Franz Lindners letzte Aufzeichnungen
Mit dem posthum erschienen Roman „Die Imker“ vollendet der Österreicher Gerhard Roth (1942–2022) sein gewaltiges Oeuvre
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAn einem Wintertag gegen Ende des Jahres 1963 scharten sich sechs Studenten um den Seziertisch, um einer Gehirnsektion beizuwohnen. Unter ihnen der damals 21-jährige Gerhard Roth. Sie schauten zu, wie der Assistent mit dem Skalpell das Brocasche Sprachzentrum freilegte, dann den Hippocampus, und andächtig weiter in die Tiefe des Gehirns vordrang, „als könnte er die Fragen unserer Existenz ein für alle Male lösen“. Die Szene beschreibt Gerhard Roth gegen Ende seines autobiographischen Buches Das Alphabet der Zeit (2007). Der Arztsohn und Student ahnte vermutlich bereits damals, dass aus ihm kein Mediziner würde und dass die Suche mit dem Skalpell vergeblich bleiben musste. Er sollte sich schon bald auf eine andere Methode besinnen: auf das literarische Schreiben.
Fünfzig Jahre lang hat Gerhard Roth dem Gehirn, dem Denken und der Wahrnehmung in seinem gewaltigen Werk nachgeforscht, um in aller Bescheidenheit am Ende vielleicht so weit gekommen zu sein wie im Roman Die Imker sein Protagonist Franz Lindner, der ein Gehirnmodell mit sich herumträgt, um es wie einen Zauberwürfel immer wieder auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Diesen letzten Roman hat Roth wenige Wochen vor seinem Tod am 8. Februar 2022 noch zu Ende gebracht. Ein letztes Mal setzt er darin Franz Lindner als Ich-Erzähler ein. Wer Roths früheres Werk kennt, ist ihm schon einmal begegnet. Er ist eine zentrale Gestalt in Roths Erzählkosmos, zusammen mit ein paar anderen Figuren, die er über die Jahre hinweg immer wieder in seinen Büchern auftreten ließ, etwa den Anwalt Sonnenberg oder Lindners kriminell vorbelasteten Vormund Alois Jenner. Lindner aber ist sein Faktotum bei seinen cerebralen Forschungen in den Abgründen zwischen normal und abnormal.
Er, der Sohn eines Bienenzüchters, ist hochbegabt und leidet an Schizophrenie, weshalb er in der Psychiatrischen Klinik Gugging im „Haus der Künstler“ wohnt, einer real existierenden Einrichtung im Umfeld des Gugginger Art-Brut-Museums. Angesichts der Welt verstummt Lindner immer wieder, dafür erschließt sich ihm das Ungesagte. Er kann mit den Tieren kommunizieren und die Gedanken von Menschen lesen. Als Therapie für seine Hirngespinste haben ihm die Ärzte geraten, diese niederzuschreiben, was er fleißig tut und wofür ihm Gerhard Roth in mehreren seiner Bücher Gelegenheit gibt. Den ersten großen Auftritt hatte Lindner im Roman Landläufiger Tod, dem Mittelstück des Zyklus Die Archive des Schweigens (1980–1991). Nach Anfängen im Bereich sprachlicher Experimente, etwa die autobiographie des albert einstein (1972), und nach gesellschaftskritischer erzählerischer Prosa (Der große Horizont, 1974) fand Roth in den Archiven zu der für ihn charakteristischen literarischen Form, in der sich Erzählung, Dokumentation und Fotografie miteinander mischen. In einem Essay über Landläufiger Tod beschrieb W.G. Sebald diese Form als mythopoetisches Verfahren, das „in der Dissolution der (erzählerischen) Vernunft durch die Intensität poetischer Imagination“ besteht. Im Zentrum davon stehen die Erzählerfigur Lindner und seine Verstörung, der zufolge Gedankensprünge und Wahrnehmungen die Geschichte auf eine Ebene heben, „wo dem bloß Literarischen die Luft ausgehen muss“. Sein Sammelwahn bringt, so Sebald weiter, alle Elemente, Objekte, Bruchstücke der Geschichte „als Baumaterial in den Prozess der Rekonstruktion eines in zunehmenden Maß im Verschwinden begriffenen Lebens“ ein.
