Die Verknüpfung der alltäglichen mit der phantastischen Welt

Zahlreiche Neuerscheinungen würdigen den 200. Todestag von E.T.A. Hoffmann

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Wochentage bin ich Jurist und höchstens etwas Musiker, Sonntags am Tage wird gezeichnet und Abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht.“ Mit diesem kurzen Briefzitat an seinen Jugendfreund und den späteren Staatsmann Theodor Gottlieb von Hippel (1775-1843) fasste der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann gewissermaßen seine Biografie in einem Satz zusammen. Hoffmanns Talente waren außerordentlich vielseitig. Bevor er sich dem Schreiben zuwandte, betätigte er sich recht erfolgreich als Komponist und Kapellmeister. Bekannt wurde er auch als Zeichner, Karikaturist und Illustrator, u.a. seiner eigenen Bücher. Obwohl er relativ spät mit den deutschen Romantikern in Kontakt trat, wurde er mit seinen phantastischen Geschichten und Schauernovellen einer der größten deutschen Erzähler der Romantik.

Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann wurde am 24. Januar 1776 in Königsberg/Pr. als Sohn des Hofgerichtsadvokaten Christoph Ludwig Hoffmann (um 1736-1797) und dessen Gattin (und Cousine) Louise Albertine (1748-1796, geb. Doerffer) geboren. Zwei Jahre nach Hoffmanns Geburt trennten sich die Eltern, ohne sich förmlich scheiden zu lassen. Der Vater blieb vorerst mit dem älteren Bruder Johann Ludwig (1768-nach 1822) in der elterlichen Wohnung, ehe er als Justizkommissar nach Insterburg ging; die Mutter dagegen zog mit dem kleinen Ernst Theodor Wilhelm zurück zu ihrer Mutter. So wuchs er in der Obhut der Doerffer’schen Familie auf, in der pietistische Frömmigkeit und engstirnige Moralvorstellungen vorherrschten. Die Erziehung des Jungen übernahm vorwiegend Otto Wilhelm Doerffer, ein Bruder der Mutter. Ab 1782 besuchte Hoffmann die reformierte Burgschule. Hier schloss er Freundschaft mit seinem gleichaltrigen Mitschüler Hippel, die bis zu seinem Tode währen sollte. Ab 1790 erhielt Hoffmann Musikunterricht bei dem Königsberger Domorganisten und Bach-Anhänger Christian Wilhelm Podbielski (1741-1792) sowie Zeichenunterricht bei dem Maler Saemann. Nach familiärer Tradition nahm er 1792 ein Jurastudium an der Universität Königsberg auf. Während des Studiums malte und komponierte er und gab Musikunterricht. Außerdem hatte er eine leidenschaftliche Affäre mit seiner Musikschülerin Dora Hatt, der neun Jahre älteren und verheirateten Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers.

Als die Mutter 1796 starb, beschloss die Familie, dass Hoffmann nach Glogau umziehen sollte zu seinem Patenonkel Johann Ludwig Doerffer (1743-1803), der ihn in die Gerichtspraxis einführte und dem er zwei Jahre später nach Berlin folgte. Hier genoss er das hauptstädtische Kulturleben, besuchte Konzerte, Theater, Galerien. Später gehörten auch der Direktor des königlichen Theaters August Wilhelm Iffland (1759-1814) und der Sänger und Schauspieler Franz von Holbein (1779-1855) zu seinem Freundeskreis. Bei dem bekannten Kapellmeister und Schriftsteller Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) nahm Hoffmann weiteren Kompositionsunterricht. In den darauffolgenden Jahren entstand der umfangreichste Teil seines kompositorischen Œuvres, wobei er meist auf Librettos anderer zurückgriff: Die Maske (1799), Scherz, List und Rache (1802), Die lustigen Musikanten (1805), Die ungebetenen Gäste (1805), Liebe und Eifersucht (1807), Der Trank der Unsterblichkeit (1808), Sabinus (1810), Saul, König in Israel (1811) und Aurora (1812). Obwohl Hoffmann heute vor allem als Literat gesehen wird, sah er sich selbst in erster Linie als Komponist. Die Musik galt ihm als die einzig wahre Kunst, was die Änderung seines dritten Vornamens von Ernst Theodor Wilhelm in Ernst Theodor Amadeus im Jahr 1805 deutlich machte. Damit drückte er seine Verehrung für den vierzehn Jahre zuvor verstorbenen Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) aus. Hoffmanns musikalische Betätigungen waren äußerst vielfältig, neben den Bühnenwerken und Kompositionen gab er auch Gesangsunterricht, dirigierte und verfasste theoretische Schriften zur Musik. Auch in seinen späteren literarischen Texten spielte das Motiv der Musik häufig eine große Rolle.

Im Frühjahr 1800 bestand er das dritte juristische Examen mit der Note „vorzüglich“. Sein Wunsch, weiter in Berlin zu arbeiten, wurde jedoch nicht erfüllt, stattdessen erfolgte die Versetzung als Assessor nach Posen, das wenige Jahre zuvor noch zum Königreich Polen gehört hatte. Hier komponierte er das Singspiel Scherz, List und Rache (nach Goethe), das in Posen aufgeführt wurde. Jean Paul (1763-1825), dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, sandte die Partitur an Goethe. Nach der Auflösung der Verlobung (1798) mit seiner Cousine Minna Doerffer, heiratete Hoffmann im Juli 1802 die Polin Michaelina Rorer-Trzcinska (Mischa, 1778-1859). Das junge Paar lebte im polnischen Plock, wohin Hoffmann wegen bissiger Karikaturen über die Posener Honoratioren und ihre Kleinbürgerlichkeit strafversetzt worden war. In der polnischen Provinz fühlte sich Hoffmann wie im „Exil“ und führte mit Mischa in ärmlichen Verhältnissen ein zurückgezogenes Leben. Vergeblich bemühte er sich um eine Versetzung in eine der westlichen preußischen Provinzen. Erst 1804 verhalf ihm sein Freund Hippel zu einer Stelle als Regierungsrat in Warschau, das nach der dritten Teilung Polens 1795 Hauptstadt der Provinz Süd-Preußen war.

Die Jahre in Warschau (1804-1807), wo Hunderte von deutschen Beamten tätig waren, wurden eine glückliche Zeit für Hoffmann. Hier lernte er den Juristen, Verleger und Schriftsteller Julius Eduard Hitzig (1780-1849) kennen, der Hoffmann mit den Werken der Romantik (Schlegel, Tieck, Brentano und Fichte) bekannt machte und der nach seinem Tod auch sein erster Biograf werden sollte. Mit dem Dichter und Dramatiker Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768-1823) traf Hoffmann auch einen alten Bekannten aus den Königsberger Tagen. Während er vormittags am Obergericht tätig war, widmete er sich danach der Musik. Es entstand eine Fülle von Kompositionen, dazu hatte er Auftritte als Dirigent und Sänger und war maßgeblich an der Gründung der „Musikalischen Gesellschaft“ zu Warschau beteiligt. Im Juli 1805 wurde er Vater einer Tochter, die er auf den Namen Cäcilia, der Patronin der Musik, taufen ließ.

Die glücklichen Warschauer Jahre fanden mit dem Einmarsch der Napoleonischen Truppen im November 1806 ein jähes Ende. Nach der Auflösung der preußischen Behörden wurde der Regierungsrat Hoffmann aus dem Dienst entlassen. Seine Frau schickte er mit dem Töchterchen zu Verwandten nach Posen in Sicherheit, wo die kleine Cäcilia jedoch wenig später verstarb. Hoffmann selbst ging im Frühsommer 1807 nach Berlin. Es folgten schwere Monate der finanziellen Not, der Armut und der erfolglosen Stellensuche. Über ein Zeitungsinserat fand er schließlich 1808 eine Stelle am Bamberger Theater, zunächst als Kapellmeister. Die Hoffnung, damit eine dauerhafte Berufung als Musiker zu finden, erfüllte sich jedoch nicht. Nach dem finanziellen Einbruch des Theaters musste sich Hoffmann mit Klavier- und Gesangsunterricht über Wasser halten. Ab 1810 war er dann am neu formierten Bamberger Theater als Direktionsgehilfe tätig, arbeitete aber auch als Theatermaler und weiterhin als Komponist.

Nach dem Scheitern seiner musikalischen Karriere wandte sich Hoffmann nun endgültig der Schriftstellerei zu. In zahlreichen Skizzen, Essays und Erzählungen verarbeitete er zunächst seine Musikleidenschaft und Theatererfahrungen. Die kurze Erzählung Ritter Gluck, die 1809 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung erschien, war seine erste literarische Veröffentlichung. Mit dem Bericht über den musikalischen Schaffensprozess setzte er dem Komponisten Christoph Willibald Gluck (1714-1787) ein literarisches Denkmal. Neben Rezensionen konnte Hoffmann in dem bedeutenden Musikfachblatt in den folgenden Jahren weitere Erzählungen unterbringen.

Durch die Bekanntschaft mit dem Arzt Adalbert Friedrich Marcus (1753-1816), der Vorsteher der Bamberger Irrenanstalt „St. Getreu“ war, kam Hoffmann in Kontakt mit der Psychiatrie der damaligen Zeit und beschäftigte sich intensiv mit der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema. 1813 befand sich Hoffmann wieder in finanzieller Not, sodass er dem Ruf des Schauspieldirektors Joseph Seconda (1761-1820) folgte, Musikdirektor bei dessen reisenden Operntruppe zu werden, die in Dresden und Leipzig wirkte. Über dreißig verschiedene Musikstücke dirigierte Hoffman in dem geschichtsträchtigen Jahr 1813. Nebenbei entstanden weitere Erzählungen wie Der Magnetiseur, Die Atomate oder das Märchen Der goldene Topf; außerdem begann er mit der Niederschrift seines ersten Romans Die Elixiere des Teufels, der in zwei Teilen 1815 und 1816 erschien. Nach einem Zerwürfnis mit Seconda verlor Hoffmann jedoch zum wiederholten Male seine Stelle. Daher gab er sein Leben als freier Künstler auf und ging im September 1814 mit seiner Frau nach Berlin, wo er in den preußischen Staatsdienst zurückkehrte. Durch Hippels Protektion gelang eine Anstellung am Berliner Kammergericht, wo er als Strafrichter tätig war. In Berlin sollte Hoffmann seine letzten acht Lebensjahre verbringen und machte hier die Bekanntschaft von Fouqué, Chamisso, Tieck, Carl Maria von Weber u.a.

