Russland: Friedhof und Strafkolonie

Die russische Autorin Irina Rastorgueva blickt in „Das Russlandsimulakrum“ hinter die Fassaden des Potemkinschen Dorfes Russland und findet Tote, Gefangene, Verzweiflung und Simulacren

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irina Rastorgueva, die aus dem östlichsten Osten Russlands stammt, jetzt in Deutschland lebt, wollte, so der Untertitel ihres Buches Das Russlandsimulacrum eine Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland schreiben. Das kann ich so nicht sehen, dazu ist der Band zu wenig analytisch, zu wenig komponiert, ein mixtum compositum, aber das tut seiner Wichtigkeit keinen Abbruch. 

Aufgebaut ist das Buch in zehn Kapitel. Das erste, „Konkrete Poesie 2021. Ein Nachrichtenportal“ ist genau das: eine kommentarlose chronologische Auflistung verschiedenster Nachrichten. Man könnte hier an Kritik durch Darstellung denken, aber dazu ist das, was hier geboten wird, zu heterogen – eine Burlesque-Show des Katastrophischen, des Totalitarismus zwischen Absurdität, Lächerlichkeit, aufgeblasener Großmannssucht, Repression, Gewalt, Zerstörung. 

Einige Beispiele: Das russische Bildungsministerium

streicht die obligatorische Abschlussprüfung in einer Fremdsprache. Irina Volynets, Vorsitzende des Nationalen Elternkomitees Russlands, die die Initiative zur Abschaffung ergriffen hatte, betont, dass die Vorbereitung der Kinder auf die Prüfung in einer Fremdsprache die Schüler nur dazu ermutigen würde, Russland zu verlassen. „Das steht im Widerspruch zur nationalen Sicherheitsstrategie, wir brauchen die Menschen hier.“

Auch du gehörst dem Führer! Das ist furchtbar und doch auch lächerlich kleinkariert. Ganz hervorragend den Pazifismus á la Russie nach vorne bringt folgende Vereinbarung: 

Mit Sierra Leone wird ein Abkommen über die Nichtverbreitung von Waffen zunächst im Weltraum unterzeichnet. „Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt, um ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern“, so das russische Außenministerium in einer Erklärung.

Ergänzung Rastorguevas: „Sierra Leone ist eine Republik in Westafrika. Das Land liegt beim Pro-Kopf-BIP auf Platz 177 der Weltrangliste, mehr als 70% der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze.“

Auch ganz toll ist die Nachricht (man erfährt leider nicht, wer auf diesen glorreichen Gedanken kam): „Wladimir Putin wird für den Friedensnobelpreis nominiert.“

Wiederum in die Rubrik Schön-hier-geblieben gehört: „Die Staatsduma schlägt vor, dass die Fernsehsender weniger über die Auslandsurlaube von Russen berichten.“ Oder soll man da dem Post-Homosos (=Post-Homo sovieticus) schlicht und ergreifend nicht allzu viel Oligarchen-Riviera bieten, damit er nicht womöglich weg will? Aber, siehe Frau Volynets: er wird hier gebraucht. 

In die Kategorie Großmannssucht und Lüge ließe sich einordnen: „Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezeichnet die russischen Streitkräfte als die modernste Armee der Welt.“ Das war 2021 – 2022 kann man da nur verzweifelt? zynisch? barbarisch? fragen: Quod erat demonstrandum? 

Der Wahrheit näher kommt man, wenn man erfährt: „Die Abteilung des Föderalen Strafvollzugsdienstes des Moskauer Gebiets beschließt den Bau eines neuen Untersuchungsgefängnisses mit 1200 Plätzen in Solcnechnogorsk.“ Die Sowjetunion war schön, besonders der Gulag, Russland selig Land der Strafkolonien. 

Ebenfalls in die Rubrik Zeig-dein-wahres-Gesicht gehört: die Moskauer U-Bahn bekommt ein neues Überwachungssystem, das das präzisere Monitoring der Fahrgäste erlaubt. JedeR, der/die ‚hier‘ bleibt, sollte bitte schön auch gesehen werden. 

Dass es den Russen echt gut geht, zeigt die Zunahme der Sterblichkeit: „Das Krematorium in St.-Petersburg  ist wegen der hohen Zahl an Toten überfüllt.“ Rastorgueva wird später Strafkolonie und Friedhöfe als Signum des ‚neuen‘ (alten?) Russland sehen. 

