Vom Beschützen, Erinnern und Bewahren

Mukasongas „Frau auf bloßen Füßen“ bietet Einblicke in das kulturelle Erbe Ruandas und ist gleichzeitig eine Hommage an die Mutter der Autorin und an alle Mütter Ruandas

Von Julia AugartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Augart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Niemand darf den Leichnam einer Mutter sehen, andernfalls wird er euch verfolgen … euch bis zu eurem eigenen Tod keine Ruhe lassen, wenn auch ihr jemanden braucht, der euren Körper bedeckt.“ Diese Worte ihrer Mutter führt Scholastique Mukasonga in ihrer Erinnerung Frau auf bloßen Füßen im Prolog an. Mukasonga konnte ihre im ruandischen Genozid ermordete Mutter einst nicht nach dem Tod mit einem pagne, einem Leichentuch, bedecken. Durch das Zitat geraten der Prolog und die folgenden autobiographischen Geschichten zu einem literarischen pagne. Frau auf bloßen Füßen ist ein Memoir an die verlorene Mutter, eine Geschichte sowohl über die eigene Familie als auch über die Tutsi und Ruanda zwischen Tradition und Fortschritt, Kolonialismus und Genozid.

Mukasongas Hommage an ihre Mutter Stefania beginnt mit der Erinnerung an die erlebte Gewalt, die sich in ihr Gedächtnis eingeprägt hat. Sie erinnert sich an das Eindringen der Soldaten in das Haus der Familie, das Krachen der Tür, die Stiefel der Männer, die zerbrechenden Krüge, die zertrampelten Süßkartoffeln, ihre Angst, das Verstecken, das Schluchzen der kleinen Schwester, die Schreie, die Eltern, die versuchen, die Kinder zu schützen, den Bruder, dessen Gesicht von den Misshandlungen der Soldaten gezeichnet ist. Die Autorin schildert die Gewalt gegen die Tutsi in den 1960er Jahren, die mit zahlreichen Ermordungen, Emigrationen und Zwangsumsiedlungen einherging. Die Familie der Autorin, die nun im südruandischen Ort Nyamata lebt, wird noch immer von Soldaten bedroht. Nyamata heißt so viel wie „Land der Milch“ – Milch gibt es aber keine, denn die Tiere der Familie wurden getötet und das Land ist unfruchtbar. Die Beschreibung steht sinnbildlich für die Situation der Familie, in der eine Mutter immer wieder versucht, ihre Familie zu beschützen und sowohl Traditionen als auch das kulturelle Erbe aufrechtzuerhalten.

An das Wissen und Wirken ihrer Mutter erinnert sich die Autorin in mehreren Kapiteln. Mukasonga gibt dabei detailliert Einblick in die Geschichte der Familie, aber auch in Bräuche und Werte Ruandas. Sie schildert, wie die Mutter, die ihre Kinder vor den Soldaten beschützen möchte, an verschiedenen Orten Verstecke schafft: Büsche auf dem Feld, erweiterte Erdferkellöcher im Boden, große Tonkrüge und Körbe im Haus. Sie zeigt aber auch, wie die Mutter gleichzeitig Traditionen bewahrt und im Lager der Vertriebenen ein traditionelles inzu, ein Zuhause für die Familie, baut. Dadurch erhält sie – wie es die ruandische Tradition vorsieht – Geltung und Autorität als Mutter; aus dem Zuhause schöpft sie Energie, Mut und Kraft. Auch die Bedeutung der Hirse, die sie als „die wahre Ruanderin“ bezeichnet, wird erläutert. Zudem erzählt Mukasonga vom umuganura, einem in der Familie abgehaltenen Erntedankfest, mit dem die Ernte und damit auch ein neues Jahr beginnt. Erst nach dem Fest kann geerntet werden, die Aufgaben für Männer, Frauen und Kinder sind festgelegt; alle freuen sich auf Hirseporridge und Hirsebier. Die abgeschnittenen Stoppeln werden noch verwendet: Die Familie baut mahabusi, Vogelscheuchen, die die Felder vor Affen schützen, und die Kinder basteln Brillengestelle, um Missionare nachzuahmen.

Neben Themen wie Wohnen, Leben und Essen wird auch vom Heiratsmarkt erzählt. Dabei werden auch Vorstellungen von Körperpflege und Schönheit geschildert – dem ruandischen Ideal zufolge gelten kerzengerade Beine ohne Wölbungen der Waden, kleine und feine Füße sowie lange und dünne Zehen als besonders schön. Eine gute Heiratskandidatin zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie mit nackten Füßen im Schlamm stehen kann und große, zerfurchte, rissige und schwielige Füße hat. Denn diese Füße sind die der Nährmütter Afrikas und besser als die einer Prinzessin, die noch nie den Boden berührt haben. Auch der Umgang mit Sexualität, sexueller Erziehung und Vergewaltigung – „1994 eine der Waffen der Völkermörder“ – wird in den Kapiteln thematisiert. Ebenso erzählt Mukasonga von Krankheiten und traditionellen Heilungsmethoden durch Wurzeln, Knollen, Blätter und Kräuter, von der Entwurmung der Babys durch Einläufe und von Beschwörungen während der Behandlung. Immer wieder zeigt sich, wie stark die Mutter in den Traditionen und dem Wissen ihrer Kultur verwurzelt ist und diese dadurch nicht nur aufrecht hält, sondern auch der nächsten Generation vermittelt.

Die Geschichten gehen aber nicht nur auf die Traditionen und den Erhalt des kulturellen Erbes ein. Auch amajyambere, was so viel wie Fortschritt oder Entwicklung bedeutet, wird insbesondere durch den Kolonialismus und die Missionare beschworen – durch den christlichen Glauben erhalten westliche Denkweisen und Vorgehensweisen Einzug in das Leben der Ruander*innen. Anders als die Familienmitglieder widersetzt sich die Mutter vielen Neuerungen, nur gelegentlich akzeptiert sie den Fortschritt, z.B. den Bau einer Toilette, Haarpulver oder die Unterhose ikaliso, in wichtigen Angelegenheiten wendet sie sich nicht nur dem spirituellen Geist Ryangombe zu, sondern auch der Jungfrau Maria.

Die Geschichte ihrer 1994 im Genozid ermordeten Mutter und Familie erzählt die einzig Überlebende der Familie in kleinen Episoden, die an das abendliche Gespräch als Stunde der Märchen in der Familie erinnern, in sehr poetischer Manier, in liebevollen Gesten und gemäß dem „African storytelling“. Einerseits werden Wissen, Erfahrungen und Werte überliefert, andererseits unterhalten die Geschichten, verfügen oft über einen humorvollen Unterton und erzeugen darüber hinaus ein Gefühl von Identität oder geben sogar eine verlorene Identität zurück. Die dunklen Episoden, die den Kolonialismus, die Verfolgung und das Unheil thematisieren, werden nur in kurzen Bemerkungen erwähnt, bilden aber den Hintergrund der Erinnerung. Man taucht mit der Autorin in ihre Kindheit ein, wird Teil einer Familie, die Stefania nicht vor dem schützen konnte, was in Ruanda passierte. Die vielen Begriffe in Kinyarwanda vermitteln ein authentisches Bild und die Erklärungen bringen Ruanda und seine Kultur den Leser*innen näher.

Der autobiographische Text ist eine Liebeserklärung an die Mutter und an Ruanda. Er hüllt nicht nur diese, sondern auch die Leser*innen mit einer Art pagne ein, um sie zu beschützen. Und es ist zu wünschen, dass Scholastique Mukasonga durch die Geschichten, die das Leichentuch für ihre Mutter und deren verlorenen Körper symbolisieren, ebenfalls Ruhe findet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Scholastique Mukasonga: Frau auf bloßen Füßen.
Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2022.
160 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783779506782

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