Kampf um Israel
Jeffrey Herfs Buch über „Israels Moment“ überrascht mit neuen Erkenntnissen über die Anfänge des Nahostkonflikts
Von Matthias Küntzel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGerade noch rechtzeitig hatte Ernst W. Herf Deutschland 1937 verlassen können. Nicht zufällig sind die Bücher seines Sohnes, des renommierten amerikanischen Historikers Jeffrey Herf auf den Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen fokussiert. 2019 erregte seine Studie über Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke, 1967-1989 hierzulande Aufsehen. Zuvor hatte er unter dem Titel Zweierlei Erinnerung den west- und ostdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit analysiert. Seine Bände über die Spezifik des NS-Antisemitismus (The Jewish Enemy – 2006) und dessen arabischsprachige Propaganda (Nazi Propaganda for the Arab World – 2009) harren noch der Übersetzung.
In diesem Jahr nun erschien in den USA Herfs 500-seitige Studie Israel’s Moment. International Support for and Opposition to Establishing the Jewish State, 1945-1949. Auch dieses Buch hat mit Deutschland, wenn auch indirekt, zu tun: Es analysiert in 14 chronologisch angelegten Kapiteln die Schlussfolgerungen, die die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Nahen Osten aus den vorausgegangenen Ereignissen zogen, und berührt die hierzulande besonders heftig geführte Debatte über Israel und den Holocaust. Herf hat für diese Studie zahlreiche, bislang unbekannte Dokumente aus amerikanischen und französischen Archiven ausgegraben und ganze Jahrgänge zeitgenössischer Zeitschriften studiert. Sein Buch liefert eine Fülle neuer Einsichten, die auch für das Verständnis der Gegenwart wichtig sind.
Von der Anti-Hitler-Koalition zum Kalten Krieg
1945 bis 1949: In diesen vier Jahren verblasste die Anti-Nazikoalition der Alliierten; an ihre Stelle trat der Kalte Krieg. Ein letzter Höhe- aber auch Schlusspunkt der sowjetisch-amerikanischen Zusammenarbeit wurde am 29. November 1947 mit dem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen gesetzt, der die Schaffung eines jüdischen und eines arabischen Teilstaats für Palästina vorsah. Doch schon bei der Umsetzung dieser Entschließung begannen Ost und West getrennte Wege zu gehen.
Hier aber setzt Herfs Studie einen ersten aufklärerischen Impuls. Bislang reproduzierte auch die deutsche Linke jahrzehntelang das PLO-Mantra, wonach „der Zionismus … organisch mit dem Weltimperialismus verbunden ist und sich gegenüber allen Befreiungs-und Fortschrittsbewegungen der Welt feindlich verhält“ (Palästinensischen Nationalcharta von 1968). Prozionismus galt als „reaktionär“, Antizionismus als „progressiv“.
Jetzt aber beweist Herf, dass diese Zuordnungen auf einer Lüge basieren und dass es sich in Wirklichkeit genau umgekehrt verhielt: Bis 1949 wurde der Sowjetblock gerade deshalb als „antiimperialistisch“ und „progressiv“ angepriesen, weil er sich entschieden an die Seite des Zionismus und gegen den arabischen Antizionismus gestellt hatte. Gleichzeitig kamen, wenn man von der arabischen Seite absieht, „die hauptsächlichen Widersacher des zionistischen Projekts aus dem britischen Foreign Office, dem State Department der USA und dem Pentagon“, also eben jenen Herrschaftsinstanzen, die viele mit „Weltimperialismus“ assoziieren.
Dieser ebenso überraschende wie unbestreitbare Tatbestand geriet in Vergessenheit, weil beide Supermächte ihre Rollen später tauschten: Moskau gerierte sich seit Anfang der Fünfzigerjahren als Zentrum des Antizionismus, während Washington in den Sechzigerjahren Israel zu unterstützen begann. Beide Mächte wollten von ihren ursprünglichen „Verfehlungen“ nichts wissen und waren an historischer Aufarbeitung wenig interessiert.
Herf aber bleibt bei der Beschreibung dieser Tatbestände nicht stehen, sondern fragt, warum es in der Frühzeit des Nahostkonflikts zu dieser Aufspaltung kam. Seine Studie – und dies ist die zweite Bedeutung dieses Werks – macht klar, wie eminent bedeutsam der antifaschistischen Impuls der Anti-Hitler-Front für die pro-zionistische Parteinahme in der Nachkriegszeit war.