Zur Rubrik Wahrheit gehört dann wieder: „Der Gesamtbetrag der Bestechungsgelder im öffentlichen Auftragswesen wird auf 6.6 Billionen Rubel geschätzt, was einem Drittel der Einnahmen des russischen Haushalts entspricht.“

Sagte Karl Kraus nicht: zu Hitler falle ihm nichts ein? Fällt einem zu Putin und zum jetzigen Russland etwas ein (ohne dass hier ein allzu wohlfeiler Vergleich zwischen Hitler und Putin gemeint ist!). Ja, Verzweiflung – ein Grundton in Rastorguevas Buch, der manchmal unter der Fülle der Informationen schwer hörbar ist, aber stets mitschwingt. 

Dann geht es um die „Suche nach der nationalen Identität“. Hier beschreibt Rastorgueva das wohl aus Minderwertigkeitskomplexen gespeiste hypertrophe (Pseudo-)Selbstbewusstsein Russlands, das sich partout von den zersetzenden westlichen Ideen absetzen will, doch Rastorgueva: „Das russische Wunderland ist auf Absurdität, Widersprüchlichkeit und Grausamkeit aufgebaut.“ 

Anschließend behandelt sie tatsächlich den Protest. Doch resignativ und verzweifelt notiert sie: Widersprechen in Russland erfordere großen Mut, dort sehe man sich „einem Monster mit dem Verstand eines Tyrannen und dem Benehmen eines Banditen gegenüber“, „in diesem Land ändert sich nichts“, die Repressionen würden immer rigider. Dazu trägt auch die Staatsduma bei, die aus Willfährigkeit, Speichelleckerei, Machtprofilierung zunehmend strangulierendere Gesetze erlässt.  

Auch die nächsten Kapitel sind eine große Anklage, die verhängten Strafen für irgendwelche Delikte seien oft absurd oder widersprüchlich, Menschen würden dadurch in Angst getrieben, eingeschüchtert.

Rastorgueva referiert die Meinung eines Experten der Stiftung für die Verteidigung der Rechte von Gefangenen, der schon 2015 bemerkte, „dass etwa 25- bis 35 Prozent der Menschen in russischen Gefängnissen unschuldig“ seien und etwa „80 Prozent Strafen verbüßen, die nicht in angemessenem Verhältnis zu ihrem Verbrechen“ stünden, die Sterblichkeitsrate in russischen Gefängnissen sei „doppelt so hoch wie in Europa, und jeder zehnte Fall ist ein Selbstmord“: Friedhof und Strafkolonie können auch verbunden sein.

Auch in der Opposition sieht Rastorgueva kein Heil. Denn diese werde nicht nur unterdrückt, sie wäre auch aus sich selbst heraus nicht in der Lage, Kraft zu entwickeln, da sie in sich zu zerstritten ist. Kurz: 

Eine Revolution in Russland ist wahrscheinlich nur von oben durch die Eliten möglich. Ebenso wahrscheinlich ist, dass eine Revolution das bestehende System nicht verändern wird. Der neue russische Präsident wird sich entweder auf die Sicherheitskräfte oder auf die Oligarchen verlassen müssen. Und sie werden immer Menschenopfer fordern. Wenn der Machtwechsel von unten kommt, wird die Macht durch Blut und neuen Terror gehalten werden müssen. Warum ist das – in Russland – immer wieder so?

Russland sei massiv politisiert, alles und jeder werde indoktriniert, doch fänden sich nur Gewalt und fake (siehe zum Beispiel „modernste Armee“). Gewalt werde zur Norm, „und um die narkotische Wirkung zu erzielen, muss die Dosis erhöht werden. Das ist ein Grund für die zunehmende Brutalität der Machtstrukturen gegenüber zum Beispiel „Demonstranten.“ Zur Vernebelung gäbe es permanente Simulation von Gefahren, man rufe den „Kampf gegen Terrorismus und Extremismus aus“ und wittere überall „Intrigen der Feinde“. 

Russland, so Rastorgueva im letzten Kapitel, sei ein Land „der erfüllten Dystopien“, es sei eine „kafkaeske Welt ohne Zentrum, mit einem reduzierten Koordinatensystem, ein endloser absurder monströser Traum“, der Mensch als Individuum existiere in dieser dystopischen Welt nicht, „er ist nur ein Mittel, ein Teil der Masse“ – und ergänzen darf man: entweder ein Teil der eingeschüchterten stummgemachten Masse der Bevölkerung oder Teil der Strafkolonie oder – die Sterblichkeit steigt: Teil des Friedhofs. 

Vieles, was in diesem Buch versammelt ist, ist als Information oder Befund nicht neu, doch dies alles in dieser Form, mit großer Verzweiflung, aber zugleich präzis, aufgeschrieben zu haben: das macht Rastorguevas Russlandsimulacrum zu einer bedrückenden, doch wichtigen Lektüre. 

Titelbild

Irina Rastorgueva: Das Russlandsimulakrum. Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783751808026

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