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Nikolaus Henkel legt ein umfassendes intellektuelles Portrait von Sebastian Brant, einem der einflussreichsten Autoren der Frühen Neuzeit, vor

Von Michael RuppRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Rupp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sebastian Brant, dessen Todestag 2021 sich zum 500. Mal jährte, ist einer der bekanntesten Vertreter des frühen Humanismus in Deutschland. Sicherlich liegt dies in der Hauptsache an seinem bekanntesten Werk, dem Narrenschiff, einer Gesellschaftssatire, die in verschiedenen Übersetzungen in ganz Europa verkauft und der größte Erfolg im Buchdruck bis weit nach 1500 wurde. Bis heute hat das Buch im Germanistikstudium in manchen Seminaren seinen Platz. Lange Zeit allerdings war der Blick auf Brant sehr vom Narrenschiff bestimmt, so dass wichtige Facetten seines Denkens und Schaffens aus dem Blick zu geraten drohten, auch wenn die Fakten bekannt waren. Sebastian Brant war einer der bedeutendsten Juristen seiner Zeit, der in Basel als Dekan der Juristischen Fakultät zugleich an der Artistenfakultät lateinische Poesie unterrichtete. Er schaltete sich mit geistlichen Dichtungen in theologische Debatten seiner Zeit ein, schrieb lateinische Hymnen und deutsche Übersetzungen davon zum Gebrauch in der Liturgie oder in der privaten Andacht und brachte moraldidaktische Werke in der Volkssprache in den Druck.

Darüber hinaus verstand es kaum jemand wie Brant, das seinerzeit noch neue Medium der Druckkunst so effizient zu nutzen. Den intellektuellen und politischen Diskurs beeinflusste er nicht nur mit Flugblättern und zahlreichen weiteren eigenen Schriften, sondern auch mit von ihm besorgten, philologisch exzellent hergestellten Werkausgaben von seiner Meinung nach wichtigen Autoren. Dazu zählten u.a. die lateinischen Schriften des Humanisten Francesco Petrarca oder des Kirchenvaters Aurelius Augustinus, die nun nicht mehr in mühseliger Arbeit und mit Hilfe eines Skriptoriums über lange Zeit hin gesammelt und abgeschrieben werden mussten, sondern in Basler Offizinen käuflich zu erwerben waren. Für solche Unternehmen kam Brant ein weiteres Talent zugute: Er verstand sich in exzellenter Weise auf das Knüpfen und Pflegen von Netzwerken (die unter Humanisten verbreitete Streitsucht war ihm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, doch sehr fern) und stand mit den meisten Intellektuellen am Oberrhein in engem und regem Kontakt. Letzten Endes kann man die zahlreichen Publikationen Brants in seiner Basler Zeit auch als schriftliche Manifestationen des Diskurses dieser gebildeten Schicht ansehen, die versuchte, in einer bewegten Zeit im (ihrer Meinung nach) positiven Sinn Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen. Es ist also bei näherem Hinsehen unmöglich, Sebastian Brant lediglich mit Etiketten wie „Jurist“ oder „Poet“ (oder auch mit beiden) zu versehen, ohne dass dabei nicht Entscheidendes ausgeschlossen würde.

In seinem zum Jubiläumsjahr erschienenen Buch zu Sebastian Brant unternimmt es Nikolaus Henkel, dessen verschiedene Arbeitsgebiete umfassend vor ihrem kultur- und wissensgeschichtlichen Hintergrund zu beleuchten, um so ein genaueres Bild des Intellektuellen Sebastian Brant herzustellen, als es bislang zu sehen war. Dies geschieht mit eingehenden Blicken auf bislang kaum untersuchte Facetten und anhand von wenig beachtetem Material.

Der Band gliedert sich in 16 Kapitel: Eine Einleitung in Begrifflichkeiten und wissensgeschichtliche Hintergründe zur Situation am Oberrhein um 1500 (1), die Auswertung bislang unbeachteter Zeugnisse zur Biographie (2), eine Studie zu Portraits und Krypto-Portraits von Brant (3), eine weitere über dessen Strategien zur Erzeugung von Autorpräsenz (4) und die Sichtung von am Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck beobachtbaren Hinweisen zum Gebrauch einiger Texte Brants (5). Zwei Kapitel behandeln Brant als religiösen Intellektuellen: das erste setzt ihn in Beziehung zur Frömmigkeitskultur der intellektuellen Eliten um 1500 (6), und das zweite untersucht seine Sicht auf und die Bemühungen um die Schriften der Kirchenväter (7). Der folgende Abschnitt geht Brants Verhältnis zur Literatur des Mittelalters nach (8). Dann kommen Drucke mit eigenen Texten in den Blick: zunächst folgt ein umfangreiches Kapitel über die beiden Ausgaben seiner eigenen Dichtungen, die so genannten Carmina in laudem und die Varia carmina (9), bevor ein Kapitel dem Narrenschiff und dessen lateinischer Übersetzung durch Jakob Locher gewidmet ist (10). Es folgen Beobachtungen zu den Einblatt- und Libelldrucken (also Drucken mit nur einigen wenigen Seiten) mit Anteilen Brants (11), dann zu dessen Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer (12) sowie zu seinen Anteilen an illustrierenden Holzschnitten (13). Einen gewissen Abschluss bildet das anschließende chronologische Verzeichnis der Texte, die auf irgendeine Weise durch Autorschaft und / oder Mitwirkung Brants greifbar sind (14). Daran schließen sich die bei der Arbeit festgestellten Addenda und Corrigenda zur Edition der Kleinen Texte Brants von Thomas Wilhelmi an (15), und der Blick auf eine Umgestaltung des Titelblatt-Holzschnitts zu einer Karikatur der politischen Führung der späten DDR durch Manfred Lemmer beendet (nicht nur) im Sinne eines Satyrspiels den Forschungsteil (16). Ein Literatur- und ein Abbildungsverzeichnis sowie ein Register zu Namen und Sachen komplettieren den umfangreichen Band.

Diese scheinbar lose zusammenhängenden Forschungsgebiete werden durch die in der Einleitung entwickelten Kategorien und methodischen Zugriffe unter einen gemeinsamen Horizont gespannt. Dazu wird das Verhältnis von Latein und Deutsch um 1500 erläutert (der weitaus größte Teil der Schriften Brants ist lateinisch), damit verbunden der vertikale Transfer zwischen beiden Diskursen. Wichtig werden dann vor allem der Begriff der Archäologie des Wissens, den Henkel bewusst nicht im Sinne Foucaults verwenden möchte, sondern vielmehr „als schlichte Wissenschaftsmetapher, die sich orientiert an Gegenstand, Verfahren und Ziel der einschlägigen Fachdisziplin“, wobei „Wissen“ als das „Verfügen über epistemische Areale“, betrachtet und dies in der Zeit um 1500 untersucht wird, und zwar im Bewusstsein dessen, dass diese Areale Wissen aus einem Zeitraum bergen, der bis in die Antike zurückreicht. Ein weiterer wichtiger Begriff, der neu eingeführt wird, ist jener der intellektuellen Elite. Dessen Definition entsteht in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von Funktions- oder Machteliten und Experten. Gemeint sind zunächst universitär Gebildete, die an unterschiedlichen Stellen in und für die Gesellschaft tätig sind. Sie haben, so Henkel, aktiv teil an der „geistigen und / oder künstlerischen Kultur der Gegenwart“ und setzen sich genauso mit dem kulturellen Erbe der Vergangenheit auseinander. Dies geschehe vor allem auf drei Feldern:

Zum einen in den Bildungsarealen der (griechischen wie auch vor allem der römischen) Antike und der Spätantike, zum anderen, wenngleich eingeschränkt, im kulturellen Erbe des Mittelalters und drittens in dem Wissens- und Bildungsfundus der Kirche.