Die Berliner Jahre mit der Doppelexistenz als preußischer Beamter und als Künstler wurden zu Hoffmanns eigentlicher literarischer Produktion. Die juristische Tätigkeit schärfte dabei seinen Blick für groteske Formen des Spießbürgertums. Zunächst entstanden zahlreiche Erzählungen, die in Almanachen und Jahrestaschenbüchern veröffentlicht wurden. Die Verleger rissen sich förmlich um den dichtenden Kammergerichtsrat und verlangten Prosatexte von übersichtlicher Länge, die sich für Hoffmann neben dem juristischen „Brotberuf“ leicht schreiben ließen. Mit Nachtstücke erschien 1816 eine erste zweibändige Sammlung dieser Texte, darunter die bekannte Erzählung Der Sandmann. Zusammen mit einigen Schriftstellerfreunden fand sich Hoffmann in dem Zirkel der „Seraphinenabende“ zusammen, wo in gemütlicher Atmosphäre literarische Gespräche stattfanden und gemeinsame Publikationen vorbereitet wurden. Auf Anregung des Verlegers Georg Andreas Reimer (1776-1842) entstand daraus die Idee, eine vierbändige Sammlung von Erzählungen unter dem Titel Serapionsbrüder (1819-1821) herauszugeben. Mithilfe einer Rahmenhandlung vereinigte Hoffmann hier seine verstreut publizierten Erzählungen, Märchen und Essays zu einem umfassenden Erzählwerk. Viele seiner bekanntesten Geschichten sind darin enthalten: Nussknacker und Mausekönig, Das Bergwerk von Falun oder Das Fräulein von Scuderi. Weitere bekannte Werke der Berliner Jahre waren das Kunstmärchen Klein Zaches genannt Zinnober oder der Roman Lebensansichten des Katers Murr. Einen großen Erfolg feierte Hoffmann mit seiner Oper Undine (nach einem Libretto von Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843)), die am 3. August 1816 im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt anlässlich des Geburtstages des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. uraufgeführt wurde. Kein geringerer als der berühmte Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) schuf die Bühnenbilder.

1819 wurde Hoffmann Mitglied der „Immediat-Untersuchungskommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“. In mehreren Gutachten setzte er sich jedoch für die Freilassung inhaftierter „Demagogen“ ein. So auch im Fall von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852). Der Turnvater Jahn war wegen staatsgefährdender Propaganda verhaftet worden. Obwohl Hoffmann die Freilassung des Angeklagten forderte, wurde Jahn ohne rechtsstaatliches Verfahren zu sechs Jahre Festungshaft verurteilt.

Nachdem Hoffmann im August 1821 aus der „Immediat-Untersuchungskommission“ ausgeschieden war, verarbeitete er die Gesinnungsschnüffelei der preußischen Behörden in dem Märchen Meister Floh. Daraufhin wurden das Manuskript und die bereits gedruckten Bogen beschlagnahmt. Das gegen Hoffmann eingeleitete Disziplinarverfahren – er war inzwischen in den Oberappellations-Senat des Kammergerichts befördert wurden – erlebte er nicht mehr. Nach schwerer Krankheit mit zunehmender Lähmung, die sogar den Halsbereich erreichte, starb Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, mitten im Diktieren einer neuen Erzählung (Des Vetters Eckfenster), am 25. Juni 1822 im Alter von 46 Jahren. Drei Tage später wurde er auf dem Jerusalemer Friedhof beigesetzt. Den Grabstein stifteten Freunde, da die preußische Regierung der Witwe die Auszahlung noch ausstehender Gehälter des „Aussätzigen“ verweigerte.

Der oft seltsame und doch geniale Künstler Hoffmann hinterließ zwei Romane und über fünfzig Erzählungen, ein Dutzend Bühnenstücke sowie knapp zwanzig Instrumental- und Gesangswerke. In seinen literarischen Werken thematisierte er als einer der Ersten Persönlichkeitsspaltung, Doppelgängertum, Identitätsspaltung oder Verfolgungswahn. Obwohl er sich mit diesen Sujets zu Lebzeiten und in den Jahren nach seinem Tod beim deutschsprachigen Publikum außerordentlicher Beliebtheit erfreute, stieß er mit der Eigentümlichkeit seiner Werke in den literarischen Fachkreisen der damaligen Zeit vielfach auf Ablehnung (Heine, Eichendorff, Börne u.a.). Bekannt geworden ist das Urteil von Johann Wolfgang von Goethe: „Welcher treue, für Nationalbildung besorgte Teilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke jenes leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutend fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft wurden.“ Diese Negativurteile unter dem Einfluss der deutschen Klassik sollten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als äußerst zählebig erweisen. Erst mit dem Interesse der Expressionisten kam eine Wiederbeschäftigung mit E.T.A. Hoffmann in Gang. Es war vor allem ein Verdienst des österreichischen Schriftstellers Franz Blei (1871-1942), ihn „von seinem dummen Ruf als ein Schauergeschichtenerzähler“ zu befreien, was sich dann auch in der Herausgabe großer Gesamtausgaben niederschlug. Obwohl sich die Literaturwissenschaft nur zögerlich ein positives Verhältnis zu Hoffmanns Werken zu eigen machte, war sein Einfluss im 19. Jahrhundert fast europäisch – von Gogol und Dostojewski, über Charles Baudelaire bis zu Edgar Allan Poe. Seine Ideen spiegelten sich dann im 20. Jahrhundert vor allem in den Werken von Thomas Mann, Paul Scherbart, Franz Kafka oder Arno Schmidt wider.

