Der Kreislauf des Lebens und das gefährlichste Raubtier
Lorena Salazar ist mit „Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ ein Romandebüt voll verstörender Schönheit gelungen
Von Swen Schulte Eickholt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Frau und ein Junge stehen früh morgens am Kai und warten auf ein Boot, das sie in das kolumbianische Bellavista bringen soll. Der Morgen gehört den Gesängen der Vögel, von denen selbst „die jüngsten ein Nest mit nackten wehrlosen, hungrigen Küken haben.“ Für den Jungen ist auch ein naher Geier ein „Vögelchen“ und die junge Frau möchte den Unterschied zwischen Todesvogel und Singvogel nicht erklären.
In dieser Eingangsszene ist bereits die Grundspannung enthalten, die den ersten Roman der jungen Kolumbianerin Lorena Salazar trägt. „Der Junge“, von dem die Ich-Erzählerin so distanziert berichtet, ist ihr Pflegekind. Unverhofft hat eine arme Nachbarin ihn fast kommentarlos in ihre Arme gelegt ‒ damals auch ein nacktes, wehrloses Küken. Die junge Ich-Erzählerin wird plötzlich zu einer Mama und nimmt diese Rolle mit großer Dankbarkeit und Leidenschaft an. Nun, zehn Jahre später, möchte die leibliche Mutter das Kind wiedersehen ‒ vielleicht bei sich behalten? Eine lange Flussreise ist nötig, um das Treffen zu ermöglichen.
Geformt wird der Roman von den mäandernden Bewegungen des Flusses, die Salazar in die Überlegungen ihrer Hauptfigur überträgt. Dabei gelingt es ihr elegant, eine Vielzahl von existentiellen Themen aufzugreifen, die wie schillernde Fische kurz an die Oberfläche steigen, um dann im Strom des Flusses wieder zu verschwinden. Erinnerungen an die eigene Jugend, an die Zeit mit dem Jungen und die Erlebnisse auf der Bootsreise werden zu einem Panorama des Lebens verwoben.
Als weißes Mädchen unter schwarzen Kindern ist die Erzählerin seit ihrer Jugend eine Außenseiterin. Sie bestreitet ihre ärmliche Existenz, indem sie selbstgebundene Stoffblumen verkauft, die in ihrer empfindlichen Schönheit wie eine Allegorie von Salazars Erzähltechnik wirken. Die Sprache ist nie aufgeregt, nie pathetisch. Die Zärtlichkeit der Mutter liegt im Detail, wie sie dem Jungen „ungefährliche Happen“ ohne Gräten aus einem Fisch präpariert, wie sie ihm untersagt, eine Guanabana zu pflücken, weil sie noch zu klein ist: „Ein Guanabanakind.“ Die Nähe zur Natur zeigt sich auch, wenn der Bauch einer Schwangeren einer Papaya gleicht. Es ist das Leben der Armen, das der Fluss gibt und nimmt: „Der Fluss wäscht Kleidung, gibt Essen, trägt Kinder, badet Frauen, versteckt Tote. Heilt die Klagen der Alten. Der Fluss unterscheidet nicht: er segnet und ertränkt.“
So wird die Bootsreise begleitet vom Rhythmus des Lebens; ein Dorf ist abgebrannt und die Bewohner bergen die letzten Reste ihres Lebens aus der Asche; eine junge Frau verstirbt mit ihrem Kind unter der Geburt; Fische, Schlangen und Vögel leben mit den Menschen als Jäger und Gejagte. Wie auch die Sinnlichkeit des Dschungels in die Erzählung einfließt, in aller visuellen Opulenz, Gerüchen und Geräuschen, ist manchmal fast etwas zu angelernt. Kurz droht der Roman in eine zu gefällige Parabel auf den Kreislauf des Lebens abzugleiten. Doch wohlkomponiert erklingen gegen Ende die ersten Schüsse aus dem Dschungel; noch weit entfernt, eine ferne Drohkulisse, die das Finale beherrscht.
Die Mikroeinheit einer Familie erreicht schließlich doch ihr Ziel und wie schon während der gesamten Fahrt zeichnet sich eine Solidarität der Ärmsten ab, scheint der Junge zwei Mütter zu erhalten, wenn nicht das gefährlichste aller Raubtiere den Kreislauf des Lebens stören würde.
Auf den letzten Seiten gelingt Salazar die verdichtete Schilderung menschlicher Abgründe, die den Leser mit unerwarteter Heftigkeit treffen ‒ die literarische Abbildung einer Traumatisierung. Man kann hier die rücksichtslose Schilderung des kolumbianischen Alltags sehen, ein immer wieder von Bürgerkriegen durchzogenes Land, in dem besonders die Armen ohne Schutz der Gnade rivalisierender Gruppierungen ausgesetzt sind. Der Roman allerdings klagt nicht an, entwickelt keine politische Stoßrichtung – eher eine anthropologische ‒ und bleibt bei aller realistischen Referenz auf der Stufe des Allgemein-Menschlichen. Der Tod gehört zum Leben wie die Geburt, das Leid wie das Glück und die Freude wie der Schmerz.
Die Menschen am Fluss leben nicht in einer idyllischen Naturverbundenheit. Aus Armut leben sie mit der Natur und ihrem Rhythmus, das hat aber viel Bedenkenswertes. Der Bürgerkrieg zerreißt diesen Rhythmus, der Tod hat kein Gegengewicht mehr, kann keine Hoffnung geben. Der Faden der Erinnerung, den der Roman mit dem Lauf des Flusses gesponnen hat, ist zerrissen. Wenn Hochwasser kommt, kann man die Füße auf die Stühle stellen, wenn ein Mensch stirbt, singt man ein Totenlied, wenn das Geld nicht mehr für das Brot reicht, isst man Mangos und bittere Orangen ‒ doch wie begegnet man der willkürlichen Grausamkeit des Krieges? Die Klage- und Totenlieder, die die Stationen der Bootsreise begleitet haben, vermögen dann nicht mehr zu trösten.
Der Roman ist ansprechend und feinfühlig übersetzt von Grit Weirauch. Das beigegebene Glossar hätte er allerdings nicht gebraucht, denn es markiert die Fremdheit der kolumbianischen Realität, die in ihrer existentiellen Dimension so fremd nicht ist. Das von einer farblich übersteuerten Dschungellandschaft beherrschte Cover suggeriert auch eine pralle Exotik, die der Roman nur in sehr vereinfachter Lesart zu bieten hat ‒ wenn man sich die grundsätzlichen Fragen vom Leib halten möchte. Hier klingt vielleicht noch der magische Realismus nach, von dem die junge lateinamerikanische Literatur sich schon längst emanzipiert hat. Der Fluss ist eine Wunde voller Fische ist der selbstbewusste Beitrag einer Literatur, die sich ohne falsche Rücksichten auf sprachlich beeindruckende Weise den elementaren Fragen unserer Zeit stellt. Fast ist es ja schon unverschämt, dass eine Frau gerne und fraglos eine „Mama“ sein möchte, dass ein Bürgerkrieg nur in seinen Wirkungen dargestellt und nicht in seinen Ursachen kritisiert wird. Salazars Roman beschäftigt sich viel intensiver mit einer der ältesten Fragen der Ethik, der Frage nach dem guten Leben, als mit den überlauten Fragen einer Gegenwart, die gerade diese Grundfrage menschlichen Seins aus dem Blick verloren hat.
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