Von der Schuld der Unumerziehbaren

In dem fulminanten Werk „Stunden aus Blei“ treibt Radka Denemarková sich und ihre Leser in ein gewaltiges Labyrinth menschlicher Unzulänglichkeiten

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Wahrheit ist die einzige Münze, die weltweit gültig ist, und die einzige Quelle, aus der man Mut schöpfen kann.“ Derlei Sätze klingen für moderne Ohren oft pathetisch und wie aus der Welt gefallen. Die „Schriftstellerin“, Protagonistin im Roman  Blei, hat jedoch die Jahre ihrer tschechoslowakischen Heimat in den Knochen, als sie im Gespräch mit einer jungen chinesischen Studentin über die Vergangenheit ihres Landes und die Gegenwart Chinas spricht. Die beiden sind sich sympathisch, obwohl die junge Chinesin gebetsmühlenhaft die ideologischen Phrasen des Partei- und Staatsapparates nachplappert. Vielleicht war dies aber auch der Grund, dass sich die Schriftstellerin nicht davon abhalten ließ, ihre Sicht der Dinge darzulegen.

Der Textkoloss Stunden aus Blei erweist sich als ein gewaltiges Labyrinth, welches dem Leser einen langen Atem abverlangt. Angesichts der tückischen Doppelbödigkeit einer gewalttätigen Gegenwart wird eine nahezu physische Ahnung vermittelt, wie der Atem enger werden kann.

Die ausgebreiteten Schauplätze finden zum größten Teil in China statt, es gibt aber auch Rückblenden in die böhmische Heimat einiger der Protagonisten. Es sind unterschiedliche Charaktere, deren Eigenheiten, Stärken und Schwächen sich vor dem Hintergrund der gegebenen Verhältnisse in China in besonderer Weise entfalten.

Aus unterschiedlichen Gründen sind sie in China gelandet, um ein neues Leben als Programmierer oder Diplomat aufzunehmen. Letztlich belügen sie sich selbst, indem sie weder ihre europäische Herkunft noch die realsozialistische Gegenwart kritisch zu reflektieren vermögen. Menschliche Tragödien sind somit vorprogrammiert.

In kreisender Erzählweise changiert die Autorin zwischen dem Erzählen konkreter Begebenheiten in einer totalitären Diktatur und meditierender Betrachtungen wie auch Monologen, die zuweilen geradezu essayhaft wirken. In ausgreifender Weise werden dann weltgeschichtliche Entwicklungen bilanziert und zurechtgerückt:

Das tausendjährige Beten hat uns mit innerer Hoffnung ausgestattet. Die alten Muster von Europa scheitern in Peking. Nach dem Burnout der Nation fängt die Depersonalisierung an. Nur ein nationalistischer Staat bringt Stabilität. Entartete Kunst gehört ins Feuer. Die Macht gehört weißen, heterosexuellen Männern; sie sind die Herrscher der Welt.

Unterschwellig werden nadelscharfe Provokationen gesetzt und nicht immer wird deutlich, ob die Autorin noch ihrer Meinung ist. In diesen Spannungslagen wirkt der Text in seiner Authentizität besonders überzeugend.

Den Kern des Anstoßes bildet die heutige Wirklichkeit Chinas. Eine vorgebliche Stabilität des Landes ist der knallharten und unbarmherzigen Praxis geschuldet, mit welcher abweichende oder gar kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Es herrschen Bespitzelungen und ohnmächtige Machtlosigkeit vor. „Unumerziehbarkeit“ stellt ein Manko dar, für welches sich der betroffene Einzelne zu rechtfertigen hat. Das zweite Standbein dieser synthetischen Gespensterwelt bildet die ökonomische Effizienz. Ein Preis, welchem alles, aber auch wirklich alles unterworfen wird.

In einem offenen Brief an den chinesischen Friedenspreisträger Liao Yiwu hatte 2013 der ehemalige Kommunist Wolf Biermann vom „Turbo-KZ-Kapitalismus in China“ gesprochen und einen an ihn gerichteten „Hammer- und Sichel-Satz“ des sozialdemokratischen Altkanzlers Helmut Schmidt zitiert: „Ernähren Sie mal jeden Tag eineinhalb Milliarden Menschen!“

Wie vertragen sich der persönliche Anspruch auf Demokratie und die Freiheit des Einzelnen mit der vorgegebenen Fürsorge einer Diktatur, das Geschick seiner Bürger lenken zu wollen. Derlei Dilemmata breitet Radka Denemarková in ihrem Figurentableau aus. Neben dem „Freund“ der Schriftstellerin finden sich unter anderem der tschechische „Programmierer“, der in den 1990er Jahren die Schluchten Prager Plattenbausiedlungen mit einem Aufenthalt in China getauscht hat sowie dessen pubertierende Tochter Olivia. Die hemmungslose Möglichkeit, viel Geld zu verdienen, lockte gerade auch jene, die sich ihrer eigenen Begrenztheit nicht stellen mochten.

Somit liegt keine soziopolitische Analyse des modernen Chinas vor, sondern Reisen in das Seelenleben konkreter Personen und deren Abstürze. Das voluminöse Werk Stunden aus Blei gerät zu einem einzigen Seufzer. Nichts weniger als eine Totalität des Seins steht auf dem Spiel.

Die Sprache wird von Chiffren und Metaphern unterstützt, die spielerisch in das geschilderte Geschehen eingeflochten sind. Sie werden nicht eins zu eins aufgelöst und das ist gut so. Der Kosmos einer rätselhaften Wirklichkeit kommt auf diese Weise eindrucksvoller zur Geltung. Geheimnisse nehmen Gestalt an, wie etwa die im Roman immer wieder aufflatternde Elster, ohne sich in einer Darstellung zu erschöpfen. Mit Pommerantsch kommen sogar die Kommentare eines „tausendjährigen Katers“ zu Wort, welche den Geschehnissen gerechter zu werden scheinen, als menschliche Logik dies auszudrücken vermag.

In gewohnter Weise hat Eva Profousová auch dieses Buch von Radka Denemarková in souveräner Weise in das Deutsche übersetzt. Umso mehr schmerzt es, wenn wenig sprachsensibel etwa von „Studierenden“ die Rede ist. Das Partizip Präsens ersetzt nicht den Plural. Zumal es zu den dargestellten Mechanismen im Roman gehört, wie ideologisierte Sprache unreflektiert übernommen in der Realität ihr praktisches Unwesen zu treiben beginnt.

Mit Stunden aus Blei hat die renommierte tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková nach den bisherigen Romanerfolgen Ein herrlicher Flecken Erde (2009) oder Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (2019) ein weiteres Mal ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt, bedrückende Gegebenheiten in einer unverwechselbaren Sprache schonungslos unter die Lupe zu nehmen.

Titelbild

Radka Denemarková: Stunden aus Blei.
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
736 Seiten , 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010442

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