Nach den beiden 250. Geburtstagen von Friedrich Schlegel (10. März) und Novalis (Friedrich von Hardenberg, 2. Mai) ist der 200. Todestag von E.T.A. Hoffmann das dritte literarische Romantikjubiläum in diesem Jahr, das ebenfalls mit zahlreichen Neuerscheinungen gewürdigt wird. Der Anaconda Verlag brachte in einer Dünndruckausgabe die beiden Romane Die Elixiere des Teufels und Lebensansichten des Katers Murr heraus. In seinem schaurig-düsteren Roman Die Elixiere des Teufels stellte Hoffmann die „Nachtseiten“ der menschlichen Existenz dar. In einer fiktiven Autobiografie wird die Lebensgeschichte des Kapuzinermönches Medardus erzählt, der ein im Kloster verwahrtes geheimnisumwittertes Elixier trinkt und fortan von Mordgedanken und sinnlicher Begierde verzehrt wird. Dabei gerät er in abenteuerliche Verwicklungen, bis zur Begegnung mit einem wahnsinnigen Doppelgänger. Erst nach einem verheerenden Strudel von Mord, Triebhaftigkeit, Ehebruch und Blutschande erkennt er, dass auf seinem Geschlecht ein alter, verbrecherischer Fluch lastet. Neben den dunklen Mächten beschreibt Hoffmann auch das Abgründig-Dämonische im Menschen selbst. Als Quelle diente ihm u.a. der Schauerroman Der Mönch (1796) des englischen Schriftstellers Matthew Gregory Lewis (1775-1818). Die Faszination, die Die Elixiere des Teufels bis heute auf den Leser ausüben, liegt vor allem an der Darstellung des Unheimlichen und Zerstörerischen in der menschlichen Natur.

Hoffmanns zweiter Roman Lebensansichten des Katers Murr ist die kuriose Verquickung der Autobiografie des sprechenden Katers Murr und der fragmentarischen Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler. Im Stil eines eitlen Erfolgsliteraten erzählt der Kater seinen Bildungsweg; während Hoffmann sich mit dem genialisch-überspannten Kreisler ein literarisches Alter Ego und zugleich eine der wirkungsmächtigsten Künstlerfiguren der Romantik schuf. Das Zweigespann Murr und Kreisler gab Hoffmann die Gelegenheit, sich kritisch und parodistisch mit dem Philistertum und den literarischen Strömungen seiner Zeit auseinanderzusetzen. Die zeitgenössische Kritik reagierte allerdings eher zurückhaltend; die unkonventionelle Form des Erzählens galt als künstlerische Verirrung. Erst durch die Form- und Strukturanalysen der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert wurden die komplizierten Erzählstrategien des Romans offengelegt. Heute gehört der Doppelroman zu den Glanzstücken der romantischen wie der satirischen Erzählliteratur und als Höhepunkt des dichterischen Werkes von E.T.A. Hoffmann.

Das Leipziger Kulturversandhaus Zweitausendeins würdigt E.T.A. Hoffmann unter dem Titel Kater Murrs Klassiker gleich mit fünf Titeln im Schmuckschuber, wobei die Kassette preiswerter ist als die Einzelausgaben, die in den letzten Jahren im Haffman Verlag erschienen sind und sich durch historischen Buchschmuck und umfangreiche Anhänge auszeichnen. Besonders erwähnenswert ist das satirische Kunstmärchen Klein Zaches, genannt Zinnober, das von den Verlagen meist vernachlässigt wird. Handlungsort der bizarren und phantastischen Geschichte ist ein fiktives Fürstentum, in dem Fürst Paphnutius die Aufklärung einführt und alles Wunderbare verbannen will. Die gute Fee Rosabelverde hat Mitleid mit dem missgestalteten Gnom Klein Zaches und belegt ihn mit einem Zauber, der bewirkt, dass alle Leistungen, die in seiner Gegenwart vollbracht werden, nicht ihren eigentlichen Urhebern, sondern ihm zugeschrieben werden. So erwirbt er ein Ministeramt (Geheimer Spezialrat) und die Liebe der schönen Candida. Am Ende wird die Blitzkarriere jedoch jäh gestoppt. Hoffmann nutzte die Form des Märchens zur Kritik an der Aufklärung und karikierte zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. Die satirische Entlarvung fand viel Anerkennung; so schrieb Adelbert von Chamisso (1781-1838): „Unser Hoffmann ist jetzt unstreitig unser erster Humorist.“

Im Reclam Verlag sind zum E.T.A. Hoffmann-Jubiläum vier Hardcover-Ausgaben erschienen, die insgesamt fünf Erzählungen und Märchen versammeln – darunter Das Fräulein von Scuderi, eine Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten. Der Kriminalaffäre lag eine Anekdote aus J. Chr. Wagenseils Chronik von Nürnberg (1697) zugrunde. Eine mysteriöse Mordserie hält Paris in Angst und Schrecken. Junge adlige Männer, auf dem Weg zu ihren Geliebten, werden von einem Unbekannten erstochen, der ihnen die mitgeführten wertvollen Schmuckgeschenke raubt. Der König bittet seine angesehene Hofdichterin Magdaleine von Scuderi um Mithilfe bei der Verbrecherjagd. Sie findet schnell heraus, dass alle geraubten Schmuckstücke aus der Werkstatt des berühmten Goldschmieds Cardillac stammen. Ist er nicht nur der Schöpfer dieser Kunstwerke, sondern auch ein Mörder und Dieb? Mit diesem Spannungsaufbau wurde die fesselnde Kriminalerzählung zu einem Publikumserfolg.

Neben den Hardcover-Ausgaben macht ein weiterer Reclam-Band Zeichnungen und Karikaturen mit dem Zeichner und Illustrator Hoffmann bekannt, der zwar nie eine professionelle zeichnerische Ausbildung absolvierte, aber als Autor mit Zeichentalent immer wieder zur Feder griff. Der schmale Band bringt zahlreiche Beispiele von Zeichnungen, Werkillustrationen, Karikaturen, Selbstporträts und Gelegenheitskritzeleien aus Tagebüchern und Briefen. Mit Sinn für Witz und einer Portion Spott hat Hoffmann mitunter freche und entlarvende Skizzen aufs Papier gebracht und sich mit der Bloßlegung oft Feinde gemacht.

Der Philosoph und Autor Rüdiger Safranski hatte mit Das Leben eines skeptischen Phantasten E.T.A. Hoffmann bereits 1984 eine Biografie gewidmet, die jetzt zum 200. Todestag neu erschien und die er mit einem Nachwort erweiterte. Safranski zeichnete in dreißig Kapiteln ein buntes Bild des schreibenden und komponierenden Juristen. Der Autor beschränkte sich aber nicht nur auf Leben und Werk E.T.A. Hoffmanns, neben der Veranschaulichung des Freundeskreises und der literarischen Salons entwarf er auch ein historisches Panorama der Epoche um 1800 mit den poltischen Wirren in Preußen. In seinem 2022-Nachwort hebt er ein Hoffmann-Zitat (aus Der goldne Topf) hervor: „Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, dass jeder nachzusteigen vermag.“ Genau diese Skepsis eines Phantasten hatte Safranski bereits vor fast vierzig Jahren fasziniert.