Sowjetischer Pro-Zionismus
So wurde der Teilungsplan der Vereinten Nationen besonders nachdrücklich von jenen Ländern unterstützt, auf deren Boden der Holocaust stattgefunden hatte: von Polen, der Ukrainischen Sozialistische Sowjetrepublik, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Dass dies kein Zufall war, verdeutlicht Herf am Beispiel des polnischen UN-Delegierten Alfred Fiderkiewicz, der am 12. Mai 1947 in seiner Rede vor dem 1. Komitee der Vereinten Nationen die Notwendigkeit des jüdischen Teilstaats mit dem Holocaust begründete und beiläufig erwähnte, dass er selbst ein Überlebender von Auschwitz war. Zwei Tage später nutzte der damalige sowjetische UN-Delegierte und spätere Außenminister Andrej Gromyko die Bühne der UN-Vollversammlung, um nicht nur auf das „unbeschreibliche Leiden“ der Juden im Holocaust hinzuweisen, sondern auch auf die Tatsache, „dass kein westlicher europäischer Staat in der Lage war, die Verteidigung der elementaren Rechte des jüdischen Volkes sicherzustellen und es vor der Gewalt der faschistischen Vollstrecker zu schützen“. Dies erkläre das Bestreben der Juden, einen eigenen Staat zu gründen. „Es wäre ungerecht“, so Gromyko, „dem jüdischen Volk das Recht, dieses Ziel zu erreichen, zu verwehren“.
Natürlich spielte bei dieser sowjetischen Parteinahme auch das machtpolitische Kalkül eine Rolle; man wollte die britische Position schwächen und im Nahen Osten an Einfluss gewinnen. Gleichwohl war es maßgeblich der Sowjetblock, der im Frühjahr 1948 den Versuch der USA, den Teilungsplan angesichts arabischer Widerstände preiszugeben, vereitelte. Mehr noch: Während sich die USA nach dem Angriff arabischer Armeen auf Israel 1948 weigerten, den Juden in Palästina mit Waffenlieferungen zu Hilfe zu kommen, organisierte Vladimir Clementis, der Außenminister der Tschechoslowakei, mit sowjetischer Unterstützung eine Luftbrücke, die den Juden die dringend benötigten Waffen zur Verfügung stellte und sie vermutlich vor der Vernichtung bewahrte.
Später wurde diese Facette sowjetischer Außenpolitik auf entsetzliche Weise „korrigiert“: Herf weist darauf hin, dass Vladimir Clementis 1951 verhaftet und wegen Teilnahme an einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung“ angeklagt wurde. Seine maßgebliche Hilfeleistung für Israel gehörte zu den Gründen, warum man ihn und weitere zehn Politiker 1952 im „Slánský-Prozess“ zum Tode verurteile und hängte.
Amerikanischer Pro-Zionismus
Mit erkennbarer Sympathie ruft Herf auch amerikanische Persönlichkeiten und Vereinigungen in Erinnerung, die sich in Fortsetzung ihres antifaschistischen Engagements während des Zweiten Weltkriegs für den jüdischen Staat und gegen Nazi-Kollaborateure wie dem früheren Mufti von Jerusalem Haj Amin el-Husseini engagierten. Dazu gehörten der „American Zionist Emergency Council“ und das „American Christian Palestine Committee“, dazu gehörten die Herausgeber und Autoren wichtiger Zeitungen wie The Nation, The New Republik, the New York Post oder PM sowie Senatoren und Mitglieder des Repräsentantenhauses. So war für Robert F. Wagner, einem Senator des Bundesstaates New York, der Antifaschismus des Zweiten Weltkriegs mit dem Nachkriegseinsatz für den Zionismus untrennbar verbunden.
Dieses politische Spektrum, das in den USA von der kommunistischen Linken bis zu einzelnen Republikanern reichte, organisierte ganzseitige Zeitungsanzeigen und Demonstrationen. Es mobilisierte für die vollständige Umsetzung der UN-Teilungsresolution. Es startete Aufrufe gegen die arabischen Gewaltkampagnen, die diese Umsetzung zu verhindern suchten, und konstatierte, dass sich die arabischen Angriffe „nicht nur gegen die Juden und nicht nur gegen die friedliche Mehrheit der palästinensischen Araber (richten), sondern gegen die Autorität der Vereinten Nationen selbst“, wie es in einer Erklärung von Januar 1948 heißt. Gleichzeitig suchte man die Zionisten auch handfest zu unterstützen: So fand, wie Herf berichtet, in New York City Anfang Februar 1948 ein „Arms for Jewish Palestine Mass Meeting“ statt.
