Wutbürger? Pornograf? Kenner der Kulturen!

Zwei Bände mit packenden Texten des vor 100 Jahren gestorbenen Schriftstellers Oskar Panizza sind erschienen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der in Franken geborene Panizza hat von 1853 bis 1921 gelebt, seit 1880 war er Dr. med. Er ist mit seinen ersten Publikationsjahren in die literarische Epoche des Naturalismus hineingeboren, hat aber die bald einsetzende staatserhaltende Tendenz der Naturalisten (nennen wir Michael Georg Conrad, Gerhart Hauptmann) nicht mitgemacht. Die letzten 16 Jahre seines Lebens hat er in Heilanstalten verbracht, ohne zu schreiben. Die hier zu besprechenden Bände, jetzt 100 Jahre nach Panizzas Todestag erschienen, zeigen den Schriftsteller in seiner ganzen Breite. 

Er war Essayist (Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit), Dramatiker (Der heilige Staatsanwalt, Das Liebeskonzil, Ein guter Kerl) und Verfasser scharfer Zwiegespräche (Dialoge im Geiste Hutten’s) und dabei von großer Sprachgewalt. Schiller bringe, schreibt er beispielsweise, „in seiner ‚Kabale und Liebe‘ das eitrige Gehirn dieser deutschen Fürsten zum Stinken“. Ostern sei die „Gelegenheit zum Freßen“, „das Schwein steigt in diesen Tagen der Auferstehung Christi zu einem wahrhaft herkulischen Simbol empor und fegt […], grunzend und Fettspuren zurücklaßend, durch die dike Luft Münchens und durch die Herzen ihrer Bewohner“. Im Liebeskonzil erzählt eine mit Seelenmessen versorgte und im Himmel angekommene 14-Jährige, die von ihrem geilen Schulrektor totgequält worden ist: „Er erdrückte mich und vergiftete mich und bespie mich mit seinem heißen Atem“. Panizzas eigenwillige Orthografie nimmt Verfahren des um zwei Generationen jüngeren Arno Schmidt vorweg.

Wie hier schon sichtbar wird, attackiert Panizza die sozialen Auswüchse, und zwar einerseits das damalige neue preußisch-deutsche Staatsdenken und andererseits die Macht der katholischen Kirche – und bei alledem immer wieder die Dummheit und Feigheit der deutschen Menschen. Voller Wut sagt Panizza im ersten der Dialoge im Geiste Hutten’s:

In Berlin werden täglich 40,000 Majestätsbeleidigungen begangen – im Flüsterton. Sonst verständigen sie sich politisch durch Zeichen und Fisematenten. Erscheint Er aber, dann regt sich in ihnen das asiatische Geblüt und sie stürzen zu Boden und küßen des Roßes Hufen. Sind es keine Hausknechte?

(Mit ‚asiatischem Geblüt‘ will Panizza eine geistige Verwandtschaft zwischen Preußentum und zaristischem Russland betonen.) Und in München? Dort habe man „vor allem, was Geist hat,“ – Panizza nennt Richard Wagner und Wissenschaftler wie Heinrich Sybel – „ein unüberwindliches Grauen“ und werfe es hinaus: Das sei der „spezifisch katholische Geisteszustand“, der sich „hinter mittelalterlichen Gefühlen“ verbarrikadiere. Wir dürfen übrigens nicht übersehen, dass das, was Panizza hier voller Sarkasmus ausspricht, nämlich die kulturfeindliche Haltung der katholischen Welt, etwas war, was auch intelligente Katholiken sahen und bedauerten. 1898 veröffentlichte der katholische Publizist Carl Muth seine Broschüre Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?, in der er – es war eine Art Paukenschlag – den künstlerischen Nachholbedarf seiner Glaubensgenossen herausstellte und ihn beklagte: Kunst messe sich nicht daran, wie weit sie mit irgendwelchen Dogmen übereinstimme. 1903 gründete Muth die Kulturzeitschrift ‚Hochland’ (die bis 1974 existierte), ein katholisch-avantgardistisches Blatt von Niveau, und es wäre einmal zu untersuchen, inwieweit die Geburt von ‚Hochland’ auch Panizzas Polemiken zu verdanken ist.

Ein Blick auf Das Liebeskonzil (1895), Panizzas berühmtestes Drama, gepriesen von Fontane, Freud, Tucholsky, Mehring. Teils spielt es im Himmel mit einem sabbernden, hilflosen Herrgott und teils auf der Erde, im Papstpalast von 1495. Beeinflusst ist es vom Buch Hiob und von Goethes Faust, von Schillers Pathos (Panizzas Teufel verlangt für sich „Gedankenfreiheit“) und von Molières Ballettkomödien, von Gemälden Michelangelos und von Ideen der frühen Pop Art. Das Stück wurde als blasphemisch beurteilt und verurteilt und hat Panizza eine Haftstrafe von einem Jahr eingebracht. Es ist freilich nicht blasphemisch, gelästert wird nicht über Gott, sondern über das anthropomorphe Gottesbild gewisser Glaubenskreise („Gott, dieser Katholizismus steht mir schon bis daher!“, seufzt Maria in der dritten Auflage). Eher ist das Stück pornografisch zu nennen angesichts der Sex-Party beim Papst mit ihren Peepshow- und Beischlaf-Momenten; allerdings kann sich Panizza auf authentische Dokumente berufen.

Das Stück hat bildende Künstler inspiriert – George Grosz, Alfred Kubin, in neuerer Zeit Jens Rusch –, und es blieb lange, bis 1967, ungespielt und ähnelt damit Karl Mays weltanschaulichem Drama Babel und Bibel (1906), in dem man auch „durch den Sumpf des Lebens watet“ (May).

Festzuhalten bleibt bei alledem, dass der Atheist Panizza den Monotheismus zu loben vermag („eine der gewaltigsten geistigen Kräfte, die je der Menschheit dienstbar gemacht wurden“), ein Fan von Martin Luther ist (heute wäre dieser „bei den Sozialdemokraten“) und den Materialismus ablehnt: Er sieht in diesem „die verzweifelten Versuche, sich um das Denken herumzudrüken“. Panizza ist also keineswegs nur ein wütender Kritiker und Satiriker, er ist ein hervorragender Kenner der Mythen und überhaupt der Kulturgeschichte. Sehr aufschlussreich ist eine Passage im Dialog Ueber die Deutschen, in der er darlegt, was aus Mitteleuropa geworden wäre, wenn das Christentum es nicht erobert hätte. „Zwischen Tazitus und Gregor VII“, heißt es sarkastisch, „muss etwas über sie [die Deutschen] gekommen sein, ein Einfluß, ein verschleimendes Gift“; so wurde die deutsche Seele „christlich, feig, zerknirscht, hündisch, erbärmlich“. Woanders war es besser, da existierte auch noch „der gallische Rest“ (in Frankreich), „die erotische Bestie“ (in Italien; Panizza hatte beide Länder ausgiebig bereist). Das hört sich plakativ an, aber es sind doch tiefe Einblicke in die Mentalitäten der Völker, ausgesprochen von einem Mann, der eben auch Kultursoziologe war.

Diese beiden Bände sind Teil einer geplanten Panizza-Gesamtausgabe. Man muss die Bände schätzen, und ihrem Verleger Günther Emig ist großes Lob auszusprechen: Panizzas Text wird in der originalen Rechtschreibung gebracht, beim Liebeskonzil werden alle drei frühen Auflagen benutzt, und es sind sehr gut orientierende Nachworte von Damir Smiljanić und Peter D. G. Brown beigegeben. Freilich wünschte man sich auch Erläuterungen zu heute fast vergessenen Namen und Begriffen. Wer war Carl von Württemberg, Uhde, Arnold von Brescia? Was bedeutet „Utrieren“, was war der Paragraf „166“?

Titelbild

Oskar Panizza: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit – Ein guter Kerl – Abschied von München – Dialoge im Geiste Hutten’s.
Mit einem Nachwort von Damir Smiljanić.
Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten 2021.
260 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783948371883

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Titelbild

Oskar Panizza: Der heilige Staatsanwalt. Das Liebeskonzil. Meine Verteidigung in Sachen „Das Liebeskonzil“.
Mit einem Nachwort von Peter D. G. Brown.
Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten 2021.
245 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783948371845

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