Wahr, falsch, dumm, bösartig

Sasha Filipenkos fulminanter Pop-Roman „Die Jagd“ über russische Verhältnisse ist auf Deutsch erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichten sind schnell erzählt, auch die Hauptgeschichte oder der Hauptstrang der Geschichte. Da sind: ein russisches Oligarchensöhnchen, Oligarchentöchterchen plus zugehörige Mama, Oligarchengattin, die leider nicht mehr in Südfrankreich leben können, sondern nach Russland müssen. Größte Probleme: Privatjet weg, der schwule Sohn kommt an seine Flamme Sébastien nicht mehr ran (aber ob das mehr ist als ein oberflächlicher Flirt darf man bezweifeln), weil zu weit weg. Hintergrund: dem Vater sitzt ein Investigativjournalist im Nacken – aber: das wollen wir doch mal sehen. Hier kommt die Hauptgeschichte ins Spiel. Mark Smysklow, berühmter Cellist, hat es auch nicht leicht, einige Kritiker halten ihn für die „größte Enttäuschung des Jahres“. Sein älterer Bruder Lew erzählt ihm haarklein wie der Investigativjournalist, Anton Quint von ihm und seinem Kumpel Kola immer weiter in den Ausschluss getrieben wird. Auch Lew hatte es nicht leicht. Ursprünglich mit goldenem Löffel im Maul aufgewachsen, wird er durch seinen in Ungnade gefallenen Vater mit in die Armut gezogen – aber: das wollen wir doch mal sehen. Hast du keinen reichen (Oligarchen-)Papa mehr, such dir das passende Geschäftsmodell im Russland der 2010er Jahre. Immer gut: Gewalt, andere jagen, hier: obenerwähnter Quint.

Der ist ein humaner, unbedarfter, der Wahrheit verpflichteter Kerl – zum Abschuss freigegeben, weil er den Oligarchen piesackt. Wie gehen Lew und Kola vor? Sie ziehen zuerst in die Wohnung neben der Quints, stören und zermürben durch Lärm. Derweil wird Quint in der Presse angeschwärzt: „Leider“, so heißt es da, ignorierten „die Behörden nach wie vor das Problem der vom Westen bezahlten Journalisten“, jetzt wird der Name genannt:

Nehmen wir zum Beispiel Anton Quint, der mehrmals die Woche Botschaften westlicher Länder besucht, wonach er einen revolutionsorangenen Tintensumpf aufs Papier schmiert. Ob sich nicht besser der Inlandsgeheimdienst seiner Texte annehmen müsste? Müsste man nicht eine Liste derartiger Pseudojournalisten anlegen, damit Volksfeinde wie Quint sofort erkannt werden?

Hier ist Quint zwar noch nicht zum Abschuss freigegeben, aber Zielfernrohre nehmen ihn in den Sucher. Es folgen Fernsehbeiträge, zuerst nur mit kurzen Hinweisen auf Quint, aber stets wird er als Dreck bezeichnet. Kola ist verwundert, dass das klappt, doch, sagt Lew, das funktioniert, wenn die einen anfangen zu hetzen, hetzen die anderen mit. Ich würde mal behaupten: Bösartigkeit streut Metastasen, hundertpro, immer.

Quint hat Angst vor Hunden, also beschaffen sich die freundlichen Nachbarn einen giftigen Kampfhund.Aufgeschlitzte Autoreifen, kaputte Windschutzscheibe, Quints Laptop wird geklaut. Beginnende Paranoia. Dann wird Quints Vater aufgehetzt, in einem Fernsehbeitrag beklagt er sich, sein Sohn kümmere sich nicht um ihn. Quints Frau wird fast von Lew und Kola vergewaltigt, Quint wird Kinderpornographie angehängt. Langsam dreht er durch. Er ist sturmreif geschossen, eine Talkshowteilnehmerin, natürlich Patriotin, empfiehlt ihm: wenn es ihm ‚hier‘ nicht behage, dann solle er doch dorthin gehen, „wo es ihm mehr behagt, wo an erster Stelle die Finanzen stehen und erst dann menschliche Gefühle“. Applaus. Schließlich wirft Quint sein Töchterchen aus dem Fenster, er ist völlig durch.