Amerikanischer Anti-Zionismus
Das andere Gesicht amerikanischer Israelpolitik repräsentierten Angehörige der Machtelite wie der damalige Außenminister George C. Marshall und dessen führender Mitarbeiter Georges F. Kennan. Für sie stand der Kalte Krieg im Vordergrund. Gute Beziehungen zur arabischen Welt hatten Vorrang vor der Rücksichtnahme auf jüdische Interessen. Sie assoziierten Zionismus mit sowjetischer Expansion, ohne zu erkennen, dass sie damit das antisemitische Schauerbild vom „jüdischen Bolschewismus“ aktualisierten. Folgerichtig hielten sie den UN-Teilungsbeschluss von November 1947 für einen Fehler und wollten ihn rückgängig oder zumindest wirkungslos machen. Zwar sympathisierten US-Präsident Harry S. Truman und sein Berater Clark Clifford mit der zionistischen Sache – sie konnten sich aber gegen die Maßnahmen ihrer Widersacher nur zeitweilig und manchmal auch gar nicht durchsetzen.
So zog der amerikanische UN-Vertreter im März 1948 die Zustimmung zum Teilungsplan zurück; ein Schritt, der sich nur mit Mühe rückgängig machen ließ. Später lehnte es die Truman-Administration ab, den arabischen Angriff auf den jüdischen Staat zu kritisieren und Israel in einem zunächst aussichtlos erscheinenden Krieg gegen die arabische Übermacht zu helfen. „Hätten die Juden [während des Krieges von 1947/48] auf die USA oder und Vereinten Nationen gewartet, wären sie vernichtet worden“, erklärte im Rückblick Israels erster Staatspräsident David Ben Gurion.
„Israels Moment“ bedeutet: Das Land hatte Glück, dass ihm in den entscheidenden Monaten der Nachkriegsjahre Osteuropa und die Sowjetunion zur Seite standen und dass im Westen starke antifaschistische Kräfte für seinen Sieg mobilisierten. So waren es in Frankreich zwei Mitglieder der Regierung – Innenminister Édouard Depreux und Transportminister Jules Moch –, die zwischen 1945 und 1949 gegen ihren eigenen Außenminister und gegen heftigste Widerstände aus London 180.000 Juden die illegale Auswanderung von Frankreich nach Palästina ermöglichten. (221) Beide Minister kamen aus der Resistance und setzten nach 1945 ihr antifaschistisches Engagement auf diese Weise fort. In einem Punkt aber blieben all die Appelle und Demonstrationen der Antifaschisten vergeblich: bei ihrer Kampagnen gegen Haj Amin el-Husseini, dem Ex-Mufti von Jerusalem.
Antisemitische Kontinuität
Hier liegt die dritte besondere Bedeutung von Herfs neuem Buch: Er ist der erste, der den Nachkriegs-Streit um den Mufti anhand französischer Akten umfassend beschreibt. Die Frage, was mit diesem Freund von Heinrich Himmler, diesem Beförderer der Shoah und antisemitischen Hetzer nach seiner Festnahme im Mai 1945 geschehen soll, war von höchster Relevanz. „Gewisse Kräfte arbeiten daran“, zitiert Herf aus einem Memorandum des „American Zionist Emergency Council“ vom 12. Dezember 1945 an US-Außenminister James Byrnes, „dass Amin el-Husseini weißgewaschen und in den Nahen Osten zurückgebracht wird, um dort erneut als wichtigstes Instrument antijüdischer Intrigen und Aktivitäten zu dienen.“
Diese Warnung hatte Substanz. Bei jenen „gewissen Kräften“ handelte es sich um die Muslimbruderschaft, die den Mufti nach seiner Rückkehr in den Nahen Osten an die Spitze des „Arab Higher Committee“, dem durch keine Wahl legitimierten Vertretungsorgan der palästinensischen Araber, hieften, um einen jüdischen Teilstaat gewaltsam zu verhindern. El- Husseinis Hetze gegen die „Vereinten jüdischen Nationen“, die er noch im Solde der Nazis verbreitet hatte, und seinem Krieg gegen den Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen gute zwei Jahre später lag ein und derselbe Judenhass zugrunde.
„Das Versäumnis, ihn und seine Verbündeten vor Gericht zu bringen, war vielleicht das wichtigste von vielen Beispielen für ein politisch bequemes Vergessen der Verbrechen der Nazi-Vergangenheit“, stellt Herf zutreffend fest. Zwar blieben zahllose Nazi-Verbrecher unbestraft. Dass aber ein bekennender Antisemit rehabilitiert wurde und unter den Augen der Alliierten seinem Metier – schrankenloser Judenhass – an politisch bedeutender Stelle weiter frönen konnte, war einzigartig.
Hätte man den Mufti 1945, so wie es viele forderten, als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und seinen Antisemitismus aller Welt vorgeführt, wäre er politisch erledigt gewesen. Vielleicht wäre dann eine andere, mehr auf Frieden und Toleranz setzende Lösung des „Palästina-Problems“ möglich gewesen.
Doch an den Mufti und dessen Antisemitismus trauten sich die Sieger des Zweiten Weltkriegs nicht heran – hätte man damit doch die Beziehungen zur arabischen Welt irritiert. „Anstatt die Kontinuität von Husseinis Antisemitismus vor und nach 1945 zu untersuchen, konzentrierte sich George Kennan auf den Zionismus als Ursache der arabischen Wut“, konstatiert Herf.
Hier hatte der Kampf um die Gunst der Araber eindeutig über den Antifaschismus gesiegt – mit Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. 2013 bezeichnete Mahmoud Abbas, der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, Amin el-Husseini erneut als „Helden“ und „Pionier“. Und noch 2019 stellte Mahmoud Al-Habbash, einer der engsten Berater von Abbas, ein Mufti-Foto auf seine Facebook-Seite und pries ihn als „Führer und Vorbild“ an.[1]
Korrekturen im Lager der Linken
Herf will die Erkenntnisse seiner Forschung besonders „denjenigen Generationen von Lesern vor Augen führen, deren politisches Vokabular aus der Zeit seit 1967 stammt.“ Seine Studie ruft eindringlich in Erinnerung, wie selbstverständlich es einst für die Linke war, für den Zionismus und Israel Partei zu ergreifen. Sie destruiert den Slogan vom „weltimperialistischen Zionismus“ als Maske, hinter der sich das Gerücht von der jüdischen Weltverschwörung verbirgt.
Herfs Studie rückt insbesondere den arabisch-israelischen Krieg von 1947/48 in ein neues Licht. Wir erfahren, dass sich die jüdischen Streitkräfte nicht isoliert gegen den Angriffskrieg der Araber verteidigten, sondern dass sich auch Mitarbeiter westlicher Regierungen und relevante Teil der linken und linksliberalen Öffentlichkeit mit den Juden aktiv solidarisierten. Diese informierten über die verbrecherischen Mufti-Aktivitäten in Nazi-Deutschland und über die Tatsache, dass sich seine Mitarbeiter aus Nazi-Kollaborateuren zusammensetzten. Sie charakterisierten den arabischen Krieg gegen den Teilungsbeschluss als Angriff auf die Vereinten Nationen. Und sie kämpften für die Aufhebung des Waffenembargos, das die Juden einseitig benachteiligte.
Bis heute sucht die PLO-Propaganda die Erinnerung an diese Tatbestände auszulöschen. Auch heute noch pflegt sie alljährlich am sogenannten „Nakba-Tag“ den Angriff der arabischen Armeen von 1948 auf das gerade gegründete Israel zu feiern, während ihr der im Teilungsplan der Vereinten Nationen formulierte Kompromiss als das eigentliche Verbrechen gilt.
Herf hat erneut ein Standardwerk verfasst, das unsere Kenntnisse über die Frühphase des Nahost-Konflikts maßgeblich erweitert und vertieft. Es erscheint zur rechten Zeit: einer Zeit, in der arabische Politiker und Kommentatoren sich im Zuge der Abraham-Abkommen mehr denn je für die Ursachen des Scheiterns ihrer Alles-oder-Nichts-Strategie interessieren; einer Zeit, in der zugleich ein großer Teil der westlichen akademischen Linken ihren „antikapitalistischen“ Hass mit zunehmender Verhärtung auf Israel konzentriert. Es ist zu hoffen, dass nicht nur die Fachwelt, sondern auch die Öffentlichkeit Herfs neues Buch rezipiert und dass es recht bald auch in deutscher Sprache erscheint.
[1] Matthias Küntzel: Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand. Berlin/Leipzig 2019, S. 203.
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