Von hier aus skizziert Henkel noch unter anderem die Stellung Brants in den intellektuellen Netzwerken am Oberrhein und anhand von Trithemius‘ Cathalogus exemplarisch den Blick dieser intellektuellen Eliten auf Literatur. Mit Hilfe dieses Begriffs gelingt in der Tat ein Zugriff auf das vielfältige Schaffen Brants, der ein klares Bild herzustellen vermag, das die Zusammenhänge der verschiedenen Wissensareale aus einer übergeordneten Perspektive sichtbar werden lässt.

Dies zeigt sich zum Beispiel für den im sechsten Kapitel beschriebenen Bereich „Sebastian Brant und die Frömmigkeitskultur der intellektuellen Eliten um 1500“. Bislang sehr wenig beachtete Zeugnisse dafür sind die zahlreichen Gebete in Form lateinischer Gedichte, die – oft zunächst in anderen Zusammenhängen erschienen – in den Sammelbänden seiner eigenen Dichtungen greifbar sind, wie etwa den Carmina in laudem beatae Mariae virginis et multorum sanctorum (Die Gedichte zum Lobpreis der seligen Jungfrau Maria und vieler anderer Heiliger, wie sie mit vollem Titel genannt werden). Sie richten sich, so zeigt es Henkel, in der Ich- oder Wir-Form an ein Du, eine(n) Heilige(n) oder Christus selbst, führen also eine idealtypische Gebetshaltung und-situation vor und nehmen die Lesenden zugleich in diese Situation hinein. Dazu gehören auch Umdichtungen liturgischer Stücke, wie es unter anderem an der Transposition der Marien-Antiphon Salve regina, mater misericordiae gezeigt wird, die von ihrer Fassung der Stundengebete in die Redeform lateinischer Distichen übertragen wird. Dabei seien die „Leitwörter“ der Antiphon bewusst erhalten geblieben, so dass der „andächtige Leser/Beter des neu in Distichen gefassten Texts die dahinterstehende (gesungene) Antiphon ‚mithört‘“. Die lateinische Antiphon auf dem Ivo-Flugblatt wiederum kann man als Teil der Liturgie eines Gottesdiensts zu Ehren des Patrons der Juristen verstehen.

Anhand der Mariendichtungen untersucht Henkel weiterhin, wie Brant im seinerzeit tobenden Makulistenstreit eindeutig Stellung für die conceptio immaculata bezog. In diesem Kontext sei auch die Herausgabe der Basler Konzilsakten durch ihn erklärbar. In den Übersetzungen lateinischer Mariensequenzen wird auf der anderen Seite wieder Brant als Mittler sichtbar, der auch für die private volkssprachige Frömmigkeitspraxis nicht lateinisch Gebildeter im Sinne eines vertikalen Kulturtransfers beitragen wollte.

Nimmt man das folgende Kapitel 8 über die Bemühungen Brants um Verbreitung von Schriften der Kirchenväter im Druck sowie seine juristische Tätigkeit hinzu, ist schon größtenteils das (lateinische!) Panorama ausgebreitet, vor dem das Narrenschiff, die bekannteste Schöpfung Brants, zu verstehen ist: Die deutsche Fassung steht im Kontext der Vermittlung moraldidaktischer Inhalte an nicht Gebildete, Inhalte also, die um 1500 von Fragen praktizierter Frömmigkeit und der lateinischen Tradition nicht zu trennen waren. Exemplarisch sei hervorgehoben, wie Henkel – neben vielen anderen Aspekten – die Kapitel des Narrenschiffs mit der Breite der Wissenstraditionen über deren zeitgenössischen Vermittlungsformen verbindet, zum Beispiel anhand von Exempelreihen im Narrenschiff. Häufig werden antike Exempelfiguren beim Namen genannt, die auf die Geschichte ihres Trägers verweisen und durch diese eine moraldidaktische Belehrung anstoßen sollen. In den meisten Fällen aber wird diese Geschichte im Narrenschiff nicht erzählt. Das Wissen darüber, so zeigt es Henkel, konnte auch nur zu geringem Anteil aus volkssprachig zugänglichen Sammlungen erschlossen werden. Am Beispiel des 13. Kapitels zeigt er dann kurz auf, wie bis auf vier von 18 alle dort genannten Namen in den Metamorphosen Ovids auftauchen, ein weiteres in dessen Tristien und noch eines in den Heroides. Hier deutet sich an, wie das breit gestreute Wissen von Brant zugänglich und verfügbar gehalten wurde, wozu bekanntlich auch Florilegien und Exempelsammlungen des Mittelalters benutzt wurden. Einige mögliche Quellen dieser Art werden von Henkel auch diskutiert.

