Dient Fiktivität Faktizität?

Ben Roegs Essays über „Große Frauen“ erscheinen in zweiter Auflage

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor sieben Jahren wurde unter dem Autoren-Pseudonym Ben Roeg ein Band mit zwanzig Portraits „große[r] Frauen“ veröffentlicht. Die Überschriften der vier Abschnitte, auf welche die Portraits verteilt wurden, bezogen sich aufeinander: „Von Innen“, „Nach Außen“, „Zum Du“, „Und zur Gesellschaft“.

Nun ist eine „erweiterte Auflage“ des Buches erschienen, für die in jede der Rubriken eine weitere Frau aufgenommen wurde: Fanny Hensel-Mendelssohn, Marie Curie, Paula Modersohn-Becker und Clara Immerwahr. Natürlich hat es jede von ihnen mehr als verdient, in einem solchen Band vorgestellt zu werden.

Um Portraits handelt es sich bei den ihnen gewidmeten Texten allerdings nicht. Derjenige über Marie Curie firmiert etwa als „Exposé für eine Bachelor-Arbeit“, der zu Paula Modersohn-Becker tritt als „Antwortversuch“ der fiktionalen Preisfrage „Bedeutet Kreativität notwendig Ausbeutung des sozialen Umfelds?“ auf und lässt die Malerin zwischen „Einsamkeit“ und Zweisamkeit“ oszillieren. Der Text über Clara Immerwahr gibt sich gar als Auszug aus ihrem vom Autor erdachten „Tagebuch“ aus, was durchaus als übergriffig angesehen werden kann.

Fast noch wichtiger als die Aufnahme der Texte über vier weitere großartige Frauen aber ist, dass der Band – anders als die Erstauflage – zudem mit einem Nachwort versehen wurde. Es handelt sich dabei um einen Nachdruck eines 2020 im Journal of Literary Theory erschienenen Aufsatzes. In ihm begründet der sich hinter dem Pseudonym Ben Roeg verbergende Herausgeber Norbert Groeben die Eigenart der vier neuen Texte und versucht sie zu rechtfertigen, indem er die neue „literarische Kategorie Real-Fiktion“ einführt, mit der er ein „Genre“ bezeichnet, das „einen Überschneidungsbereich zwischen (literarischer) Kunst und Wissenschaft [bildet]“. Diesem Genre sollen die vier neuen Texte offensichtlich zuzuordnen sein. Explizit sagt er dies jedoch nur hinsichtlich der fiktionalen ‚Tagebuchaufzeichnungen’ Clara Immerwahrs.

Als fiktional würde Groeben sie allerdings vermutlich gar nicht bezeichnet wissen wollen. Denn in „Absetzung“ von Meike Hermanns Verständnis von Fiktionalität als „fiktionsparallele Erzählstrategie“, bezeichnet er die „Darstellung fiktiver Inhalte“ als „Fiktivität“. Diese stehe immer dann „im Dienste der Faktizität“, wenn ihre „Darstellung möglicher (fiktiver) Weltzustände/-ereignisse mit Erklärungsfunkton für tatsächliche (faktische) Ereignisse/Zustände [fassbar]“ ist. Ihre „narrative Erklärstruktur“ sei dabei „selbstverständlich überhaupt nicht auf eine bestimmte Erzählstrategie festgelegt, sondern […] den narrativen Techniken gegenüber offen“.

Als mögliche Beispiele nennt er „Tagebuch“, „Bericht“, „Reportage“ und „Dokumentation“. Welche der fiktionalen Textsorten jeweils eingesetzt wird, entscheide sich nicht anhand der Frage, „wie viel Fiktivität […] die Faktizität des Sachbuchs [verträgt]“, sondern „[w]elche Art von Fiktivität“. Denn „entscheidend“ sei „allein“, dass „Faktizität und Fiktivität“ in der „narrative[n]  Erklärstruktur“ miteinander „konstruktiv verbunden“ werden.

Die in dem Band vorliegenden fiktionalen Tagebuchaufzeichnungen von Clara Immerwahr „weis[en]“ dem Autor zufolge die „herausragenden Merkmale“ einer  „biographische[n] Real-Fiktion […] in geradezu paradigmatischer Weise auf“. Denn seiner Argumentation zufolge „verbindet“ der erdachte Tagebuchtext „historische Faktizität (Suizid) mit historischer Möglichkeit, selegiert die relevante(ste) Möglichkeit und realisiert diese Verbindung als narrative Erklärung mit kausaler Erklärungskraft“. Indem diese „auf psychologisches Kontextwissen zurück[greift]“ mache sie Immerwahrs „Entschluss zum Suizid als Versuch der Selbstbewahrung durch Selbstaufgabe wahrscheinlich im Sinne von einsichtig, intelligibel“.

Mag Groebens Ansatz der biographischen „Real-Fiktion“ auch nicht ausgesprochener Humbug, sondern durchaus originell sein, so erhellt sich doch nicht wirklich, inwiefern er belastbare Erkenntnisse produzieren kann. Nur in diesem Fall könnte er dort an die Stelle bisheriger erkenntnisstiftender Verfahren der Biographie-Forschung treten, wo diese aufgrund einer mangelnden Fakten- und Quellenlage schweigen müssen. Zumindest soweit es sich anhand der vier neu in den Band aufgenommenen ‚Portraits’ beurteilen lässt, scheint Groebens neues Genre der (literarischen) Kunst doch um einiges näher zu stehen als wissenschaftlichen Arbeiten.

Titelbild

Ben Roeg: Große Frauen. Portraits der kreativen Persönlichkeit.
custos verlag, Solingen 2022.
284 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783943195408

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