Pause im Irrsinn

In Sibylle Bergs Roman „RCE“ kämpfen idealistische Hacker um die Rettung der Welt

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit RCE hat Sibylle Berg den zweiten Teil einer Trilogie veröffentlicht, die 2019 mit dem Roman GRM angefangen hat. Wieder einmal geht es dabei um alles, früher hätte man gewiss gesagt: um Gott und die Welt. Neudeutsch gesprochen: um Digitalisierung und Überwachung, um die Welt der Plattformen und – in einem einzigen Begriff zusammengefasst – den digitalen Kapitalismus. Anders gewendet: Berg inszeniert in ihren Romanen eine rabenschwarze Dystopie, wobei eigentlich der Begriff Dystopie – dystopisches Denken, das noch jedes kleinste utopische Hoffnungspflänzchen ausgerupft hat – insofern fehlplatziert ist, als tatsächlich alles Beschriebene so oder anders bereits existiert, wie Sibylle Berg jüngst im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (7./8.5.2022) erläutert hat:

Fast alles in GRM existierte […]. Das Buch entstand ja vor dem Brexit. Biometrische Kameras gibt es flächendeckend in den meisten Großstädten. Fast jede Regierung verwendet Staatstrojaner, ohne um Erlaubnis zu fragen. Vorstellungsgespräche werden teils mit solchen KI-Stimmanalysen durchgeführt. Bürojobs werden mit Maschinenlernen wegrationalisiert. Die Arbeitslosen können ja dann in der VR Arbeiten nachspielen, mit Aktentasche und Wasserflasche, damit sie nicht zu Staub verfallen.

Auch im Nachfolge-Roman RCE breitet Berg säckeweise gelehrtes Nerd-Wissen aus. Im Zentrum der Handlung steht wieder die Londoner Hacker-Szene, die beseelt davon ist, die Welt durch gezielte Angriffe retten zu wollen. Der Titel des Romans, ein Akronym für ‚RemoteCodeExecution‘, spiegelt bereits die Handlung des Romans wieder: Es geht um die Idee, „aus der Ferne auf Computer und Endgeräte zu(zu)greifen, um dort Änderungen durchzuführen“, also die rundum digitalisierte, in smart homes wie cities separierte Welt des ubiquitären Kapitalismus ‚aufzuheben‘ (um mit Hegel zu sprechen), d. h. ebenso vorzuführen und an die Grenze zu bringen sowie – mindestens im Bewusstsein der Menschen – nach Alternativen zu suchen. Aber – geschenkt. Es ist eben ein pures idealistisches Ansinnen, das die jungen Hacker*innen so an- und umtreibt. Tatsächlich ist das RCE-Game nur, wie es Ben, einem der Protagonisten, einmal dämmert, eine „größenwahnsinnige Idee einer Weltrettung“ und logisch nur für eine „kleine Gruppe von Spinnern, die außer coden zu können keine Ahnung von den Menschen haben.“ Nein, dieser vermeintlich letzte Versuch zur Menschheitsrettung, heißt es nun ganz am Ende des Romans, ist eine „Pause im Inneren, ein letztes Aufstehen der Menschen. Noch eine Anstrengung, die Sache zu retten, das Aussterben zu verhindern, in einer seltsamen Entschlossenheit vereint.“

Sibylle Berg – und das ist ihr Prosa-Markenzeichen – beherrscht exzellent den ‚Wechsel der Töne‘: Mal schnodderig und post-punkmäßig klingt es, dann wird etwas thetisch gesetzt, raunend beschworen und schließlich in lakonischer Manier realistisch erzählt. Bergs Erzählen ist hochpolitisch und dabei von der festen Überzeugung (diesseits der binären Rechts-Links-Codierung) getragen, dass das Projekt eines zeitkritischen Romans von der Tatsache eines weltumspannenden Kapitalismus auszugehen hat, eines Kapitalismus, dessen historisch völlig neue Qualität in Begriffen des Plattformkapitalismus oder eben auch Überwachungskapitalismus (siehe Shoshana Zuboff) zu fassen ist. Vielleicht verbindet das Bergs Texte – mindestens oberflächlich – mit den traditionell realistisch erzählten Romanen des Amerikaners Dave Eggers (The Circle, Every), der ebenfalls seine Leser*innen provozieren und zu Diskussionen anregen möchte. Verändern kann Literatur die Welt sowieso nicht, aber – aufklärerischen Eingedenkens – Leser*innen mindestens sensibilisieren, weil sie, wie es bei der leider vergessenen Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky passend heißt, ebenso Geständnis wie Verständnis der Zeit ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
608 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783462001648

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