Weltflucht ade!

Stefan Ripplinger erklärt in seinem Essay „Der Schirm“ an Beispielen aus der Literatur, dass noch keine Einsamkeit einen Menschen von seiner Weltabhängigkeit befreit hat

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses kleine postkartengroße Büchlein hat es fürwahr in sich. Das darin Verhandelte stammt aus der Literatur, hat philosophisches Gewicht und beschreibt „Einsamkeit als Auseinandersetzung“, so der Untertitel, und zwar als Auseinandersetzung mit einer stets aufdringlichen Welt. Gustave Flauberts Romane „La Tentation de Saint Antoine“ und „Bouvard et Pécuchet“, dem „Zwillingsbuch“ oder „Pendant“ zu der „Tentation“, spielen darin eine zentrale Rolle. Schon der Einstieg ist vielversprechend und bedeutungsschwer: „Da die Welt alles ist, treibt der, der sie flieht, immer tiefer in sie hinein. Ist sie nicht bereits da, wohin er geflohen ist […].“ Damit wird, ohne dass der Autor dies ausdrücklich sagt, allen Wünschen nach Weltflucht eine Abfuhr erteilt. Wir können der Welt nicht entkommen. Erst ganz zum Schluss verlassen wir sie, aber das ist dann eine eindeutig andere Geschichte und keine der Einsamkeit.

Das Eremiten-Dasein, die Askese, die Suche nach Einsamkeit, nach Ausstieg, all das bleibt eine Illusion, denn der Mensch ist weder ein unbeschriebenes Blatt noch lassen sich die Einschreibungen löschen. Wir mögen vergesslich sein oder uns als Verdrängungskünstler bewähren, mögen uns in Autosuggestion trainieren und trotzdem behalten wir ein Wissen und haben ein Bewusstsein. Ernst Bloch hat es in die schöne Formel übersetzt: „Man nimmt sich mit, wohin man geht.“ Oder sokratisch gesagt, man bringt sich immer selbst mit.

Weil wir uns aber nicht alles merken können, haben wir angefangen, es aufzuschreiben und so verhelfen uns Bücher zu einem nicht versiegenden Gedächtnis, das lauter Gespenster und Dämonen enthält, um uns wo auch immer heimzusuchen. Und das ist, was wir buchstäblich auf dem Schirm haben. Der Schirm befindet sich zwischen uns und der Welt und auf ihm zeichne sich immerzu die Welt ab, wie Ripplinger meint: „Am Ende ist es der Schirm, der den Einsamen setzt, indem er ihn und die Welt auseinandersetzt und so ihre Auseinandersetzung ermöglicht. Gibt es keinen Schirm, so gibt es auch keinen Einsamen […].“

Wie ist das zu verstehen? Wie uns Flaubert am Beispiel des Heiligen Antonius zeigt, vergrößert sich mit der Weltflucht die Welterscheinung. Seine Flucht bringt ihm die Welt zurück.

Der Spuk entsteigt dem Staub der Folianten. Das ist seit Cervantes, nichts völlig Neues. Überraschenderweise hat schon der belesene Michel de Montaigne vor den Büchern als den, neben Arbeit und Leidenschaft, größten Gefährdungen der Einsamkeit gewarnt.

Genauso geschieht es Antonius. Und da sich das Subjekt erst konstituiert, „wenn es ein Anderes oder einen Anderen, auf ein Ganzes oder eine Gemeinschaft sich beziehen kann“, wird Antonius nicht nur den Gedankenwust der Welt nicht los, sondern auch die Gesellschaft selbst, aus der er sich verabschiedete. „Nie ist einer allein“, heißt es bei Ripplinger, „sondern immer Einer-ohne-die-Andern oder Einer-mit-den-Andern.“

Die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet haben, so Ripplinger, die „Tentation“ in die Moderne versetzt. In dem ihnen gewidmeten Roman gebe es „keinen Anfang, kein Ende, keine Dramaturgie, es ist wie Baudelaire erkannte, eine ‚pandämonische Rumpelkammer der Einsamkeit‘ […].“ Anders gesagt, hier wird die Weltflucht gewissermaßen zum tragikomischen Witz, bei dem die beiden Anti-Helden am Ende bei dem landen, was sie als Kopisten am besten beherrschen – beim Kopieren.

Am Ende des Essays landen wir in unserer Gegenwart. Wir sind angekommen in einer staatlich verordneten Einsamkeit, indem wir Lockdowns und Social Distancing kennenlernten. Es ist darüber viel geschrieben worden und allmählich wird auch klar, was das psychisch mit uns angestellt hat. Hier ist Stefan Ripplinger mit seinem Essay, der literaturkritisch bei seinen philosophischen Exkursionen startete, mitten in unserem Leben gelandet, um auch dort ein wenig aufzuräumen mit unseren Einsamkeits-Missverständnissen. Wurde einst die Abschottung von der Gesellschaft als krankhaft diagnostiziert, so sei sie in pandemischen Zeiten gewissermaßen unsere Rettung. „Als gesund gilt nun der Isolierte.“ Gab es für einen solchen Mentalitätswandel schon immer eine Disposition? „Isoliert, berührungsscheu, ja misstrauisch war man schon seit Langem als einer oder eine im ‚Wettbewerb der Einsamkeiten‘ […].“ Stefan Ripplinger liefert mit „Der Schirm“ ein kurzweiliges, erkenntnisreiches Mittel gegen Einsamkeits-Sehnsüchte und damit ein Plädoyer für welthaltige Bücher.

Titelbild

Stefan Ripplinger: Der Schirm. Einsamkeit als Auseinandersetzung.
zero sharp, Berlin 2022.
124 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783945421123

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