Irrgarten mit Mädchen
Riku Onda ersetzt in „Die Aosawa Morde“ eine kriminalistische Analyse durch eine polyphone Evokation trügerischer Erinnerungen und unternimmt eine Beschwörung des Bösen vor zeitgeschichtlicher Kulisse
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuf der Geburtstagsfeier der wohlhabenden Arztfamilie Aosawa in der Küstenstadt K. finden siebzehn Menschen den Tod durch Zyankali. Riku Ondas als Kriminalroman bezeichneter Text kreist um das Rätsel der Täterschaft: Ein Ermittler und zwei Buchautoren forschen nach, wer die Aosawas im Jahr 1973 vergiftet hat und warum. Das Werk, das im japanischen Original Anfang der 2000er unter dem Titel Eugenia erschien, konzentriert sich jedoch nicht auf die Darstellung detektivischer Logik. Die Aosawa Morde führen mittels eines Chors erzählender Stimmen vor Augen, wie wenig verlässlich Erinnerungen sind. Dabei entsteht das Portrait einer hierarchischen Gesellschaft mit ihrer verborgenen Geschichte, aus der unterdrückte Aggressionen und Sehnsüchte aufwallen. Onda baut bei ihrem narratologischen Experiment in erster Linie auf die Beschwörung einer unheilsträchtigen Atmosphäre: Im schwülheißen Klima des hochsommerlichen Japans erscheint das Menetekel der Stadt in Gestalt des zwölfjährigen blinden Mädchens Hisako.
Zeitgeschichtliche Dimensionen und der Fall des todbringenden Epidemiologen
Wie zahlreiche andere Verfasser und Verfasserinnen von Unterhaltungsliteratur greift die Autorin auf die japanische Murderpedia zurück. Für Die Aosawa Morde zieht sie den authentischen Fall der Kaiserlichen Bank „Teikoku Ginkô“, abgekürzt Teigin, heran: Ein Mann, der sich als Epidemiologe der Gesundheitsbehörde ausgab, vergiftete im Jahr 1948 sechzehn Angestellte der Bank und ihre Angehörigen. Unter dem Vorwand, gegen eine sich angeblich rasch verbreitende Welle von Ruhr Medizin auszugeben, verabreichte er den Unglücklichen mit Zyankali präparierte Kapseln. Sein Ziel war Bankraub, zwölf der Betroffenen starben. Für das Verbrechen verurteilt wurde der bekannte Maler Sadamichi Hirasawa, der sich allerdings über drei Dekaden bis zu seinem natürlichen Tod 1987 stets – so auch in einer Autobiographie – für unschuldig erklärt hatte.
Der Bezug zu dem bereits mehrfach künstlerisch adaptierten Fall bietet Onda Gelegenheit, ihren Text mit zeitgeschichtlichem Retro-Flair auszustatten. Indirekt zitiert die Autorin wohl den einschlägigen Satz aus Ian Flemings You only live twice (1964): „And down went the honourable medicine and down fell the honourable local manager and staff of the Imperial Bank of Japan. The medicine had been neat cyanide.“ Seichô Matsumoto, die japanische Kriminalliteraturgröße, hat in seinen beiden Versionen von 1959 und 1960 das Geschehen in Verbindung mit der Einheit 731 des Zweiten Weltkriegs gebracht: Täter sei ein ehemaliges Mitglied dieser Einrichtung für medizinische Versuche an Kriegsgefangenen gewesen. Bei dem Gift, das die Festteilnehmer bei Riku Onda grausam dahinrafft, liegt es nahe, an die Erzeugnisse des Labors Noborito zu denken; jenes von 1937 bis 1945 in der Stadt Kawasaki („K“!) betriebene militärische Forschungslabor der 9. Kaiserlichen Armee entwickelte und erprobte u.a. chemische Kampfmittel. Die Aura des Bedrohlichen, die den Roman charakterisiert, ergibt sich aus den – abhängig von den Leser und Leserinnen – mehr oder weniger deutlichen Referenzen auf die „ehrenwerte Medizin“ und die verhängnisvollen Machtstrukturen in den 1930er und 1940er Jahren.
Bei Onda spielen die Ereignisse der Giftattacke zu Beginn der 1970er. Elf Jahre später interviewt Makiko Saiga, die als Kind mit Hisako Aosawa befreundet war, etliche Zeitzeugen. Daraus entsteht innerhalb der diegetischen Welt des Romans ein weiteres Buch. Weitere zwanzig Jahre später, um das Jahr 2003, werden die Bewohner und Bewohnerinnen von K. erneut – von einer unbekannten Instanz – befragt. Der Text, der sich aus heterogenen Beiträgen, Interviews, Zeitungsartikeln, Zitaten, Erinnerungsfragmenten und Schilderungen aus der Perspektive der jeweiligen Person zusammensetzt, weist eine chronologisch gestaffelte, mehrschichtig-vernetzte Struktur auf. Hauptakteure sind Polizeiinspektor Teru sowie die erste Faktensammlerin Makiko Saiga, deren Bericht über die Morde als Text im Text unter dem Titel Das vergessene Fest erscheint. Der Blickwinkel der beiden wird durch andere Figuren erweitert, darunter Makikos Helfer bei der Transkription der Befragungen sowie ihr älterer Bruder und die Tochter der Hausbediensteten in der Aosawa-Villa. Auch ein Bekannter des jungen Mannes, den man offiziell als den Schuldigen ausmachen wollte und der Selbstmord beging, kommt zu Wort.
Blume und blauer Raum: Die Leitmotive
Eigentliches Zentrum der in 14 Abschnitte und einen Prolog eingeteilten Erzählung bilden die Eindrücke, die die verschiedenen Beobachter vom jüngsten Sprössling der Aosawas gewonnen haben: Das zarte Mädchen mit ihrer Intelligenz, dem schönen puppenartigen Gesicht und einer beinahe okkult wirkenden Gabe, die Dinge um sich trotz des Verlusts ihres Augenlichts (sie stürzte von einer Schaukel) wahrzunehmen, besitzt offenbar eine besondere Anziehungskraft. Hisako verkörpert den Herrschaftsanspruch der elitären Familie. Man ist versucht zu glauben, sie halte alle Fäden in der Hand und sei eventuell die Repräsentation des Bösen, das die Gemeinde heimsucht.
Ob das Kind – wie Inspektor Teru glaubt – als Anstifterin der Morde gelten muss, oder nur ein hypersensibles Medium ist, das die dunkle Vergangenheit des Orts echot, bleibt bis zum Schluss unklar. Hätte Hisako den seelisch instabilen jungen Mann dahingehend beeinflusst, den Anschlag auszuführen, wäre sie dem Prinzip der Gegenseitigkeit allen Geschehens nach – ein Leitmotiv des Romans – sowohl Verursacherin von Leid wie auch selbst Opfer. Ihr in der Kombination von Aussagen und symbolischen Bildern dargebotenes Geheimnis ließe sich möglicherweise auf eine einschneidende Gewalterfahrung zurückführen, nämlich auf die absichtliche Blendung durch ihre Mutter. Das Trauma der „tragischen Heldin“ fand im „ultramarinblauen Zimmer“ statt, in dem die Mutter, eine Anhängerin des Christentums, Gebete verrichtete. Der Originaltitel von Die Aosawa Morde, Eugenia, weist ebenfalls auf die christliche, mit den Motiven Leid und Buße verknüpfte Komponente hin. So trug auch die „Märtyrerin von Rom“ den Namen Eugenia, übersetzt die „Edelgeborene“. Onda ordnet der Figur des Mädchens bestimmte Themen zu: Das blaue Zimmer mit der Lilie, den „Kräuselmyrtenbaum“ mit seinen Blüten, das Meer, das Gedicht Eugenia und eine geheime Botschaft. Einiges spricht dafür, dass das Kind als rächendes Medium in Erscheinung tritt, das als ältere Frau das Haus seiner Kindheit und damit das Vermächtnis der Ära Shôwa dem Abriss überantwortet.
Hisakos exklusives Heim, das auch die familieneigene Klinik beherbergt, stellt eine Mischung aus japanischen Elementen und westlichem Stil dar, wie sie für das moderne Japan der Shôwa-Ära typisch war. Wenn die Autorin die erwachsene Hisako einen Deutschen heiraten lässt, um mit ihm in Amerika zu leben, spinnt sie den allegorischen Faden weiter: Japan und Deutschland als Wissenschaftsnationen mit imperialistischer Agenda, die nach 1945 ein schweres Erbe zu tragen haben. In diesem Rahmen interpretiert, könnte der Roman auf die Frage abzielen, wem die Schuld am wahnhaften Höhenflug nationaler Ambition anzulasten wäre. Über eine furchtlose blinde Hisako auf der Schaukel sagt eine Betrachterin der Szene bezeichnenderweise:
Ich habe nie zuvor und nie danach so einen Gesichtsausdruck erlebt […]. Ich fühlte mich fast schuldig, als hätte ich etwas gesehen, was ein Mensch nicht hätte sehen sollen. Plötzlich waren meine Beine wie versteinert. Denn einen Moment lang hatte ich eine Vision … nur einen winzigen Ausschnitt … von der Welt, die sie von der Schaukel aus sah. Sie war reinweiß. Weiß in allen Richtungen, eine reinweiße Welt des Nichts.
Onda suggeriert einen teuflischen Pakt: Hisako sei „die Welt“ versprochen worden, wenn sie im Gegenzug der Macht etwas von ihr gebe. Darauf sei das Kind eingegangen und habe die Schaukel losgelassen.
Labyrinthisches Konstrukt
Der Autorin gelingt es, zahlreiche starke Szenen wie diese zu gestalten. Als Gesamtkomposition sind Die Aosawa Morde – zumindest in der deutschen Version – weniger mitreißend. Das Lesen erfordert jedenfalls starke Konzentration, da Onda die Möglichkeiten einer verrätselten erzählerischen Struktur hinreichend ausreizt. Im Buch ist die Rede von der komplexen Faltung der Origami-Kranichkette. Ondas mäandernde narrative Brechungen weichen aber von der der Faltkunst inhärenten mathematischen Präzision ab, um den Unwägbarkeiten der menschlichen Psyche sowie dem Rätselhaften und Absurden der menschlichen Existenz Ausdruck zu verleihen – was Makiko Saiga als ästhetisch-intellektuelles Moment des „Seltsamen“ würdigt. Die Strategie, die Dinge in der Schwebe zu belassen, eröffnet in der Tat eine weite Assoziationsfläche, hinterlässt jedoch auch eine gewisse Ratlosigkeit im Hinblick auf die vielen angebotenen Deutungsvarianten und die kaum zu entschlüsselnden Motivketten: Handelt es sich bei Hisako nun um eine Art von Medium, in dessen Einflusszone sich die japanische Vergangenheit, Kriegsschuld und die Erfahrung militärischer Gewalt manifestieren? Reinigt sie ihre kontaminierte Umgebung durch Zerstörung? Trägt die gealterte Hisako die japanische Hybris noch in sich, wenn sie mit dem zurückgewonnenen Augenlicht verbittert erkennt, dass „die Welt Fremden gehört“? Oder möchte die Autorin das Mädchen als ein Opfer von innerfamiliärem Missbrauch, etwa Inzest, sehen? Hätte die duldende Mutter dann die Tochter im Akt der Blendung für den väterlichen Übergriff bestraft oder war dieser ein Versuch, sie zu schützen vor dem Anblick des Schrecklichen – dessen Beschaffenheit sich auf den Machtmissbrauch des Patriarchats bzw. der modernen Eliten aus Wissenschaft und Politik ausweiten ließe? Ein leiser Zweifel hinsichtlich Ondas Interpretation der Behinderung als Welterweiterung und Zeichen der Exzellenz bleibt bis zuletzt bestehen.
Eine finale Korrekturlesung durch das Verlagslektorat hätte sicher eine flüssigere deutsche Übersetzung erbracht. An einigen Stellen stört ein umständlicher, noch an das japanische Original angelehnter Satzbau, an anderen häufen sich ungünstige Wortwiederholungen. Rätselhaft bleibt den Leser und Leserinnen wohl, warum die Protagonistin Hisako in einer Passage des dritten Kapitels plötzlich als Hisayo erscheint. Da es sich um ein Exzerpt aus Makikos Buch handelt, kann man folgern, die fiktive Verfasserin Makiko Saiga habe dort die Namen ihrer Figuren (auch Aosawa wird offenbar zu Aizawa) verfremdet – eine kurze Erklärung im Glossar hätte angesichts der ohnehin leicht verwirrenden Struktur des Romans Hilfestellung leisten können.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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