Interessant wird dies beim Blick auf das lateinische Pendant, die von Brants Schüler Jakob Locher angefertigte Stultifera navis, die sich als relativ eigenständige Bearbeitung betrachten lässt. Sie habe, so Henkel, vielerorts jene Bedeutungstiefe vermissen lassen, die im deutschen Narrenschiff durch die zahlreichen Antikenbezüge erzeugt werde, was Brant durch die Beigabe von Marginalien zum lateinischen Text wieder restituiere. Dies zeigt Henkel eindrucksvoll an drei Kapiteln der Stultifera navis auf, neben dessen Text Brant auf Stellen aus antiker wie biblisch-christlicher Tradition verweist; dazu kommen natürlich ihm bekannte juristische Quellen, die auf die beiden vorgenannten Bereiche ebenfalls zugreifen. Ein Beispiel: Im ersten Kapitel bekennt der Büchernarr, der viele Bücher besitzt, er verstehe in diesen kein Wort und erfasse nicht den Sinn eines Buchs. Brant verweist daneben auf den Propheten Jesaja, wo es heißt, die Offenbarung werde jemandem gegeben, der sie nicht zu lesen verstünde, und dieser antworte, er könne nicht lesen. Soweit stimmt die Aussage mit Lochers Text überein. Allerdings droht der Prophet im folgenden diesen Menschen die Strafe Gottes an, und so weite sich die Stelle bei Locher „durch diesen Bezug auf das Prophetenwort in eine grundsätzliche und über die Bildungskultur hinausgehende Aussage zum Verhältnis Gottes zu den Menschen“. Zur Erforschung der Funktion dieser Marginalien liefern solche Detailbeobachtungen wichtige Impulse.

Um die von Henkel gebrauchte Wissenschaftsmetapher aufzugreifen: Dieses Buch legt in vielen wichtigen Arealen seines Forschungsgebiets zahlreiche Schichten des von Brant aufgegriffenen Wissens seiner Zeit und seinen spezifischen Umgang damit frei. Es ist in der Tat die Fülle solcher einzelnen tiefgehenden, mit enormem Hintergrundwissen getroffenen Beobachtungen, die zum einen den Wert dieses Buchs ausmachen. Manche wichtige Facetten des Intellektuellen Sebastian Brant werden hier erstmals genauer betrachtet und in Zusammenhang mit den anderen, bekannteren gebracht. Hier ergeben sich auch auf die bereits erforschten Seiten von Brants Schaffen neue Perspektiven. Zum anderen erweist es sich als fruchtbar, dieses Schaffen als spezifisch für das einer intellektuellen Elite im Sinne der eingangs formulierten Definition zu betrachten, da sich so der gemeinsame Horizont aller untersuchten Facetten zeigt. Dieses Buch bringt die Brant-Forschung ein sehr großes Stück weiter und wird für alle, die in diesem Gebiet arbeiten, ein unverzichtbares Standardwerk werden.

Titelbild

Nikolaus Henkel: Sebastian Brant. Studien und Materialien zu einer Archäologie des Wissens um 1500.
Schwabe Verlag, Basel 2021.
798 Seiten, 110,00 EUR.
ISBN-13: 9783757400712

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