Der Rowohlt Verlag griff ‎mit der E-Book-Ausgabe E.T.A. Hoffmann von Gabrielle Wittkop-Ménardeau (1920-2002) ebenfalls auf eine ältere Hoffmann-Biografie zurück. Die Rowohlt Monographie 113 E.T.A. Hoffmann / in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten der französischen Schriftstellerin erschien bereits 1966 mit zahlreichem Bildmaterial, das jetzt in der E-Book-Version allerdings nicht enthalten ist.

Neben den beiden Biografien und den zahlreichen Ausgaben mit den Originaltexten laden einige Neuerscheinungen zum Entdecken der Werke Hoffmanns ein. Der Germanist (und Vizepräsident der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft) Jörg Petzel und der Jurist Bernd Hesse nehmen mit ihrem Titel Mit dem Kopf im Himmel und den Füßen auf dem Boden ebenfalls Bezug auf das Goldne Topf-Zitat. Die Werkauswahl bietet nicht nur einen chronologischen Querschnitt durch das Prosawerk (Erzählungen, Märchen und Romane), auch zwei musikästhetische Werke (u.a. Beethovens Instrumental-Musik, 1813), zahlreiche Karikaturen und eine Zeittafel bereichern das Lesebuch. Außerdem geben die beiden Autoren in ihrer dreißigseitigen Einleitung einen recht detaillierten biografischen Überblick.

In der Neuerscheinung Ein Lebensbild in Anekdoten des Eulenspiegel Verlages unternimmt das Autoren-Duo Petzel/Hesse dagegen den ungewöhnlichen, aber durchaus gelungenen Weg, Hoffmanns Biografie und Phantasiewelt im Anekdotenformat sichtbar zu machen. Mit kurzen Begebenheiten, prägnanten Erlebnissen oder interessanten Vorfällen werfen sie einen Blick auf das Leben des Juristen, Komponisten, Schriftstellers und Karikaturisten. Auf unterhaltsame Weise erfährt man etwas über den Hungerkünstler Hoffmann, das berühmte Loch in der Decke seiner Bamberger Wohnung, über angebliche Geliebte, verschollene Romane, den Streit mit Jean Paul oder wie Hoffmann 1813 im belagerten Dresden Die Zauberflöte dirigierte. Zum besseren Verständnis der Anekdoten ist ein mehrseitiges Personenverzeichnis angefügt.

Für Freunde des Hörbuchs hat der Audio-Verlag mit Die großen Werke eine umfangreiche E.T.A. Hoffmann-Edition vorgelegt, die auf vier mp3-CDs Lesungen von neun seiner Werke zu Gehör bringt – neben dem Roman Die Elixiere des Teufels auch die Erzählungen bzw. Märchen Der goldne Topf, Ritter Gluck, Der Sandmann, Das Majorat, Nussknacker und Mausekönig, Das Fräulein von Scuderi, Die Bergwerke zu Falun und Rat Krespel. Es handelt sich dabei um Rundfunkproduktionen (NDR, hr, SFB) aus den letzten Jahrzehnten. So lesen u.a. Gerhart Lippert, Gerd Wameling, Peter Matić, Hans Paetsch oder Christian Brückner. Mit einer Laufzeit von 29 Stunden bietet die Edition eine wunderbare Gelegenheit, das vielfältige Werk dieses „dollen, unglaublichen und kaum zu überschätzenden“ Schriftstellers (Marcel Reich-Ranicki) wieder neu zu entdecken oder kennenzulernen.

