Grimm goes Graphic

Henrik Schrat bebildert Grimms Märchen neu und katapultiert sie ins Heute

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Mammutaufgabe, die sich Henrik Schrat hier vorgenommen hat. Trotz der unzählbaren Anzahl an Ausgaben der Grimm’schen Märchen widmet sich der Berliner Künstler genau dieser Textsammlung – und das auf eine besondere Art und Weise: Schrat stellt die Texte der Märchen, die auf der Ausgabe letzter Hand (1857) fußen und nur minimal geändert wurden, mit Bildern in einen völlig neuen Kontext. Bei den Bildern handelt es sich dabei ausnahmslos um Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die mal ganzseitig und mal in kleinem Format quer durch den Text springend platziert sind. Stilistisch sind sie dabei an Graphic Novels angelehnt, oft düster, manchmal mit wenigen mächtigen Strichen, mal fein und detailliert. Allein wegen dieser Zeichnungen lohnt sich der Kauf des Buches und man wünscht sich, diese Bilder in einer Ausstellung bewundern zu können.

Die Faszination begründet sich aber nicht allein in den kunstvollen Zeichnungen Schrats. Er schafft es, wesentliche Aspekte der Märchen herauszufiltern und mit seinen Kunstwerken zu verstärken. Dabei lässt er manche Märchen in der Neuzeit spielen, andere erhalten einen ungeahnten Kontext. So kommt zum tapferen Schneiderlein nicht die Mus-Frau, sondern der Pizza-Service, Bruder Lustig kommt optisch wie Rambo daher, der Schneider im Himmel ist Karl Lagerfeld wie aus dem Gesicht geschnitten und die böse Fee in Dornröschen fährt auf einem Motorrad zum Fest. Überhaupt erinnern viele Zeichnungen an Fantasy-Geschichten oder zitieren aktuelle Popkultur: Man trifft u.a. Darth Vader, Gandalf, Winnie Pooh und Keanu Reeves; das Mädchen ohne Hände bekommt Cyborg-Hände, die auch zum Terminator gepasst hätten. Ein ganz eigenes, über die schon erwähnte düster-melancholische Stimmung hinausreichendes Flair bekommt das Buch, weil Schrat die Handlung oft aus dem märchenhaften Wald in urbane Räume überträgt. Die Held*innen laufen durch Häuserschluchten, spazieren an einem Dönerstand vorbei und fahren mit SUVs. Immer wieder trifft man auf bekannte Orte: die Gedächtniskirche, das Kanzleramt (mit Burgturm) und das Kottbusser Tor in Berlin oder den Hamburger Hafen mit Elbphilharmonie, in dem der Fischer den Butt fängt.

Das alles ist spannend und toll arrangiert. Natürlich werden Grimm-Purist*innen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber Schrats Interpretation wirft nicht nur ein anderes Licht auf die Texte und ihre Botschaften, sie ermöglicht auch neuen Leser*innen den Zugang zu den oft als  veraltet daherkommenden Märchen. Die Zeichnungen lassen einen außerdem beim Blättern immer wieder bei eher unbekannten Texten stoppen.

Schrat bewältigt die Menge an Märchen (er nimmt nicht nur die 200 aus der Ausgabe letzter Hand, sondern alle 240, die im Laufe der Edition in den Kinder- und Hausmärchen erschienen sind), indem er sie auf fünf Bände verteilt.  Dabei geht Schrat nicht chronologisch vor, er sortiert die Texte thematisch. Zwei der fünf Bände liegen nun vor. Während der erste Band unter dem Motto „Schneefall, Himmel und Hölle“ steht, trägt der zweite Band den Titel „Dornenrose, Liebe und Reise“.

Zwei kleine Mankos seien erwähnt: Erstens hat Schrat leider die Märchen, welche bei den Grimms im Dialekt verfasst sind, nicht so belassen. So verlieren z.B. Der Fischer und seine Frau oder Der Machandelbaum ein wenig von ihrer ursprünglichen Kraft. Und zweitens lassen die Qualität und die Wucht der Zeichnungen im zweiten Band bedauerlicherweise etwas nach. Das alles soll aber nicht die Vorfreude auf den dritten Band schmälern. Wenn dann in drei Jahren hoffentlich alle Bände vorliegen, ist diese Sammlung ein Muss in den Regalen von Märchen-Liebhaber*innen, Grimm-Fans und Graphic-Novel-Enthusiast*innen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Henrik Schrat (Hg.): Grimms Märchen. Band 2: Dornenrose, Liebe & Reise.
Mit einem Nachwort von Susanne Altmann.
Textem Verlag, Hamburg 2021.
288 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783864852473

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