Das ist speziell

Patrick Leigh Fermor schreibt in „Eine Zeit der Stille“ von innerem Frieden, Verstörung und leeren Labyrinthen in Klöstern

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wenn ich an die Lektüre von Patrick Leigh Fermors Eine Zeit der Stille denke, fällt mir eine – ich glaube – Autowerbung ein. (Jetzt wird es etwas kalauerig:) Eine Mutter sitzt am Steuer, hinten zwei Gören, die sich beharken. Hin und her, bis das Töchterchen ihren Bruder anschwärzend sagt: Timmy hat gepupt. Genervter Kommentar der Fahrzeugführerin: Wenn doch nur mal endlich Ruhe wär. Ja, wer Jahrzehnte in Nine-to-Five-Jobs und Kindererziehung verplempert, der oder die wird stets weit entfernt von dem sein, was in Fermors Buch das fasziniert beschriebene Zentrum darstellt: Ruhe, Stille, gar, horribile dictu: inneren Frieden: „Denn in der Abgeschiedenheit“ der Mönchszelle „wird der reißende Strom der Gedanken ruhig und klar“, nach einiger Zeit „erreicht man einen in der Welt dort draußen unvorstellbaren Zustand inneren Friedens“.

Das Bändchen beschreibt drei verschiedene Arten von Klöstern, nicht in jedem findet Fermor zu innerer  Einkehr. In den 1950er Jahren besuchte er zuerst das Kloster St. Wandrille de Fontanelle, eine Benediktinerabtei  nahe Rouen in Frankreich. Dort fragt er an, wird aufgenommen und bleibt sich selbst überlassen. Das ist schwierig. Denn innerer Friede kommt nicht einfach so (und deswegen werden Timmys Mutter und ich wahrscheinlich nie die folgende, wirklich erstrebenswerte Erfahrung machen – denn irgendwas ist ja immer zu tun). Fermor kommt aus Paris, eine hektische, schlimme Woche, allein mit sich in der Zelle überfällt ihn ein „Gefühl von Depression und unaussprechlicher Einsamkeit“, langsam weicht das „Gefühl allgegenwärtigen, drohenden Todes, das Gefühl irrtümlich in einer Katakombe eingeschlossen worden zu sein“. Die schmerzhafte Umgewöhnung dauert vier Tage, er ist „rastlos“. Am auffälligsten merkt er die Veränderung am Schlaf. Anfangs litt er unter „Schlaflosigkeit“ und Albträumen, tags döste er ein, doch bald nahm er wahr, dass sein Schlafbedürfnis „gewaltig wuchs“, für zwei Tage waren „Mahlzeiten und Gottesdienste [….] fast die einzigen Augenblicke“, in denen er wach war. Es folgte eine

außerordentliche Verwandlung: Die extreme Müdigkeit verschwand, die Nacht schrumpfte auf fünf Stunden leichten, traumlosen, herrlichen Schlafs, aus dem ich erfrischt und voller Tatendrang erwachte. Die Erklärung ist einfach: Der Wunsch nach Unterhaltung, Bewegung und hektischen Gesten, der mich von Paris hierhergeleitet hatte, fand an diesem Ort der Stille keine Antwort, keine Resonanz, und nachdem er im Vakuum noch eine Weile kläglich gestikuliert hatte, war er immer matter und blasser geworden und schließlich mangels Nahrung und Reizzufuhr gestorben. Darauf war die gewaltige Müdigkeit […] über mich hereingebrochen und hatte alles überschwemmt. Nachdem ich dieser Flut von Schlaf entstiegen war, wurden keinerlei Anforderungen an mich gestellt.

– kein Timmy, kein Uni-Unterricht, keine Beziehungsarbeit. Langsam nimmt Fermor auch die Mönche wahr, sie verwandeln sich von Schemen in Lebewesen aus Fleisch und Blut. Er kommt mit ihnen ins Gespräch, es sind ganz normale Menschen, sanft, ohne Eile, voller Ruhe,

im Vergleich zur Ewigkeit ist das Leben für einen Mönch kürzer als ein Lidschlag, und diese kurze Zeit verbringt er mit Gottesdienst, mit dem Streben nach Seelenheil und demütiger Fürbitte für die Seelen all jener, die wie er selbst aus der Glückseligkeit vertrieben worden sind.

Aber Kloster ist nicht gleich Kloster, Orden nicht gleich Orden. Fermor besucht ein „weit eigenartigere[s] Kloster: La Trappe“, bewohnt von Zisterziensern „von der strengen Observanz“ – diese Erfahrung, das wird deutlich, ist eher verstörend, beunruhigend, fast abstoßend. Dort gibt es nicht Ruhe, so würde ich sagen, sondern Entsagung bis an den Rand der Tortur. Die Mönche stehen morgens um eins oder zwei auf, sie sind insgesamt sieben Stunden in der Kirche, oft im Dunkeln kniend, stehend, meditierend, betend, es herrscht bis auf wenige Ausnahmen „absolutes Schweigegebot“. Ansonsten harte Feldarbeit. Das Essen: kein Fleisch, kein Fisch, keine Eier, überdies gibt es strenge Fastenregeln. Die Mönche haben keine eigenen Zellen, sie schlafen alle in einem großen Schlafsaal, keine Heizung. Trappisten bleiben Fermor ein Rätsel, er ist etwas beunruhigt, dass er sie nicht wirklich beurteilen kann: „Ich besaß kein geeignetes geistiges Instrument, mit dem ich meine Erfahrungen hätte messen und einordnen können“ – als Benediktiner in St. Wandrille, da könnte man sich Fermor vorstellen, doch Trappist hätte er nie werden können. Aber das geht nicht nur ihm so, der Benediktinerabt in St. Wandrille, mit dem er über die Zisterzienser der strengen Observanz spricht, meint: „C´est très spécial. Ca repond à certaines natures, mais elles sont très rares.”

Nach der Irritation kommt die Leere. Fermor und ein Freund reisen für drei Tage in die verlassenen Felsenklöster Kappadokiens in Kleinasien, im 11. und 12. Jahrhundert erbaut. Die Stille dort ist die Stille der Menschenleere, der labyrinthischen Hohlräume, die Fragen aufwerfen: „Wer waren diese Mönche gewesen? Wann waren sie gekommen und wie hatten sie gelebt?“ Sind die Benediktiner zugewandt in ihrer Stille, die Trappisten wortlos und karg, so bleibt hier ewige Stille, die Stimmen sind verweht: „Die Höhlen, die von einem ewigen Dämmerlicht erfüllten Kirchen, die zahllosen gemalten Heiligen bleiben so rätselhaft wie eh und je.“

Mit Fermors Zeit der Stille liest man ein faszinierendes Buch über Erfahrungen, die einem, wenn man sich diesem Erleben nicht so intensiv aussetzt wie Fermor, stets verschlossen bleiben. Irgendein Timmy pupt halt immer.

Titelbild

Patrick Leigh Fermor: Eine Zeit der Stille. Zu Gast in Klöstern.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.
Dörlemann Verlag, Zürich 2022.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783038201038

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch