Same same but different?

Nach zwei Jahren digitaler Ersatzformen finden die 46. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt am Wörthersee wieder in Präsenz statt

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Der erste Lesetag ist bereits Geschichte. Doch wer eine nahtlose Rückkehr erwartet, wird womöglich enttäuscht. Denn nach dem erzwungenen räumlichen Abstand in den vergangenen zwei Jahren haben sich die Organisator*innen dazu entschlossen, auch in diesem Jahr die Literatur und die Kritik wieder voneinander zu trennen. So erfolgen die Lesungen der Wettbewerber*innen auf einer Bühne im Garten, während die Jury wie gewohnt im ORF-Studio über die Texte urteilt. Zwar mag der Festivalcharakter für die Besucher*innen eine willkommene Neuerung darstellen (und auch die Lesenden äußern sich vorwiegend positiv zum Ausbleiben etwaiger Konfrontationen), doch auf diese Weise geht die einzigartige Unmittelbarkeit verloren, was nachhaltig die Dynamik des Wettbewerbes beeinflussen dürfte. Ob sich dieses Modell bewähren und durchsetzen kann, werden die Erfahrungen in den kommendenTage sicherlich zeigen.

Die nächste folgenreiche Neuerung, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Ermittlung der Preisträger*innen. In den vergangenen Jahren wurden die Forderungen nach mehr Transparenz immer lauter und man versuchte bereits, ein Punktesystem zur Ermittlung der Shortlist einzuführen. Dieses Jahr soll es noch spannender werden: Die Jurymitglieder sollen in der Nacht von Samstag auf Sonntag jeweils unabhängig voneinander – ohne Berücksichtigung der eigens eingeladenen Autor*innen – an den verantwortlichen Juristen die von ihnen vergebene Punktzahl schicken. Die eingereichten Punkte werden dann zusammengezählt und ergeben die Reihenfolge der Gewinner*innen. Auf den ersten Blick sichert dieses Verfahren die gewünschte Transparenz, doch die Kehrseite dieses Umgangs ist, dass die Jurydiskussion für die Vergabe des Preises weniger ausschlaggebend sein mag und sich die Jurymitglieder nicht mehr einigen müssen. Das könnte dazu führen, dass polarisierende Texte weniger Chancen auf den Preis erhalten, während sich „das gute Mittelmaß“, sollte es von allen Juror*innen ähnlich hoch bepunktet werden, als Gewinner des Wettbewerbes herausstellen könnte. Fakt ist allerdings, dass es sich hierbei nur um sehr subjektive Spekulationen handelt, die erst durch die Praxis revidiert werden müssen.

Doch nun zu den Protagonist*innen des Tages. Während der fünf Lese- und Diskussionsblöcke begegneten die Fachbeobachter*innen und weiteren Zuhörer*innen einem schwarzen Ex-Professor mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die polnisch-ukrainische Geschichte, einer sterbenden Großmutter, einem Schauspieler mit wenig Selbstvertrauen, einem Vater mit Migrationserfahrung und einem alleinerziehenden Leistungssportler, der sich zwischen seiner Karriere und seiner Tochter entscheiden muss. Wie diese Figuren bereits vermuten lassen, stammen sie aus literarischen Texten, die sich eher als konventionell beschreiben lassen.

Den ersten Text, Die königliche Republik, lieferte der in New York lebende Autor Hannes Stein, der auf die Einladung von Vea Kaiser nach Klagenfurt reisen durfte. Wie in seinem Vorstellungsvideo ankündigt, schreibt er gerne Texte mit einem Gegenwartsbezug. Auch einige Krimielemente fanden Eingang in den Text. Dennoch konnte Stein die Jury mit seinem Text nicht wirklich begeistern. Eine wenig glaubwürdige Figurendarstellung, die unklare Zugehörigkeit zu einer literarischen Tradition, ein erklärender Charakter des Textes und ein geschlossenes Ende, das interessanterweise den meisten Juror*innen als problematisch und einengend erschien, sind nur ein Teil der kritisch diskutierten Punkte. Da half es auch nicht, dass der Text, so Insa Wilke, auf der Bedeutungsebene vom Ende des historischen Denkens handelt, an dessen Stelle nun die (womöglich falsch verstandene – Kommentar der Autorin des vorliegenden Beitrags) Moral getreten ist. Die erste und zugleich sehr lebhafte Diskussion führte gar zu grundsätzlichen Fragen nach der Rolle der Literaturkritik und der Tradition bei der Auslegung der literarischen Texte und förderte die unterschiedlichen Auffassungen der Juror*innen zutage.

Viel versöhnlicher zeigte sich die Jury dagegen bei dem zweiten Text: Der Körper meiner Großmutter von Eva Sichelschmidt. Ob die Auseinandersetzung mit dem Tod oder das durch die Autorin kaum zurückzuhaltende Zittern der Stimme die Jury besänftigten, ist nicht klar zu eruieren. Tatsache ist, dass dieser (in seiner Form und Herangehensweise angeblich sehr radikale) Text im Allgemeinen als gelungen eingestuft wurde. Erst im Laufe der Diskussion gesellte sich zu der anfänglichen Euphorie eine gewisse Sprachskepsis, die seitens Brigitte Schwens-Harrant geäußert wurde, die an dem Text eine störende Anhäufung von behauptenden Substantiv-Genitiv-Zusammensetzungen beobachtete. Dem fügte Michael Wiederstein hinzu, dass an einigen Stellen auf den Punkt gebrachte Sätze anschließend erklärt werden, was die Zuspitzung der Aussagen deutlich schwäche. Im Allgemeinen fanden die Juror*innen einstimmig, dass es eben die Aufgabe der Literatur sei, Themen zu behandeln, die die Gesellschaft zunehmend verdrängt und tabuisiert.

Die Begeisterung über den zweiten Text wurde gesteigert, als Leon Engler, der auf Einladung von Philipp Tingler las, seinen Text Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten vortrug. Diese simple Geschichte eines Schauspielers wurde von Insa Wilke als die persönliche Rache Tinglers für die Diskussionen des vergangenen Jahres gedeutet, der die Juror*innen nun zwingen wolle, über Transzendenz zu diskutieren. Über Transzendenz wurde doch nicht diskutiert, dafür aber darüber, was die jeweiligen Juror*innen in den Texten an literarischen Bezügen gefunden haben. Eine böse Zunge könnte hier behaupten, dass dieser Text, wie er mit Verweisen auf bekannte Autor*innen und Texte der Weltliteratur gespickt wurde, einzig als ein Spielplatz für Literaturliebhaber*innen entworfen wurde. Auf jeden Fall dominierte die Erörterung der tieferen Ebenen und der ‚Bedeutungen hinter den Bedeutungen‘ die Diskussion, bis Klaus Kastberger an die Klagenfurter Rede zur Literatur von Anna Baar und ihre Bezeichnung ‚Weißbrotliteratur‘ erinnerte und infrage stellte, inwieweit dies alles bereits im Text impliziert sei und wie viel belesene Literaturkritik hineininterpretiere. In Summa zeigt sich dieser Text – zumindest nach dem aktuellen Stand der Diskussionen – als ein möglicher Anwärter für den Bachmannpreis, der am Sonntag verliehen wird.

Nach der Mittagspause las auf Einladung von Insa Wilke Andreas Bulucz aus seinem Text Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen vor. Hier dominierten die Diskussion zunächst Fragen nach der Bedeutung der Heimat und eine inhaltlich-klärende Auseinandersetzung mit dem Text. Dass diese Thematik jedoch ihre brennende Aktualität verloren hat (oder auch der Autor nichts Entscheidendes in den Diskurs brachte), ließ sich daran erkennen, dass sich die Jurydiskussion recht schnell auf die Satzebene verlagerte und einerseits der erfolgreiche Spracherwerb des Autors, dessen erste Sprache nicht Deutsch ist, sowie sein Einsatz des Konjunktiv II und parataktischer Satzkonstruktionen gelobt wurden. Ob dies das Lob ist, dass sich der Autor gewünscht hat, bleibt offen.

Den ersten Lesetag durfte dann Andreas Moster mit seinem Text Der Silberriese abschließen. Der Autor wurde von Vea Kaiser nach Klagenfurt eingeladen. Die Diskussion der Jurymitglieder endete mit diesem Text genau so lebhaft, wie sie an dem Tag begonnen hat. Denn nach der Anfangsbegeisterung für die in der Literatur so selten vertretene Perspektive eines alleinerziehenden Vaters wurden hinter der abweichenden Perspektive doch nur konventionelle Strukturen und klischeehafte Bilder gefunden.

Mit dem letzten Text ist der erste Tag des sog. Bachmannpreises geschafft. Das Wetter bleibt trotz des vorausgesagten Regens schön und die Gemüter aufgeheitert. Morgen geht es weiter!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen