Eine persönliche Erfahrung

Georges Didi-Huberman reist in „Zerstoben“ nach Warschau ins Ringelblum-Archiv und beugt sich mit den ArchivarInnen über die Überreste und Papiere der Toten

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuerst bin ich über das erste Wort des deutschen Titels gestolpert: Zerstoben. Googeln lehrte mich, das sei ein „sehr selten“ verwendetes Wort. Als Schwabe, für den Hochdeutsch immer mal wieder Fremdsprache ist, war das Wort im passiven, aber nicht im aktiven Wortschatz. Da wackelt die Semantik. „Zerstoben“ kommt von „zerstieben“, noch unvertrauter, aber ein Beispielsatz half mir weiter. Schnee kann zerstieben, das kann ich mir vorstellen, Wind kommt auf, Schnee wird aufgewirbelt, zerstreut und löst sich in nichts auf. Das französische Pendant ist épars: zerstreut, aufgelöst, unordentlich, vereinzelt, wirr, lückenhaft, unzusammenhängend, zusammenhangslos. So taste ich mich also, hoffe ich, an das heran, was die dann doch kluge Übersetzung von Horst Brühmann und möglicherweise die Sinnintentionen Didi-Hubermans sein könnten: „zerstoben“ ist verstreut, lückenhaft: so ist ein Archiv aufgebaut, es ist eine Sammlung von allem und nichts und das trifft auch auf das sogenannte Ringelblum-Archiv zu. 

Ende November 1940 begründete Emanuel Ringelblum (1900–1944) mit anderen Angehörigen des Warschauer Ghettos ein geheimes Archiv: Oyneg Shabes: Freude am Sabbat als Tarnname. Ringelblum selbst, ein marxistisch angehauchter Sozialhistoriker, wollte alles an Papieren sammeln, dessen er und seine Gruppe habhaft werden konnten, ohne eine Vorauswahl zu treffen. Und so wurde alles gesammelt, was an beschriebenem, bedrucktem Papier im Ghetto erreichbar war: Sammeln, Aufbewahren, Zeugnis ablegen. Plakate, offizielle Dokumente, Tagebücher, Aufsätze aus der geheimen Ghettoschule, Bonbonpapier, Lebensmittelkarten, Briefe aus dem gesamten Polen (was u.a. dazu führte, dass man im Ghetto seit 1942 zunehmend über die Vernichtung der Juden informiert war. Darüber erhielt auch die polnische Exilregierung in London Kenntnis). Zwischen Juli und September 1942 deportierten die nationalsozialistischen Besatzer etwa 280000 Menschen aus dem Ghetto nach Treblinka zur Vernichtung. Das Archiv wurde in zehn Metallkästen und zwei Milchkannen in einem Keller versteckt. Im März 1943 konnten sich Ringelblum, seine Frau Yehudia und sein kleiner Sohn Uri außerhalb des Ghettos verstecken. Später lebten sie wieder, versteckt mit fast 40 anderen Menschen, im Ghetto, im März 1944 wurden sie verraten, wenige Tage später wurden Ringelblum, seine Frau und sein Sohn erschossen. 

Nach dem Aufstand von April bis Mitte Mai 1943 wurde das Ghetto vollständig niedergebrannt. Drei Angehörige der Archivgruppe überlebten, Rachela Auerbach, Hersz Wasser und seine Frau Bluma Wasser. Gab es Überreste? Gab es die Möglichkeit, die vergrabenen Metallkästen und Milchkannen zu retten? Hersz Wasser hatte Schwierigkeiten, die Orte wieder zu finden. Im September 1946 konnte ein erster Teil des Archivs aufgefunden werden, im Dezember 1950 fand man auch die beiden großen Milchkannen, von einem dritten Teil scheint nur ein Tagebuch gefunden worden zu sein, insgesamt umfasst das Ringelblum-Archiv ca. 30.000 Blatt. 

