Von der Fähigkeit zur Vernunft

Steven Pinker spricht sich in „Mehr Rationalität“ für die realistische Denkweise aus

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem sich der US-amerikanisch-kanadische Kognitionspsychologe Steven Pinker in Büchern zuletzt mit der Aufklärung (2018) und – in einer heftig debattierten Abhandlung – mit Fragen der Gewalt (2011) beschäftigt hat, legt er nun eine Monographie zur Rationalität vor. Aktueller Anlass sind für Pinker die im Zusammenhang mit der Präsidentschaft Trumps und den in der Covid-19-Pandemie grassierenden – soll man sagen: exponentiell steigenden – ‚Fake News‘, Verschwörungstheorien und die ubiquitäre Irrationalität. Doch muss der Leser viel Geduld aufbringen, denn die längste Zeit seiner Abhandlung über beschäftigt sich Pinker – der eigenen akademischen Herkunft geschuldet – mit Fragen und Aspekten der formalen Logik, in deren basale Formen er eine gelungene Einführung liefert, wie auch mit mathematisch-statistischen Problemen sowie der Wahrscheinlichkeitsrechnung und auch Momenten der Spieltheorie. Darin erkennt Pinker so etwas wie ‚basics‘, die bereits SchülerInnen neben Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt werden sollten. Zu Recht betont er die Eroberung einer „kognitiven Nische“ im Laufe menschheitlicher Evolution, d. h. die „Fähigkeit, die Natur mittels Sprache, Gemeinschaftssinn und Knowhow zu überlisten.“ Niemand ist eine Insel, jeder Mensch zu jeder Zeit, da knüpft Pinker an eine lange philosophische Tradition an, die von Aristoteles über das mittelalterliche Denken (Erasmus), die Aufklärung und den Utilitarismus (Hume, Kant, Bentham) bis etwa zu Peter Singer reicht, ein Gemeinschaftswesen, ein ‚zoon politicon‘. Und nur als und in dieser Gemeinschaft (Gesellschaft) entwickelt der einzelne Mensch, ja die Menschheit insgesamt Vernunft. Schlagend die Argumentation: „Allein die Tatsache, dass man das Konzept der Vernunft unter Anführung von Vernunftgründen in Frage stellt, setzt die Validität der Vernunft voraus.“ Ohne dass Pinker trennscharf unterschiede, so müssen doch Vernunft und Rationalität in eins gesetzt werden. So ließe sich sagen, dass die Vernunft so etwas wie – kantisch – das Vermögen der Rationalität ist, unbeschadet der offenkundigen Tatsache, dass der Mensch – zumeist durch seine Intuition, wie Pinker schreibt, was wieder mit eigenen Interessenlagen und Vorteilsannahmen zusammen hängt – verleitet wird, eher der Irrationalität aufzusitzen. Dies zeigt Pinker insbesondere in den beiden letzten (von insgesamt elf) Kapiteln, die sich auf tagesaktuelle, leider andauernde Phänomene („Covid-Quacksalber, das Leugnen des Klimawandels und Verschwörungstheorien“) beziehen. Pinker hält ein gut begründetes Plädoyer für die „realistische Denkweise“ in dem, was er die beiden Bereiche der Welt nennt:

Der eine besteht aus den physikalischen Objekten unserer Umgebung, den Menschen, mit denen wir persönlichen Kontakt haben, den Erinnerungen an unsere Interaktionen sowie den Regeln und Normen, die unser Leben in geregelte Bahnen lenken. Meist sind unsere Vorstellungen von diesem Bereich korrekt, und innerhalb seiner Grenzen stellen wir rationale Überlegungen an. In diesem Bereich glauben wir, dass eine reale Welt existiert und Überzeugungen von dieser Welt entweder wahr oder falsch sind.

Der andere Bereich ist der „jenseits unserer unmittelbaren Erfahrungen“, also:

die weit zurückliegende Vergangenheit, die ungewisse Zukunft, wie entfernte Menschen und Orte, uneinsehbare Führungsetagen, das Mikroskopische, Kosmische, Kontrafaktische, Metaphysische. […] Überzeugungen, die diese Gebiete betreffen, sind Narrative, die unterhaltsam sein können oder inspirierend oder moralisch lehrreich. Ob sie buchstäblich ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sind, spielt keine Rolle. Diese Überzeugungen haben die Funktion, eine soziale Realität zu schaffen, die den Stamm oder die Sekte zusammenschweißt und ihnen einen moralischen Sinn verleiht. Nennen wir dies die mythologische Denkweise.

Hier gilt es nun zu vermitteln, wobei sich Pinker dem alten, von Max Weber bereits geäußerten Gedanken anschließt, dass es uns – menschheitsgeschichtlich, ohne dabei in eine pure Apologie blinden Fortschritts zu verfallen –, um die „Entzauberung der Welt“ gehen muss. Und das heißt dann nicht zuletzt, die Fahne der Rationalität hochzuhalten und die „Treuhänderschaft“, wie sich Pinker ausdrückt, als „kostbare Ressource, die man nicht vergeuden sollte“, wertzuschätzen. Nämlich folgendermaßen:

Da niemand alles wissen kann und die meisten Menschen fast gar nichts wissen, besteht Rationalität darin, Wissen an Institutionen outzusourcen, die auf das Erheben und Teilen von Wissen spezialisiert sind, also vor allem die akademische Welt, öffentliche und private Forschungsinstitute sowie die Presse.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
400 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783103971156

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