Ebenso packend wie erschütternd

Maria Kjos Fonn erzählt in „Heroin Chic“ auf fesselnde Weise vom Absturz eines behüteten Wohlstandkindes in Rausch, Abhängigkeit und Selbstzerstörung

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fonns Protagonistin Elise wächst behütet in Norwegen bei ihren Eltern auf. Sie ist schön, begabt und tüchtig und scheint ein erfolgreiches Leben vor sich zu haben. In paradoxer Weise muss sie sich aber eingestehen: „Mir fehlte nichts. Mir fehlte ein Mangel.“ Schon früh spürt sie so auch „einen Riss in sich“ und ahnt, was kommen würde: Erst die Magersucht, dann Pillen und Alkohol, dann Drogen aller Art und schließlich die Spritze.

Der Schritt in die Abhängigkeit beginnt schon in frühen Jahren bei ihrem Gesangslehrer, der sie nicht nur missbraucht, sondern ihr gegen das Lampenfieber bei Auftritten die ersten Pillen und den ersten Wein verabreicht. Mit Kate Moss als Vorbild verwandelt sie sich, hüllt sich in schwarze Kleidung und trägt schwere DocMartens. Sie wird magersüchtig, zählt jede Kalorie und kotzt jede überzählige wieder aus sich heraus. „Ich hatte mich selbst aus meinem Körper herausgehungert“, sagt sie im Rückblick. 

Mit ihrem ersten Freund Joakim, der in einer Band spielt, stürzt sie sich dann in den Drogenrausch, raucht Heroin von der Silberfolie, um sich dann irgendwann den ersten Schuss zu setzen: 

Ich stach die Nadel hinein, atmete tief ein, drückte durch. Dann knallte es. Ja, da, ja, genau das. SMACK! BUMM! Alles raste, wie ein Film, in dem die Farben explodieren … Ich hatte noch nie so etwas Gutes erlebt. 

Vor den Augen von Joakim, der sich geschworen hat, nie zu drücken, gleitet Elise immer weiter ab, bis er sie eines Tages rausschmeißt.

Maria Kjos Fonn erzählt die Geschichte von Elise auf verschiedenen Zeitebenen und setzt bei ihrem Entzug bei den Narcotic Anonymous ein. Es ist eine Zeit der Erinnerung, der Rückbesinnung sowie der Aufarbeitung und der Entschuldigung – bei all den Menschen, die sie beklaut, betrogen und verletzt hat, wie ihre schwerst co-abhängige Mutter oder die Mutter des toten Kindes, auf dessen Beerdigung sie völlig zugedröhnt sang oder vielmehr lallte. Es ist eine Zeit, in der sie mit dem sehr vernünftigen Sigurd zusammenlebt und ein Studium beginnt und in der inmitten von zunehmend empfundener Langeweile und Spießigkeit aus dem Unbewussten immer wieder das Ritual des Heroin Aufkochens und der folgende erlösende Kick aus dem Unbewussten hervorsickert. Und dann trifft Elise Joakim wieder und das Spiel beginnt von vorn.

Maria Kjos Fonn schreibt in Heroin Chic zugleich mit existenziellem Drive und lakonischer Abgeklärtheit. Schonungslos dringt sie in die Untiefen und Verwerfungen ihrer Protagonistin ein, umkreist mit einer Vielzahl von Bildern und Metaphern immer wieder den Kick, den Rausch und die alles bestimmende Sucht. Im Gegensatz zu vielen anderen Romanen über Rausch und Sucht verfällt Heroin Chic dennoch nicht der Gefahr in sich selbst zu kreiseln und sich in ewigen Wiederholungen des Gleichen und Rausch-Halluzinationen zu ergehen. Maria Kjos Fonn führt den Leser vielmehr wohl komponiert zum Kern eines Menschen, der eigentlich alles hat, doch nichts mehr in sich findet. An der Sinn-Stelle klafft ein Loch und in stiller Verzweiflung bleibt nur der Wunsch nach Auflösung und Auslöschung. Das ist ebenso packend wie erschütternd.

Titelbild

Maria Kjos Fonn: Heroin Chic.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
CulturBooks, Hamburg 2022.
256 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881869

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