Was hier so rasant, zynisch bis sarkastisch, mit hohem, etwas popliteraturhaftem Schwung erzählt wird, ist das Abbild der russischen Gesellschaft seit etwa 2010. Immerhin konnte die Originalausgabe des belarussischen Autors Sasha Filipenko noch 2016 in Russland erscheinen. Zermürbungstaktiken, Gewalt, öffentliche Bloßstellung und Hetzen in Talkshows, Vorwürfe der Pädophilie: all das ist inzwischen Realität in Russland.

Es ist zum Verzweifeln, aber kann man da etwas verstehen, einfach dass man´s verstanden hat, denn besser wird es ja nicht? Bekannt ist Hannah Arendts Diktum, der „ideale Untertan“ im Totalitarismus sei nicht der „überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist“, sondern „der Mensch für den die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion […] sowie die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch […] nicht mehr existieren“.

Das ist ein Ansatz. Wann ist etwas wahr? Nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit ist eine Aussage dann wahr, wenn sie mit der Realität übereinstimmt: Die Aussage, dass das hier eine Buchbesprechung ist, ist wahr, wenn das hier eine Buchbesprechung ist. Trivial? Schon, aber wichtig.

Es gibt in Filipenkos Roman die Beschreibung einer Show, Execution TV, ein „Gerichtsverfahren“, das live übertragen wird. Zeige Bösartigkeit, hetze Menschen auf: das wollen wir doch mal sehen.

Der Staatsanwalt befragt einen Blogger, er möge erklären, was sein „Blogeintrag zu bedeuten hatte“.

Antwort: „Nichts“.

Staatsanwalt nachhakend: „Sie wollen uns weismachen, dass Sie einfach so, ohne jeden Hintergedanken, eine leere Nachricht veröffentlicht haben.“

Antwort: „Ja.“ Und weiter: „Das heißt, wir sollen Ihnen glauben, dass ein Autor mit dreihunderttausend Followern einen leeren Post veröffentlicht, ohne damit etwas bezwecken zu wollen?“ Antwort: „Genau.“ Staatsanwalt: „Wollen Sie uns für blöd verkaufen?“

Die Aussage, dass der Blogger eine böse Absicht verfolgt, ist dann wahr, wenn er eine leere Nachricht postet.

Die Aussage, dass der Blogger eine böse Absicht verfolgt ist dann wahr, wenn er keine leere Nachricht postet.

Die Aussage, dass der Blogger eine böse Absicht verfolgt, ist dann wahr, wenn er eine pro-russische Nachricht postet. Hier kann niemand mehr wahr von falsch unterscheiden. Wer andere verfolgen will, unterstellt ihnen dort böse Absichten, wo er welche erfindet. Wahr ist, was der Staatsanwalt für wahr erklärt. Jetzt muss man die Mehrheit zum Hetzen einladen. Dummheit und ‚verletzte Gefühle‘ werden aufgefahren. In der Show kommt eine Gruppe gläubiger Menschen zu Wort, „deren Gefühle verletzt worden waren“. Und was war am leeren Blogeintrag so verletzend? Dass da nix drinsteht. „Genau das hat uns ja so verletzt! Wir waren erschüttert über die Spitzfindigkeit, mit der der Autor des vorliegenden, wenn Sie gestatten, Textes, sich über uns lustig machen wollte.“ Frage des Staatsanwalts: sollte also der Blogger verklagt werden? Sie, so der Sprecher der Gläubigen, seien ja ganz dem Geistigen zugewandt, aber das „Unheil“ bestehe darin, dass „nicht nur unsere Gefühle verletzt worden sind, sondern die Gefühle von Millionen Gläubigen, die im Unterschied zu uns nicht für sich einstehen können.“

Zum Staat, der nach der Logik der Tricksereien-Logik von Geheimdiensten funktioniert, müssen Untertanen und Speichellecker und Profiteure kommen, die nicht nur keine Lust mehr haben, wahr von falsch zu unterscheiden, sondern auch noch bösartig und dumm sind. Und die größte Dummheit könnte die sein, dass man das nächste Mal selbst dran ist, wenn es wieder heißt: welche Wahrheit wollens denn? Denn, siehe Lews Vater, man kann gar nicht so schnell tricksen, wie man in Ungnade fallen kann.

Titelbild

Sasha Filipenko: Die Jagd. Roman.
Aus dem Russischen von Ruth Altendorfer.
Diogenes Verlag, Zürich 2022.
277 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071580

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