Die Vorstellung der Neuerscheinungen zum E.T.A. Hoffmann-Jubiläum ist sicher nicht vollständig. Auf einen Romantitel soll aber noch hingewiesen werden: Der Mann, der E.T.A. Hoffmann erfand – Roman einer Freundschaft. Der Schriftsteller und Fernsehjournalist Norbert Kron erzählt darin von der bewegenden Freundschaft Hoffmanns mit seinem wichtigsten Förderer und späteren Biografen, dem Verleger und Buchhändler Julius Eduard Hitzig. Er war es, der Hoffmann von der Musik zur Literatur brachte, ihn in seinen düstersten Stunden unterstützte und sein Bild bis heute mit seiner Biografie nachhaltig prägt. Der Roman beruht weitgehend auf den historischen Fakten und zitiert neben Hitzigs Biografie zahlreiche Briefstellen oder Werke Hoffmanns. Kron widmet sich auch der Antisemitismusthematik, die in der Zeit der Romantik im Berliner Bürgertum virulent wird. Nicht nur, dass Hitzig als konvertierter Jude Opfer von Anfeindungen wird, auch E.T.A. Hoffmann steht in der neueren Literaturwissenschaft gelegentlich im Verdacht, antijüdische Ressentiments gepflegt zu haben. Der Autor versucht, darauf eine Antwort zu geben.

Nähere Informationen zum 200. Todestag und ausführliche Rezensionen wird das E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2022 bieten, das als 30. Band voraussichtlich im Oktober erscheint. Das Jahrbuch, das im Auftrag der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft herausgegeben wird, ist seit 1992 ein Forum für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zum Werk E.T.A. Hoffmanns sowie der Literatur und Kultur der (europäischen) Romantik.

Titelbild

E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Lebensansichten des Katers Murr.
Anaconda Verlag, Köln 2022.
864 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783730611210

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E. T. A. Hoffmann: Kater Murrs Klassiker. 5 Bände im Schuber.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Leipzig 2022.
1015 Seiten in 5 Teilen, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783960220206

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E. T. A. Hoffmann: Zeichnungen und Karikaturen.
Hg. und mit einer Einleitung von Claudia Liebrand.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
126 Seiten , 4,00 EUR.
ISBN-13: 9783150142400

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E. T. A. Hoffmann: Die großen Werke.
Der Audio Verlag, Berlin 2022.
4 CDs, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783742423085

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E. T. A. Hoffmann: Nussknacker und Mausekönig.
Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Alina Boy.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
110 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114032

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E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit.
Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Claudia Liebrand.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
144 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114025

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E. T. A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten.
Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Thomas Wortmann.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
128 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114018

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E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann / Das öde Haus. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Harald Neumeyer.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
140 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114049

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Bernd Hesse / Jörg Petzel: E.T.A. Hoffmann. Ein Lebensbild in Anekdoten.
Eulenspiegel Verlag, Berlin 2021.
128 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783359030133

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Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
544 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273153

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Gabrielle Wittkop-Ménardeau: E. T. A. Hoffmann. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
E-Book der Rowohlt Monographie 113 ohne das Bildmaterial der Print-Ausgabe.
Aus dem Französischen von Justus Franz Wittkop.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
192 S. , 3,99 EUR.
ISBN-13: 9783644014800

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E. T. A. Hoffmann: Mit dem Kopf im Himmel und den Füßen auf dem Boden. Texte eines Universalkünstlers.
Hg. von Jörg Petzel und Bernd Hesse.
Marix Verlag, Wiesbaden 2021.
362 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783737411752

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Kein Bild

Norbert Kron: Der Mann, der E.T.A. Hoffmann erfand. Roman einer Freundschaft.
Mit zehn Illustrationen von deutschen und israelischen Künstler:innen.
AphorismA Verlagsbuchhandlung, Berlin-Kreuzberg 2022.
224 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783865750808

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Titelbild

E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2022.
Hg. von Claudia Liebrand, Harald Neumeyer und Thomas Wortmann.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2022.
160 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783503211456

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