Alfred Döblin als Literat und Philosoph

Michael Storchs Buch „Anthropologie als Engagement“ wirft einen erhellenden Blick auf Alfred Döblins Frühwerk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Œuvre Alfred Döblins zählt zweifellos zu den besser erforschten Werken von AutorInnen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Dass dennoch Forschungslücken aufzufinden und zu schließen sind, zeigen Michael Storchs Studien zu Alfred Döblins Frühwerk. Ziel seiner Arbeit ist „eine kontextuell ausgreifende und plausible Konturierung von Döblins intellektuellem Profil, wie es sich in seinem fiktionalen wie nicht-fiktionalen Frühwerk darstellt“. Hierzu wendet er ausdrücklich keine „einheitliche[.] ‚Methode‘ oder ‚Theorie‘“ an. Stattdessen erprobt er „unterschiedliche Perspektiven auf Texte zwischen Sozial-, Diskurs- und Ideengeschichte“, die allerdings alle „in einem hermeneutischen Textbegriff fundiert“ sind. Storchs nicht „dekonstruktiver“, sondern „historiographisch rekonstruktiver […] Ansatz“ wirkt sich nicht zuletzt positiv auf die Erörterung der von den Texten aufgeworfenen „gender-Fragen“ aus. Denn eine 

Sozialgeschichte, die kein aktualisierbares, ‚identitätspolitisches’ Interesse verfolgt, bietet im Gegensatz zu ihrer postmodern-dekonstruktivistischen Variante tauglichere heuristische Modelle, um den diskursiven Horizont zu erfassen, in welchem sich die Literatur der frühen literarischen Moderne bei ihren Entwürfen von Sexualität und Geschlechterrollen bewegt.

Storch eröffnet seine Studien, indem er Döblins Auseinandersetzung mit zwei „politisch diametral entgegengesetzte[n]“, jedoch gleichermaßen „wirkmächtige[n] Autoren“ der Zeit in den Blick nimmt: August Bebel und Friedrich Nietzsche. Beide haben sie die „weltanschauliche Entwicklung von Döblins Frühwerk“ dem Autor zufolge auf ganz unterschiedliche Weise geprägt. Von Bebel habe der Literat „die sozialdemokratisch-humanistische Grundorientierung [adaptiert], von Nietzsche die genealogisch-entlarvungspsychologische Denkweise“. Im Übrigen haben sowohl der Sozialdemokrat wie auch der Altphilologe einen „grundlegende[n] Materialismus und Darwinismus“ verfochten. Dies sei Döblin entgegengekommen, da er „in evolutionsbiologischen, anthropologischen, szientifischen und medizinischen Kategorien [dachte]“.

Im Falle Bebels ist Döblins zentraler, ja einziger Referenzpunkt dessen Hauptwerk Die Frau und der Sozialismus, in dem der Sozialdemokrat Storch zufolge eine „Synthese aus Darwinismus und Sozialismus“ entwickelt, deren „gleichheitsfeministischer Perfektibilismus“ ein „primitivistische[s] Ideal[.] der Gleichheit“ propagiere und den „Anstrich einer rückwärtsgewandten Utopie“ habe. Dass und wie sich der frühe Döblin mit Bebels Werk auseinandersetzte und sich von ihm beeinflussen ließ, zeigt Storch insbesondere an Modern. Ein Bild aus der Gegenwart, der ersten Publikation des jungen Schriftstellers, bei der es sich keineswegs um ein „Dokument der Misogynie“ handle, sondern um einen „soziographische[n] Text“. Zwar habe sich Döblin an den Ideen zur Frauenemanzipation Bebels orientiert, führt Storch weiter aus, doch habe er sich nicht dem Sozialismus, sondern dem Liberalismus verbunden gefühlt. Denn in der „marxistische[n] Geschichtsphilosophie“ habe der Schriftsteller „zwei Gefahren“ erkannt, welche „die Handlungsmacht des Individuums“ begrenzen: zum einen die deterministische Geschichtsauffassung, zum anderen der ökonomistische „Reduktionismus“.

Weit ausführlicher als auf Döblins Beschäftigung mit Bebels Frau und der Sozialismus geht Storch auf dessen Rezeption der Schriften Nietzsches ein, die sich etwa in dem „philosophisch ambitionierten, aber etwas grobschlächtigen Pubertätsroman“ Der schwarze Vorhang und in dem „viel zu unterschätzte[n] Text“ Jagende Rosse niederschlug. Vor allem anhand dieser beiden, aber auch an anderen Texten Döblins zeigt Storch überzeugend, dass der Literat „weder politisch noch philosophisch“ ein „Nietzsche-Anhänger“ war, sondern vielmehr ein „kompetenter und kritischer Nietzsche-Rezipient“, dessen „Nietzsche-Kritik“ deutlich mache, dass Döblin „von der Warte eines wissenschaftlichen Objektivitätsideals aus [spricht], das um Neutralität bemüht ist und daher normative Überformungen vermeiden will“. Denn die „Weltlichkeitsphilosophie“ des Literaten stehe „im Zeichen des Realismus“ und kritisiere Nietzsche „vor dem Hintergrund einer ateleologischen, d.h. strikt wissenschaftlichen Auffassung des Darwinismus“. So habe Döblin Nietzsche bereits zur Zeit des Kaiserreiches „biologische[n] Agnostizismus“‚ „Selbstmord des Denkens“ und einen „Rückfall in vornaturwissenschaftliches Denken“ vorgeworfen.  Wie Storch weiter zeigen kann, konkretisiert und vertieft Döblin in seiner „Naturphilosophie der Weimarer Zeit“ verschiedene „Themen und Probleme, die schon in der Nietzsche-Auseinandersetzung exponiert wurden“.

Ausführlich wendet sich Storch gegen die in der Forschung vertretene These, „dass Döblins Naturphilosophie mit ihren religiösen Obertönen nichts anderes als die ‚Vorstufe der Konversion‘ zum Katholizismus gewesen sei“ und kritisiert sie als „Simplifizierung“ und „hermeneutische Verrenkung“.

In Döblins Kurzgeschichte Die Ermordung einer Butterblume wiederum erkennt Storch sogar eine literarische Religionskritik. Für den „asketische[n] Religionsstifter Fischer“ mit seinen „religioiden Neigungen“ sei die Butterblume, der die männliche Figur den weiblichen Vornamen Ellen verleiht, „mehr als ein Gottesäquivalent“, das Döblin in seiner Ambivalenz dem „Verlachen“ preisgibt. Auch macht Storch eine ‚Moral von der Geschicht‘ aus:

Wer es wagt, sich gegen die natura naturans aufzulehnen, wer es also wagt, gerade dasjenige zu verneinen und zu unterdrücken, was ihn doch unweigerlich bestimmt, den ‚holt’ am Ende die Natur - so würde ich die Lehre von Die Ermordung einer Butterblume auf den Punkt bringen.

Den „dystopischen ‚Zukunftsroman‘“ Berge Meere und Giganten liest Storch hingegen nicht als Religionskritik, sondern – es ließe sich fast sagen: im Gegenteil – als „literarisches Dokument der Kritik an der wissenschaftlichen Rationalität“ und als „veritable[n] fiktionale[n] Beitrag zur Auseinandersetzung“ mit dem prometheischen „Gründungsmythos abendländischer Kultur“. Der „belehrende[.] Effekt der gerade noch abgewendeten Katstrophe“ am Ende des Romans ziele „in seiner Wirkungsaspiration auf […] das Deutschland der mittleren zwanziger Jahre“. 

Unter Döblins nichtfiktionalen Schriften wendet sich Storch insbesondere dessen „philosophische[r] Hauptschrift“ Unser Dasein zu, die zugleich Döblins „humanistische[s] – vulgo: ‚linke[s]‘ Hauptwerk der Weimarer Zeit“ sei. Storch plädiert dafür, das Werk „in der Philosophischen Anthropologie“ zu kontextualisieren und führt dafür eine Reihe von Argumenten an. So etwa Döblins „realistische[n] Ansatz in der Erkenntnistheorie“, „das Vorhandensein eines ‚gebrochenen‘ oder ‚entzauberten‘ Monismus“, die „paradigmatische Verklammerung von Lebensphilosophie und Idealismus“ und dass der philosophierende Literat „zugunsten einer grundsätzlichen Kompatibilität zu den Naturwissenschaften auf jeglichen theologischen Rekurs […] verzichtet“.

Zeichnen sich Storchs Studien durch profunde Kenntnisse und weithin plausible Interpretationen von Döblins fiktionalem und nicht-fiktionalem Frühwerk aus, so bleiben doch einige Punkte zu kritisieren. So artet die große Ausführlichkeit seiner Darlegungen allzu oft in Weitschweifigkeit aus und begibt sich gar zu lange auf Seitenwege, wie etwa der fast hundert Seiten umfassende „Exkurs“ über „Nietzsches Übermensch als Gegenbewegung“ belegt, „der über die Rekonstruktion von Döblins Nietzsche-Kritik“ weit hinausgeht. 

Weiter wären Storchs im Zusammenhang mit Döblins Bebel-Lektüre getätigten Ausführungen zur frühen Frauenbewegung zu monieren. Zwar bescheinigt er – mit wie viel Recht auch immer – „Bebel, Wedekind und Döblin“, dass sie „sich auf der Höhe des feministischen Diskurses ihrer Zeit [bewegten]“, er selbst besitzt jedoch nur oberflächliche Kenntnis des wilhelminischen Feminismus, die er zudem im Wesentlichen aus einigen überblicksartigen Werken der Sekundärliteratur bezieht. Das führt zu Irrtümern und Widersprüchen. So ist es verzerrend zu behaupten, „[d]ie ‚erste Welle‘ des Feminismus“ sei „gleichheitsfeministisch, essentialistisch und geschlechterkooperativ orientiert“ gewesen. Storch widerspricht diesem Befund später selbst, indem er einen „bürgerlichen Differenzfeminismus“ konstatiert, der in Helene Lange die „prominenteste Fürsprecherin“ gefunden habe. Lange war gemeinsam mit Gertrud Bäumer eine der beiden Führerinnen des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, der tatsächlich weitgehend differenzfeministisch – und essentialistisch – argumentierte.

Nicht so jedoch der radikale Flügel um Feministinnen wie Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Minna Cauer, der sich zwar in der Minderheit befand, aber Geschlechteressentialismen und -biologismen ganz überwiegend ablehnte. Beispielsweise kritisierte die bedeutende Feministin Hedwig Dohm 1895 „die Annahme eines uniformen weiblichen Geschlechtscharakters“ als „Fundamentalirrtum“ und „grässlich[e] Generalisierung[.]“. Ebenso unhaltbar ist Storchs Behauptung, der Feminismus habe „im deutschsprachigen Raum als Sozialdarwinismus [begonnen]“. Bereits im Jahr 1848 gab die Frauenrechtlerin Mathilde Franziska Anneke die als Tageszeitung konzipierte Frauenzeitung heraus, die allerdings schon nach der dritten Ausgabe verboten wurde, Anneke selbst wurde ins Exil gezwungen. Doch schon 1849, ein Jahr später, gründete Luise Otto die erste große feministische Zeitschrift Deutschlands mit dem fast gleichlautenden Titel Die Frauen-Zeitung und setzte der wöchentlich erscheinenden Publikation die Parole „Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen“ aufs Titelblatt. Da sollte noch ein ganzes Jahrzehnt verstreichen, bevor Charles Darwin seine Entstehung der Arten veröffentlichte.

Was den (sozialdemokratischen) Sozialdarwinismus betrifft, mit dem Storch sich ausführlich befasst, verwundert es, dass Friedrich Albert Langes Schrift Die Arbeiterfrage aus dem Jahr 1865 in Storchs Ausführungen überhaupt keine Rolle spielt. Immerhin widmete der trotz seiner Marx-Kritik der Sozialdemokratie nahestehende Urvater des Neukantianismus dem „Kampf ums Dasein […] auf dem Gebiet der Menschheit“ in der Gesellschaft ein ganzes Kapitel und konstatiert, „daß der Kampf ums Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und entscheidenden Schicht der Nation – diesmal sind es die Arbeiter der Industrie – in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wird“. Damit war Lange zwar ein Theoretiker des Sozialdarwinismus, vielleicht sein erster, jedoch keineswegs sein Verfechter. Vielmehr ging es ihm darum, „den Kampf ums Dasein wo nicht zu beseitigen, so doch ganz bedeutend zu erleichtern“, da er „nicht nur die Quelle der meisten socialen Uebel, sondern geradezu das eine, große, unter wechselnden Gestalten immer wieder erscheinende Grundübel“ sei.

Neben den beiden genannten inhaltlichen Kritikpunkten gibt es noch eine Absenz zu monieren: Ein Siglenverzeichnis hätte hilfreich sein können.

Titelbild

Michael Storch: Anthropologie als Engagement. Studien zu Alfred Döblins Frühwerk.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
648 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783826063305

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