Mutiger Etikettenschwindel

In „Erasmus für’s Leben“ versucht sich Philipp Heilgenthal an einem Roman

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Titel machen neugierig, weil sie gleichermaßen berühmte, bedeutende und spannende Persönlichkeiten in Erinnerung rufen. So auch Erasmus für’s Leben, Philipp Heilgenthals erster „Roman“. Die bei Erasmus von vornherein mitschwingende Dopplung von Philosophem und akademischem Programm erweitert sich quasi zum Dreiklang, weil Stefan, der BWL-Student aus Deutschland, um den es hier geht, immer wieder einmal einen austauscherprobten Verwandten, seinen Cousin Thomas, zurate zieht. 

Der 22-jährige Stefan aus dem Siegerland fliegt von Düsseldorf nach Bari, um dort ein Semester zu studieren. Er landet in einer WG, in der außer ihm vier Erasmus-Studierende aus Argentinien leben. In Deutschland, „Loserland“, wie er des Öfteren sagt, hat sich Stefan gerne noch an Mamas Rockschöße geklammert. Nun muss er sehen, wie er allein klarkommt. Als waschechter Naivling stolpert er durch eine Reihe von Abenteuern: eine misslungene Mountainbike-Tour, eine wilde Partynacht in Neapel mit Dealer, ein kleiner Strandunfall, bei dem er mit seinem Allerwertesten in einem Strandigel landet, mehr als eine „Sexperience“, Alkoholexzesse mit Ballermann-Atmosphäre und schließlich ein verpasster Bus in Sizilien, der ihn zum Trampen zurück nach Bari zwingt. Über all diese Dinge gerät das BWL-Studium in Vergessenheit – bis zu dem Morgen, an dem Stefan eine Präsentation zum „Einfluss der neoklassischen Theorie auf die modernen Finanzmärkte“ so gründlich verpatzt, dass er sein Studium abbricht. Bevor er nach Deutschland zurückfliegt, findet er immerhin zu seiner großen Liebe, Alejandra aus Argentinien, die sich anschickt, ihm nach einigen Wochen Fernbeziehung in das mittelhessische Gießen zu folgen.

Manches wirkt tendenziell witzig, vieles hingegen ödet ein bisschen an, weil man Ähnliches schon tausendmal gehört hat – die Anekdoten nämlich, die um das große Thema studentisches Leben im Abseits der Uni kreisen. Einerseits erstaunt es vor diesem Hintergrund, andererseits ist es nicht inkonsequent, dass in diese nicht-akademische Erfahrungswelt recht unmotiviert eine Präsentation hineinplatzt, die zur Abrechnung mit dem Seminar an der Universität Bari im Besonderen und mit dem BWL-Studium im Allgemeinen gerät. Urplötzlich bemerkt der Protagonist, dass seine Mutter ihn zum Studium gedrängt hat und dass ihn „die ganze indoktrinierte Geiz-ist-geil-Mentalität, die Spekulationspolitik an der Börse und die mit dem viel zu rationalen Weltbild des ‚Homo Oeconomicus‘ begründete Ausbeutung von Menschen durch Menschen gehörig“ aufregt. Und wenn er hundertmal mit dieser Kritik recht hat: der Sinneswandel gibt sich unauthentisch. Zwar ist der Paroxysmus der Infragestellung äußerst effektiv und mag jede bis dahin aufgebaute Leser*innen-Erwartungshaltung destruieren, allerdings: man nimmt dem jungen Mann nur sehr bedingt ab, dass er plötzlich eine ganz andere existenzielle Tonlage anschlägt. Nur einmal wird ein kleiner Keim dazu angelegt: als „der eher konservative und bodenständige Deutsche“ sich bei der Forderung nach Legalisierung von Cannabis „extrem zwiegespalten zwischen Abneigung und Neugier“ fühlt. Die kleinen Quäntchen Renitenz, das ist typisch für diesen Text, hallen nicht nach.

Genauso unintegriert wirkt der doppelte Bezug auf Erasmus. Der Ex-Erasmus-Student Thomas gibt die eine oder andere Hilfe, so lange, bis er gesteht, dass er kein erfolgreicher Berufsstarter sei, sondern bei seinem Arbeitgeber eher anspruchslose Tätigkeiten ausführen müsse.

Im Vergleich zu den Statements des ab und an leicht „sinnfluencenden“ Thomas bewegen sich die Texte des Erasmus von Rotterdam kaum über ihre Zitation als Motto der einzelnen Kapitel hinaus, selbst dann nicht, als Stefan sich auf Erasmus bezieht, um im Gegenzug Thomas zu trösten, der sich ihm gerade offenbart hat. Die Chance, die Versatzstücke im Text zum Leben zu erwecken und ihre ahistorische Tragweite zu aktivieren, wird weitestgehend vertan. Absehen lässt sich von einem Mikro-Impuls, der von der meist schweigenden WG-Mitbewohnerin Valentina ausgeht, die nebenbei aufdeckt, dass sie eine „Art von Autismus“ habe.

Mit großem Wohlwollen lassen sich in formaler Hinsicht Charakteristika eines pikaresken Romans erkennen, eventuell ebenso und wieder ganz anders, etwas Experimentelles, das der Gestalt des Textes anhaftet. Heilgenthal schreibt keine fortlaufende Geschichte, sondern gefällt sich in der Aneinanderreihung von Episoden, in denen die postpubertär ausagierte Freiheit und die Anstrengung, sich endlich von der mütterlichen Ägide zu lösen, spürbar werden.

Doch diese Ansätze ordnen sich in das Große und Ganze eines leider ziemlich unreflektierten Coming-of-Age-Romans ein, was sich nicht zuletzt in Nationalklischees und anderem nicht politisch Korrektem manifestiert, sehr konkret in einer Szene, als Joaquín, einer der WG-Bewohner, Dokumentationen über die Wehrmacht schaut: Stefan „hofft nur, die Begeisterung beruft sich allein auf die militärischen Erfolge der Wehrmacht und nicht auf die menschenverachtende Ideologie, welche das Unrechtsregime den Soldaten damals eintrichterte“. Als ob militärische Erfolge nicht per se menschenverachtend wären…

Anzunehmen ist, dass der Autor sich bewusst gegen das epische Präteritum entschieden hat, um seinen Ausführungen einen besonders lebhaften Touch zu verleihen. Gut gemeint ist nicht gut gemacht, zumal ein Erzähler auftritt, der munter zwischen Hetero- und Homodiegese wechselt. Aus dieser Hybridität resultiert sowohl ein neutraler, distanzierter Blick auf den Protagonisten – so etwa „der Hobbyfotograf“ – als auch etwas Involviertes: streckenweise Tagebuch ohne ein Ich und einhergehend damit Anflüge von erlebter Rede im Präsens. Da vieles dabei nicht ganz so rund zu laufen scheint, drängt sich die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, Stefan zumindest als Ich sprechen zu lassen.

In diesem Fall würde man bestimmt eher über die Myriaden an klischierten Sprachbildern hinwegsehen, weil man sie als Idiosynkrasien des Studierenden abtun könnte. Gerade im ersten Kapitel drängen sich solche Wendungen: „Ein kleiner Schritt hinein in das Gate […], aber ein gewaltiger Sprung im Leben des Studenten“, „08/15“, „Wahl zwischen Pest und Cholera“ sowie „ein Landstrich, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“.

Nicht zu ignorieren sind die vielen nicht gesetzten Kommata („Thomas weiß immer was er will und er bekommt auch was er will“ oder „Aber ich weiß was Du meinst“), die Unsicherheiten in der Rechtschreibung, insbesondere in der Groß- und Kleinschreibung („was praktisches“, „wild am knutschen“, „die Gesprächspartnerin hört einen nicht Stottern“, „der Moment, indem er den Auslöser drückt“), sowie – seltener – in der Grammatik („Immer wieder vermieste ihn der Gedanke an diesen Moment seine wunderbaren Erlebnisse“). In logischer Hinsicht wird es peinlich, als im Gespräch mit Valentina aus dieser urplötzlich Alejandra wird. 

Zielgruppe des mitunter heiteren Elaborats, das Heilgenthal sehr mutig als Roman deklariert, sind möglicherweise unmotivierte Studierende wie Stefan. Ob diese vorrangig zu einem Buch greifen, darf jedoch bezweifelt werden. 

Erasmus für’s Leben ist weder ein Roman noch das, was Philipp Heilgenthal schließlich in seiner „Danksagung“ schreibt: Durch viele Begegnungen mit „Erasmusstudenten weltweit“ habe er „einen enormen Input an Ideen und Geschichten für diesen Roman“ erhalten. Soweit – so gut, und dann: „Dadurch fiel es mir leicht, Stefan zum Leben zu erwecken und damit einen allgemeinen zeitlosen Ratgeber für künftige Erasmusgenerationen zu schreiben“. Das klingt völlig unrealistisch und überambitioniert oder, um es mit Erasmus zu sagen: „Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit“.

Titelbild

Philipp Heilgenthal: Erasmus für’s Leben. Roman.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
232 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783826075179

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