Die Kunst des Nebenbei oder des Währenddessen

Der Autor, Musiker, Musikkabarettist und Tausendsassa Rainald Grebe macht in dem autobiographischen und poetischen Bilderbuch „Rheinland Grapefruit“ seine unheilbare Krankheit zum Thema

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tod sitzt in der Kantine, der Tod isst Essen zwei. Der Tod, die alte Ich-AG, see you soon. (Rainald Grebe, Popmusik)

In einem Interview mit der Berliner Zeitung bezeichnet der Autor, ausgebildete Puppenspieler, Musiker und ehemalige Tambourineman Rainald Grebe seine Kunst einmal als eine Kunst des Nebenbei oder des Währenddessen. Diese Beschreibung mag auch für sein neues literarisches Werk gelten, das er gerade mal so „neben“ seiner neuen CD Popmusik veröffentlicht hat. Denn während er an der Kleingefäßvaskulitis, einer gefährlichen Art von Gefäßentzündung leidet, die immer wieder kleinere Schlaganfälle hervorruft, entsteht mal so „ganz nebenbei“ ein Buch: „Nebenbei wurde zum geflügelten Wort. Ich mach das alles nebenbei, es gibt nichts Hauptsächliches, für das ich dingfest gemacht werden kann. Mr Währenddessen.“ Aber so augenflunkernd, wie sich das anhört, ist es natürlich nicht. Grebe hat aus seiner Not eine Tugend gemacht und ihm ist damit, allen Unkenrufen zum Trotz, ein großer Wurf gelungen. „Die Krankheit heißt Vaskulitis, es ist eine Autoimmunkrankheit, die bei vielen das Leben verkürzt.“ Er habe deshalb Schlaganfälle. „Im Januar war ich wieder im Krankenhaus. Ich hatte sechs Schlaganfälle.“ Mit dieser äußerst seltenen Krankheit lebt er nun schon seit 2014; richtig bewusst wurde sie ihm erst am 26.03.2017, als er bei einem Auftritt in Düsseldorf extreme Blackouts und Textaussetzer hatte und das Konzert abgebrochen werden muss:

[…] ich katastrophte schweißnass durch die erste Hälfte, ging in die Pause und sagte zu Franz: Ich muss Schluss machen, es geht nicht mehr, sag den Leuten, ich komm wieder, wenn ich gesund bin, ich bin`s grad nicht. Franz trat vor die Leute: Wie ihr gemerkt habt, ist der Rainald heute ein bisschen krank, bisschen wirr, die Karten behalten ihre Gültigkeit, woraufhin einer erbost sagte, wieso, ist doch wie immer.

Grebe muss nach seinem eigenen Text im Smartphone googeln. In diesem Zusammenhang spricht er von einer „dunklen Wolke“, die sich immer wieder Mal in sein Hirn schob und manchmal weiterhin schiebt. Das bedeutet, dass ihm dann die Worte nicht einfallen, manchmal weiß er nicht mehr, wo er gerade ist und was er sagen wollte. Bis sich die Wolke wieder verzieht, „genauso abrupt, wie sie gekommen ist“. Doch solange die Wolke da ist, herrscht „im Oberstübchen Stromausfall“. Grebe hat nicht irgendein Werk geschrieben, sondern ein bild- und sprachgewaltiges Panorama über ein „Wischiwaschi- oder Scheißleben, das nicht spannend ist“. Gleich zu Beginn macht er sich Gedanken darüber: „Was jetzt? Soll ich schreiben, dass ich in der Betty-Ford-Klinik auf Entzug war, […] macht’s das interessanter?“ Der Rheinländer Grebe begibt sich stattdessen in die Rehaklinik Teplitz in Brandenburg, wo er, neben einem Wohnsitz in Berlin, seit einigen Jahren lebt und längst heimisch geworden ist. Er bekennt, dass ihm die Gegend in den letzten Jahren immer vertrauter geworden sei, ein Phänomen, an das er bis vor kurzem selbst nicht glauben wollte: 

Früher habe ich mich noch über ältere Kabarettisten gewundert, wenn sie über ihre Häuser auf dem Lande erzählten, und habe Witze darüber gerissen. Jetzt hat mich das Schicksal ereilt. Jeder Mensch braucht einen Ort, an den er immer wieder zurückkehren möchte.

Grebe ist nicht zuletzt durch seine (Anti-)Hymnen über die Bundesländer Brandenburg, Thüringen, Mecklenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt berühmt geworden, bei deren „Beschreibung“ er nach dem altbekannten literarischen Prinzip to show and not to tell ganz bewusst jegliche politische Correctness vermissen lässt. Der bekannte deutsche Kabarettist Dieter Hildebrandt empfahl Grebe kurz vor seinemTod auf RBB Radio Kultur ganz ausdrücklich mit dem Song Brandenburg, der ihm große Popularität einbrachte. Er selbst nennt das Werk die „Basis für seinen kometenhaften Aufstieg“ und dass er es zu einem „Klammermenschen“ geschafft habe: „Es steht meist in Klammern hinter meinem Namen: Rainald Grebe (Brandenburg) so wie Helene Fischer (Atemlos) oder Roberto Blanco (Ein bisschen Spaß muss sein) oder Angela Merkel (CDU)…“ Ähnlich verhält es sich mit seinem Federschmuck, der eine ganze Zeit lang bei seinen Auftritten sein beliebtes Kleidungsstück und ständiger Begleiter war. „Ich wurde als Rassist beschimpft, weil es ein Symbol einer unterdrückten Bevölkerung ist“, sagte er 2020.

Seinem Prinzip von damals ist er treu geblieben: Man weiß bei Grebes Werk oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Er beschreibt ohne jede Form der Hemmung sich und andere als tragikomische Existenzen, indem er etwa ganz offen auf seine Basedow-Augen verweist oder als er über eine Bulgarin, mit der er eine Beziehung während eines Bulgarienurlaubs eingeht, meint:

Als ich wieder in Berlin war, schrieb sie mir einen Brief. Sie schrieb, dass ihr Vater seinen Wartburg nicht reparieren könne, und ob ich Geld schicken könne für eine Kurbelwelle. Ich habe ihr nicht zurückgeschrieben. In Berlin fiel mir auf, dass ich gar nicht speziell an ihr interessiert war, sondern dass sie Bulgarin war in Bulgarien. Und da sollte sie unbedingt bleiben.

Und er macht geradezu ein Prinzip daraus, so auch in diesem Werk, das von der Krankheit getragen scheint und er in vielen Passagen am Tod vorbeischliddert und sich dennoch mit Gedanken daran konfrontiert sieht, etwa, wo er betont, „kein Christoph Schlingensief oder Wolfgang Herrndorf zu sein“.

Ergreifend sind darüber hinaus die Schilderungen seiner Begegnungen und Situationen mit den „Mitgefangenen“, sprich Mitpatienten, wie etwa Herrn Eickmeier, Alzheimerpatient im Endstadium, „der seine Sprache komplett verloren hat“ und der seine Frau nicht mehr erkennt, die inzwischen mit einem Rettungssanitäter zusammen ist und die ihn fortan gemeinsam besuchen: 

Wie schnell ein Gehirn eines Menschen nichts mehr wert ist, dachte ich. Das ist doch kein Mensch mehr, das ist menschliches Leergut, da ist doch gar nichts mehr drin, nur die Hülle. Das, was den Menschen mal ausgezeichnet hat, seine Seele, wo ist die, wurde die von Frau Alzheimer zerfressen?

Oder Christian, der Langzeitpatient, der „ein Panther“ war, und dabei an Rilkes Gedicht dachte, das keiner der PflegerInnen kannte und dem sich Grebe wesensverwandt fühlt.

Einmal organisiert Grebe eine Weihnachtsfeier von PatientInnen, PflegerInnen und ÄrztInnen, bei der sich zunächst „keiner zum Löffel machen“ und etwas vortragen will. Schließlich wird die Feier aber ein Riesenerfolg, es erweist sich einmal mehr die Macht der Musik, die als einzige Sprache die Not dieser Menschen etwas lindern kann, frei nach Nietzsches rhetorischer Frage: „Wie kann man weiterleben, wenn die Musik zu Ende ist?“ Überhaupt enthält das Buch einige sehr anregende Bemerkungen zu Leben, Kunst und Musik wie: „Was ist Kunst? Wenn etwas da ist, wo du vorher nichts vermisst hast. Und jetzt würdest du es als immensen Verlust empfinden, wenn es nicht mehr da wäre.“

Außerdem durchläuft das Werk Nietzsches berühmte Frage, was besser ist: das Schwere oder das Leichte. Geradezu paradigmatisch erscheint die Beschreibung der „Szene“, als Grebe von Zuhause ausreißt und ihn sein Vater schließlich an der Tankstelle wieder aufgreift, schimpft er nicht etwa mit ihm, sondern sagt: „Ich hätte dir doch das Geld gegeben…“

Neben dem Nebenbei und dem Währenddessen wird noch ein weiteres Adverb zum Maßstab seines Lebens, das Mehr: 

In Zeiten meines beruflichen Aufstiegs änderte sich mein Weltbild. Es geht im Leben um… mehr. Das war das Zauberwort. Um ein mehr an Freundinnen und Freunden, mehr Geld, mehr Ideen, mehr Bewegung, mehr Alkohol, mehr Drogen, mehr Sex, mehr Kilometer mehr Ruhe, mehr Massagen, mehr soziale Plastiken, mehr Teeschalen, mehr Orte, mehr Beziehungen, mehr Nutrias, mehr Eier, mehr Türen, die sie aufgehen, mehr Netze, die gesponnen werden, mehr Fruchtbarkeit, ein permanenter Pfeil nach oben, den Kapitalismus, darf man das noch sagen, hatte ich tief verinnerlicht und was soll ich sagen: Mensch es geht! Es ist möglich!

Komisch wirkt in diesem Zusammenhang des „mehr“, obwohl es der vollen Wahrheit entspricht, die Schilderung seiner vielen Berufe und Jobs:

Ich war ja auch Regisseur und Schriftsteller und Töpfer für Steingut, ich konnte Karate und Jiu-Jitsu, ich war auch Philosoph und Fachmann für feine englische Stoffe. Ich war ja auch Intendantin und Osteopathin, ich hatte Brennrechte im Schwarzwald und war schwerhörig, ein Rucksackbullin im Ruhestand und Harfenistin. Ich war ja auch Hatschi, ich war Olef, ich war Omar.

Eine besonders komische Stelle ist auch seine Kommunikation mit einem Nutria, den er in Jena „trifft“ und mit dem er sich immer wieder auf ein Schwätzchen verabredet. Er erzählt ihm von seinen Plänen oder Stimmungslagen: „Ich kam nach Thüringen berlinkrank. In den Kneipen, in denen ich Wernesgrüner literte, redeten alle nur von ihren PROJEKTEN. Berlin war eine Stadt, in der nur Künstler wohnten.“ 

Besonders prägend war für ihn lebensgeschichtlich seine Ausbildung als Puppenspieler an der Ernst-Busch-Hochschule, nicht zuletzt in Hinblick auf sein eigenes Kunstverständnis:

Das Schöne ist ja, dass ein Putzlumpen ein Prinz sein kann, ist überdies auch billiger in der Herstellung. Und kommt meiner Vorstellung des Nichtnaturalistischen wesentlich näher: ein Aschenbecher ist ein Krankenwagen, ein Filzlappen ein blinder Maulwurf, und eine Tablette, die sich in Wasser auflöst, ein lebensmüder Selbstmörder.

Grebe legt am eigenen Beispiel schonungslos das Tragikomische menschlicher Existenz offen. Er entwickelt auf gewisse Weise einen sehr undeutschen Witz, weil er in Form von Selbsthumor seine Person dabei miteinbezieht, wie er sonst nur in der englischen, aber in dieser Art (gewürzt mit Melancholie) vor allem besonders in der tschechischen Literatur zu finden ist. Man könnte hier noch beliebig viele andere Stellen als Indizien heranziehen. Köstlich sind darüber hinaus die Kleinstgeschichten wie z.B. die Wohnungssuche: 

Wie man damals Wohnungen mietete. der Vorgang war jener welcher: auf Wohnungssuche ging man mit Brecheisen und einem etwas besseren Vorhängeschloss. In den Altbauten stand damals ja einiges leer, wo, das wusste man, man kam ja überall rein, man sondierte. Und dann ging alles sehr schnell. Wohnungstür aufgestemmt oder eingetreten, geguckt, ob die Wohnung einem genehm ist, die Lage, der Schnitt, die Sonneneinstrahlung, der Balkon, der Blick auf den Fernsehturm, Vorhängeschloss dran, und dann überwies man der Wohnungsbaugesellschaft Mitte 3 Monatsmieten.

Krass, das ist vielleicht die beste Bezeichnung für das Werk, erscheint auch die Beschreibung des „Kürbis Onkels Dietrich“, der immer nur „Andorra versteht“ und versucht mit Kürbiszucht, für die sich vor Halloween in Deutschland „kein Schwein interessierte“, die „übliche Weltherrschaft“ zu erringen.Ein wirklich sehr schönes Bild beschreibt auch Grebes Besuch eines Seminars Transzendentale Meditation in Zürich, das David Lynch leitete beziehungsweise des darauffolgenden Traums:

Im Traum erschien mir David wie auf einer Bastmatte schwebte und mich fragte, ob ich die fetten Fische am Grunde der Fantasie fangen wollte. David sprach mir ins Gehirn: Kleine Fische kann jeder. Die tummeln sich im Seichten. Tief unten sind die richtig großen. Das Wesentliche kommt von der tiefsten Ebene.

Rainald Grebe geht es um die großen Fische, wie dieses Werk eindeutig belegt. Das auch graphisch schön gestaltete und immer wieder mit eigenen (Erinnerungs-)Fotos ergänzte Buch empfiehlt sich trotz seines etwas größeren Formats für die Leserin beziehungsweise den Leser, die oder der an kalauer- wie zugleich esprithaftem Humor durchaus mit subtilen Tiefen interessiert ist. Nicht zuletzt ist es eine optimale Lektüre für die Sommerferien.

Titelbild

Rainald Grebe: Rheinland Grapefruit. Mein Leben.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2021.
336 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783863913144

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