In der Gestalt wird Linder zum Alterego Roths. Wo sein Terrain endet, tritt der Autor Roth selbst – unter eigenem Namen oder als „Der Schriftsteller“ – in seine Bücher ein und übernimmt in den Archiven des Schweigens und später im achtbändigen Orkus-Zyklus (1995–2011) die Rolle des Dokumentaristen und Archivars. Die von Sebald angesprochene Dissolution zeigt sich darin, dass sich so Fiktion und Reportage, Sprache und Fotografie, Mythopoesie und Essay, Psychiatrie und Politik zu einer umfassenden Dokumentation der österreichischen Gegenwart und ihrer verdrängten Geschichte formen, welche Roth intensiv aufarbeitet. Er sei ein „Eichmeister der österreichischen Wirklichkeit“, sagte der Laudator Andre Heller über ihn 2003 anlässlich der Verleihung des „Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien“.
Legte Franz Lindner seine Aufzeichnungen zu Landläufiger Tod noch unter der Aufsicht seines Vormunds Jenner ab, kehrt er nach weiteren Gastauftritten in Orkus. Reise zu den Toten (2011) hier in Die Imker, mittlerweile 62-jährig geworden, von seinem Vormund befreit auf. Er lebe, schreibt er, im Künstlerhaus wie ein Molch „im Dunklen – das Universum ist in mir selbst“, hier zeichne er seine „Halluzinationen“ auf, „seltsame Bilder und Gedanken ohne Zusammenhang“, mit denen er näher an seine eigene Wirklichkeit herankomme – denn wenn es eine menschliche Wirklichkeit überhaupt gäbe, wäre sie ohnehin unerträglich.
Diese Ruhe gerät indes durch „etwas Ungeheures“ in Bewegung. Am 1. April senkt sich auf einmal ein gelber Nebel über die Welt, hüllt sie ein und gibt sie wenig später in sonderbarem Zustand wieder frei. Die Menschen haben sich in Luft aufgelöst. In den fahrbereiten Autos, den Geschäften und Häusern sind nur noch Kleider, Schmuck und hin und wieder ein Gebiss von ihnen übriggeblieben. Doch es gibt einige Überlebende: die Insassen der Anstalt Gugging, mitsamt ihren Betreuern. Wo die Welt auf einmal verrückt spielt, überleben „‘unnütze‘, ‚unbrauchbare‘ Menschen“: Eingesperrte aller Art. Bald tauchen auch ein paar Zootiere auf, und die Bienen. Für die kleine Gruppe der Überlebenden ist das Ausmaß der Katastrophe kaum zu überblicken, auch wenn sich ihnen ein Feldwebel anschließt, der einen Helikopter startklar machen kann. Die fast menschenleere Ödnis lässt Franz Lindner an Gott zweifeln. Und so beginnt er auch diese reale Halluzination präzise festzuhalten, wie er es schon immer getan hat, um wenigstens für Momente der Schwerkraft des normalisierten Denkens zu entkommen. „Schreiben ist die Metamorphose der Gedanken von der Erlebnisraupe über die Erinnerungspuppe zum Buchstabenschmetterling“, notiert er. Dabei bleibt er ganz bei sich, denn „schon immer wollte ich nicht verstanden werden“. Er beschreibt den neuen Alltag aus seiner Perspektive, notiert sein eigenes Tun und erzählt von Büchern und Filmen, die er mag. Seine Aufzeichnungen bilden ein heterogenes Kontinuum von Gedanken und Beobachtungen – und von Visionen? Letzteres bleibt unklar.
Mit den offenen Sinnen Lindners schaut auch sein Autor Roth auf die Welt, die im Imker gerade unterzugehen scheint. Doch während die Menschen, diese kreativen Erbauer und zugleich wahnhaften Zerstörer, flugs verschwinden, erblüht die Natur. Ihre Schönheit symbolisiert sich für Roth – wie der Titel andeutet – in den Bienen und ihrer metaphorischen, kulturellen und mythologischen Bedeutung. Roth hegt seit jeher eine tiefe Wertschätzung für diese emsigen Tiere, denen er auch ein schmales Buch (Über Bienen, 1996) gewidmet hat. Deshalb erstaunt es nicht, dass sein Erzähler gegen Ende des Romans seine „geheime Dissertation“ über das Leben der Bienen veröffentlicht, bevor wenig später nochmals alles drunter und drüber geht. Exakt zwei Jahre nach dem gelben Nebel setzt unvermittelt die Schwerkraft aus. Es regnet Spielzeuge und dann breitet sich eine gespenstische Stille aus. Wozu noch etwas schreiben, wenn niemand es mehr lesen wird, notiert Lindner und setzt „den Schlusspunkt. Doch nichts weiter geschah.“
Für den Autor Roth ist Lindner eine Trickster-Figur, die auf dem Grenzzaun zwischen normal und abnormal sitzt und diese Grenze laufend verwirbelt, um so darauf hinzuweisen, was Roth genauer ergründen möchte: das Rätsel, „was in einem andern vor sich geht, selbst wenn man die betreffende Person mehr oder weniger gut kannte“. Immer wieder wird Lindner von Schlaf- und Migräneanfällen überfallen, vor allem, wenn er die Medikamente nicht regelmäßig einnimmt. Ein derart unverlässlicher Erzähler prägt selbstredend auch den Roman Die Imker. Geschieht, was er erzählt, oder glaubt er bloß zu sehen, was er notiert. Hält er seine Visionen für wirklich, oder ist die Wirklichkeit eine Vision? Einmal schreibt Lindner, mit Bezug auf seinen Neffen Eugen: „Die Realität war für ihn die Wahrheit, während ich nicht verstand, weshalb er die Grenzen der Wahrheit nicht erkannte.“ Darin steckt ein Kernmotiv, das Gerhard Roth in seinem ganzen Werk umspielt. Nicht dass er grundsätzlich dem, was Wirklichkeit heißt, misstraut hätte, aber Roth hat all das Verdrängte, das der Geschichte und der Erinnerung, also der Wirklichkeit laufend entzogen und so entsorgt wird, stets mit im Blick gehabt. Lindner staunt einmal, „dass sich alle für unschuldig hielten“; vergessen waren die Gräuel der Nazizeit – auch jene in Gugging, wo Hunderte von Patientinnen und Patienten systematisch von den Nazis ermordet wurden. Zugleich ahnte Roth, dass in den Einfällen der Nicht-Normalisierten ebenfalls eine Wahrheit, eine Normalität steckte, mit welcher das „Abnormale“ ins eigene Leben integriert würde. Mit ihrer Berufswahl, schreibt Lindner, hätten seine Doktores „in die Kaste der Sieger gewechselt, die sie vor dem Leben als Verlierer bewahrte“. Allein, Patienten könnten die Normalität nicht spielen, Psychiater schon, notiert er.
Diesen Topos umkreist Die Imker mit beeindruckender Hartnäckigkeit und Differenziertheit. Normalität beurteilt für Roth alles nach dem „Faktor der Nützlichkeit“, wie sein Alterego notiert, dabei aber sei diese sogenannte Normalität „für die gesamte Geschichte der Menschheit verantwortlich […]: Kriege, Diktaturen, die abscheulichsten Verbrechen, die fast ausschließlich von normalen Menschen begangen worden“ sind. Gugging und das „Haus der Künstler“ ist für ihn ein Rückzugsort gegen den trügerischen Glauben an das Normaldenken. Die Vorliebe für diesen Ort war stets mehr als ein kunstästhetisches Faible für die wunderlichen Schöpfungen von Künstlern wie August Walla oder Oswald Tschirtner. Gerhard Roth hatte eine intensive Beziehung zu dieser Brutstätte der Art-Brut-Kunst. Regelmäßig war er Gast im „Haus der Künstler“, um mit und bei diesen zu arbeiten und sich von ihrer phantastischen Welt beeindrucken und beeinflussen zu lassen. In diese Tradition nimmt er im Imker weitere Referenzen aus Kunst, Film und Literatur mit auf: Bruegels Bilder, Ernst Haeckels Welträtsel, Lewis Carrolls Alice im Wunderland, Jean-Henri Fabres Insektenkunde, Tarkowskis kontemplative Filme, Walter Benjamins „Angelus novus“, Buñuels und Dalis Un chien andalou.
Die Welt geht zugrunde. Aus dem Geist von Lindners disparatem und unzuverlässigem Zettelkasten erhält die literarische Dystopie jedoch mehr und mehr etwas Surreales, Schwebendes, ja Engelhaftes, wie Lindner selbst. In kurzen Fallgeschichten stellt Roth weitere solcher Engel vor. Und mehrere Kapitel mit „Gedichten“ demonstrieren, welche poetisch-surreale Kraft in unwirklichen Sätzen stecken kann wie: „Noch nie war ich glücklicher als in zwei Jahren.“
Franz Lindner ist die raffinierte Maskerade seines Autors, hinter der er versteckt seine Skepsis und seinen Pessimismus ohne pathetische Anwandlungen formuliert. Mit dessen Naivität stellt Gerhard Roth die Frage, ob es gut ist, wenn die Zukunft denen überlassen wird, die zweifelsfrei wissen, was wahr und gut, also normal sei?
Dennoch bleibt Lindner stets Lindner, bis in stilistische Eigenheiten hinein. So nennt er seine Mitbewohner stets formal korrekt, etwa Dr. Brandtner oder Dr. Schäfer – ganz verhaftet dem hierarchischen Kliniksystem. Einzig sein Neffe Eugen und vor allem seine späte Geliebte Malia kommen ihm so nahe, dass er den Nachnamen vergisst. Zum einen zeichnet sich Lindner durch wachen Intellekt aus, mit dem er komplexe Zusammenhänge notiert, zum anderen lässt er im Dunkeln, ob er nicht doch seinen eigenen Visionen und Träumen erliegt. Die Kraft dieses Romans besteht in diesem Zwielicht, in dem sich Realität und Vision, Fiktion und Dokument mischen. Die Analyse von Vergangenheit und Gegenwart werden um eine apokalyptische Halluzination erweitert, in der sich unsere conditio humana im Ausnahmezustand spiegelt. Nochmals greift Gerhard Roth all die Motive und Themen auf, die er in den Archiven des Schweigens aus der Tiefe Österreichs hob, im Orkus-Zyklus um Elemente der globalen politischen Aktualität erweiterte, im irrlichternden Grundriss eines Rätsels (2014) zerstreute und in der Venedig-Trilogie (2017–2021) im Wahn seiner Protagonisten aufgehen ließ. Die Imker bildet so den grandiosen Abschluss dieser Erzählbewegung, indem die zentralen Motivstränge ein letztes Mal aufgenommen und miteinander verknüpft werden. Zum Schluss hinterlässt uns Gerhard Roth sein Werk ganz so wie es Franz Lindner tut. Ein kurzes Nachwort besagt, dass diese Aufzeichnungen sechs Monate nach dessen Tod im „Haus der Künstler“ gefunden worden seien, mit dem Vermerk: „VERBRENNEN“. Einzig dieses letzte Wort gilt es zu ändern: es muss LESEN heißen.
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