunst wie in der Betrachtung der Welt: Alle diese Ingredienzien zeichnen seine Feuilletons, seine Korrespondenzen, seine Grundanschauungen aus.

Schon sein erster Roman, Fräulein Rosa Herz, erschienen 1887, enthält eine fulminante Kampfansage an alle Krämerseelen und Tugendwächter des späten 19. Jahrhunderts und kann sich somit ohne weiteres einen Platz neben Fontanes Effi Briest behaupten. Mittlerweile sind seine Erzählungen und Romane wieder in bibliophilen Ausgaben erhältlich; und endlich liegen nun auch seine gesammelten Feuilletons in einer wohlfeilen Studienausgabe vor, in einer Ausgabe, die in vielem als erstklassiges Schulbeispiel für ähnlich gewichtige Ausgrabungsarbeiten und Editionsprojekte gelten kann.

Die Feuilletons Keyserlings sind zunächst in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, namentlich in München, Wien und Berlin. In dieser Ausgabe werden sie in vier Abteilungen untergebracht: Kunst und Ästhetik, Bühne und Buch, Leib und Seele, Texte zum Ersten Weltkrieg. Akribische Quellenangaben und die denkbar sorgfältigsten Kommentare (auf mehr als 100 Seiten) verweisen auf den Stellenwert der Feuilletons im Gesamtwerk des Autors sowie im Kontext seiner Zeit. Sie korrigieren unzählige Fehler in den ersten Druckfassungen, darunter viele falsch wiedergegebene Titel und Namen (z.B. Aodels Dänenlandschaften > Crodels Dünenlandschaften), sie erläutern die Bedeutung diverser Begriffe im Zusammenhang der Zeit (wie ‚Rasse‘, ‚Antisemitismus‘, ‚Jewish Art‘), sie verzeichnen die für Keyserling zentralen Bezugstexte und Bezugspersonen und sie unterstreichen schließlich den Eigenwert dieser nicht-fiktionalen Texte, die keineswegs nur im Hinblick auf die Werkpoetik des Autors von Interesse sind.

Schon der erste dieser Texte, 1885 in Wien in der Deutschen Wochenschrift erschienen, ist ein Glanzstück der zeitgenössischen Kunstkritik: Die Kunst des Traumes und der Traum der Kunst. Keyserling vergleicht darin die Wirkung des Traums (sofern dieser den Schatz des Erlebten aufstockt) mit der Wirkung des Kunstwerks. In beiden Fällen werde der Faden des Lebens unterbrochen, ein „fremdes Wesen“ in das eigene aufgenommen und damit ein Ansporn gegeben, sich von dem gewohnten, dem „alten Leitseil“ wenigstens für eine Weile, wenigstens probeweise  abzuwenden. Wo immer die Kunstavantgardisten anecken, insbesondere in der Frage, was in der Kunst erlaubt und was nicht erlaubt ist, bringt Keyserling dieses „Leitseil“ wieder ins Spiel. In den Ausstellungen der Münchner Secession entdeckt er Anlässe über Anlässe, scheinbar schon unverrückbare Urteile der Kunst- und Literaturgeschichte zu revidieren, also über alte Meister wie über junge Künstler und deren Rezeption neu nachzudenken.

Mit manchen Malerfürsten, die man in München schätzt, tut er sich schwer, mit Franz Stuck zum Beispiel; giftig wird er in seinen Kommentaren jedoch nie. Denn er versucht  in jedem Fall behutsam zu rekonstruieren und angemessen zu würdigen, was sich der Künstler seinerzeit vorgenommen hat. Dabei kommt er vielfach vom Konkreten ins Universelle, die Titel seiner Beiträge deuten dies oft an: Das Laienurteil. Das Nackte in der Kunst und Constantin Meunier. Tizians himmlische und irdische Liebe und der Platonismus. Moderne Grabmäler. Die Griechen,die Malerei der italienischen Renaissance, Albrecht Dürer und Jan Vermeer bieten ihm immer wieder feste Bezugspunkte, Neuerungen zu messen und vor allem aus Bildern auch ganz Anderes herauszulesen als die eigene Erregtheit. Im Bereich der Philosophie und der Literatur aber setzen aus seiner Perspektive Friedrich Nietzsche und Henrik Ibsen, „seit Sokrates die genialsten Fragensteller“, die fundamentalen Maßstäbe.

Als Fragensteller sieht sich auch Keyserling; und was nach seiner Ansicht auf den Prüfstand gehört, das stellt er drauf. So sträubt ersich beispielsweise, bei aller Wertschätzung, Martin Bubers Vorstellungen einer „Jüdischen Kunst“ zu übernehmen und dessen Bemühungen, „ein bewusst jüdisches Kunstpublikum zu schaffen, das seine Künstler kennt und liebt“, beizupflichten. In den Werken von Max Liebermann sieht er den in seinem Verständnis nicht nachvollziehbaren Gegensatz zwischen „jüdischer“ und „nationaler“ Kunst aufgehoben; und „Nervenempfindlichkeit“ ist aus seiner Sicht keine „Rassebesonderheit“, vielmehr ein Merkmal der neuen Generation ganz generell.

Er verkennt keineswegs das Dunkle und Bedrohliche, das Hässliche in der Welt, aber der Literatur schreibt er trotzdem die Hauptaufgabe zu, die „Schönheit“ im Auge zu behalten, einen deutlichen Abstand zu wahren vom kalten Dasein: „Durch die Welt gehen und die Kostbarkeiten des Lebens sammeln, aus dem Unbedeutendsten noch das Bedeutsame, aus dem Vergänglichsten noch das Ewige herauslesen, das ist eigenstes Poetenhandwerk.“ Mit diesem Bekenntnis eröffnet Keyserling einen Aufsatz über Irene Forbes-Mosse, geborene Komtesse von Flemming, eine Enkelin von Bettina und Achim von Arnim – eine Anregung (unter vielen anderen), inzwischen längst vergessene oder, wie in diesem Fall, im Dritten Reich verbotene Bücher wiederzuentdecken.

Die Erfahrung des Krieges betrachtet auch Keyserling zunächst einmal (jedenfalls im Herbst des Jahres 1914) als Chance; als Chance, die „Sonderinteressen“ der Einzelnen zurückzustellen, der scheinbar längst festzementierten Vereinzelung entgegenzutreten. Noch anlässlich der Zerstörung der Kathedrale Notre-Dame de Reims ringt er sich, wie viele andere Intellektuelle damals auch (Thomas Mann zum Beispiel oder Alfred Döblin) zu einer ungeschminkten Rechtfertigung durch: „Die Kunst steht hoch, doch das Vaterland steht höher.“ In einem Essay Über den Hass (erschienen in: Der Tag, Berlin, 8.12.1916; mehrfach nachgedruckt) greift Keyserling indessen Schlagworte der deutschen wie der französischen Kriegspropaganda auf, um diesen am Ende (s)ein monumentales Wunschbild entgegenzuhalten. „Sich hasserfüllt, eigensinnig gegen das Fremde abzuschließen, ist dem Deutschen nicht möglich.“ Das Ende des Krieges hat er nicht mehr miterlebt.

Fünf kleine Erzählungen, vertrackte Liebesgeschichten darunter, die wiederum seine Sympathien für die Ausgestoßenen verraten, sowie Briefe von und an Keyserling ergänzen den Hauptteil dieses Bandes, die Sammlung der Feuilletons. Es versteht sich, dass in den Korrespondenzen wiederholt der Gesundheitszustand Keyserlings das zentrale Thema ist. Dieser ist selten gut, häufiger, das heißt: bestenfalls – so der Patient selbst – „nicht besonders schlecht“. Im Übrigen vielfach im Mittelpunkt: die Freundschaft mit Max Halbe einerseits und die spannungsreiche Beziehung zu Frank Wedekind andererseits.

Ein Bildteil mit Keyserlings Randnoten, eine ausführliche Chronik (die hin und wieder Tag für Tag auf Aufzeichnungen des Autors oder seiner Angehörigen und Freunde zurückweist, dann aber wieder Jahre im Zwielicht oder ganz im Dunkeln lassen muss), der vorzügliche Kommentar, ein informatives Nachwort, Personen- und Werkregister und ein Literaturverzeichnis schließen den Band ab. Allein eine einzige Vorkehrung der Herausgeber ist nicht ganz einsichtig: die Entscheidung nämlich, die Feuilletons und Prosa-Texte in die heute gültige Orthografie zu setzen; spräche doch nicht weit mehr, ja alles eigentlich dafür, das Authentizitätsprinzip zu respektieren und den Texten die Aura der Entstehungszeit an keiner Stelle wegzunehmen?

Zuletzt bleibt dieses Fazit: Die Herausgeber haben mit ihrer Ausgabe zunächst einmal Studien und Feuilletons zusammengetragen, die keineswegs nur für die Keyserling-Gemeinde aufschlussreich und faszinierend sind. Denn in allen diesen Texten wird ein Schriftsteller wahrnehmbar, „das Prachtexemplar eines Löwen“ (Robert Walser), dessen Lebenserfahrung, dessen Kunst- und Literaturverständnis, dessen eigenständige und doch ganz unprätentiöse Art zu formulieren seine Leser/innen nie mehr loslässt. Darüber hinaus aber vermittelt diese Studienausgabe in ungemein beeindruckender Manier, was unermüdliche, gründliche Recherchen in Bibliotheken und Archiven doch nach wie vor zutage fördern können: dass es da keineswegs (wie schon ein Zeitgenosse Keyserlings, nämlich Filippo Tommaso Marinetti, vermutet hat) nur altes Eisen gibt, das rechtzeitig auszusondern und wegzuwerfen man versäumt oder vergessen hat, sondern unter all dem Aufbewahrten auch altes Silber und besonders kostbares, altes Gold.
 

Titelbild

Eduard von Keyserling: Kostbarkeiten des Lebens. Gesammelte Feuilletons und Prosa.
Hg. von Klaus Gräbner und Horst Lauinger. Unter Mitarbeit von Reinhard Oestreich und Jochen Reichel. Nachwort von Lothar Müller.
Manesse Verlag, München 2021.
910 Seiten, 32 ungezählte Seiten Tafeln, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783717525042

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