Anfang Oktober 2018 reiste Georges Didi-Huberman nach Warschau ins Jüdische Historische Institut. Dort wird das Ringelblum-Archiv verwahrt, bewahrt und aufgearbeitet. Anlass dazu war ein Hinweis, den Didi-Huberman 2017 in einer seiner Universitätsveranstaltungen durch Rafal Lewandowski erhalten hatte. Im Ringelblum-Archiv fänden sich auch Fotographien, was bis dato wenig bis kaum bekannt war. Ein zweiter Ursprung der Reise war persönlicher Natur. Didi-Huberman besitzt ein Bündel von Familiendokumenten, ein Teil davon führt ins Warschauer Ghetto. Später wird Didi-Huberman in Warschau mehr über diese „vergilbten“, fragmentarischen Familienpapiere erfahren. 

Zerstoben also, fragmentiert, zerstückelt, es wird alles lückenhaft bleiben. Didi-Huberman will keine Geschichte der Fotographien-Sammlung noch des Archivs schreiben, die gibt es schon (Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek 2010). 

Das Faszinierende an Didi-Hubermans Buch ist erstens seine Bescheidenheit. Zum zweiten wird diese Demut, Bescheidenheit entlang des Wortes „zerstoben“, die offene Struktur des Buchs entlang, mittels dieses Wortes strukturiert. Jedes Kapitel widmet sich unterschiedlichen Arten oder Zustandsformen von Papieren. So skizziert ein Abschnitt „verwaschene Papiere“ – die Metallkästen waren, als man sie fand, mit Wasser kontaminiert, ihre archivalische Rettung und Aufbereitung schier unmöglich. Im Kapitel „vergilbte Papiere“ beschreibt Didi-Huberman Geschichte und sein (lückenhaftes) Wissen über das Bündel an Familiendokumenten.

Es bleibt aber nicht so konkret. Im Abschnitt über „beweinte Papiere“ geht es nicht etwa nur um Tränen, die man vergießt, wenn man traurige Nachrichten liest, sondern um eine doppelte Erfahrung. Das Buch beginnt damit, dass Didi-Huberman eine persönliche Erfahrung mitteilt. Eines Tages sah er sich im Spiegel weinen, da „zerbrach etwas, und etwas erschien“: Distanz, sich beobachten als wäre man ein anderer: „Als ich mich weinen sah, beobachtete ich plötzlich, gleichsam von außen, was die Emotion, etwas völlig Innerliches, auf der Oberfläche meines Gesichts veränderte“. Er war also in Kontakt zu sich, zugleich aber in Distanz. Sind Kontakt und Distanz Gegensätze? Nein: „Berührung und Abstand bedingen sich gegenseitig“, zwischen ihnen befindet sich ein Medium: Glas, Luft, Wasser. Worum geht es dabei? Er muss sich klarwerden, es geht um das Sehen, oder, noch vorsichtiger „zumindest“ um den Versuch zu sehen. Dann erhebt sich die Frage, ob es eine Beziehung zwischen klagen und sehen gibt? Klagen ist nicht nur passiv und sehen aktiv. Klagen ist auch der Ausgangspunkt eines Erkenntnis-, eines Sehensprozesses. Didi-Huberman bezieht sich als Person, seine psychischen Zustände als Erkenntnisinstrument mit ein, dezent, unaufdringlich. 

Was ist da bei seinem Weinen und Erkennen „zerstoben“? „Die psychischen Positionen“. Bei den „vergilbten Papieren“, den Familiendokumenten sind „Bruchstücke der Erinnerung“ zerstoben, beim wässrigen Zerstörungsprozess der Papiere zerstieben die „Zellulosepartikel“. 

Diese wenigen Beispiele können nur andeuten, dass Didi-Huberman eine vorsichtige, eine zurückhaltende, emotional für ihn hoch aufgeladene Reise unternommen hat. Diese Reise ist auch ein Versuch des Dialogs, der Interaktion mit den Toten  – im Wissen, dass das nicht geht. Da ist nur Zerstreutes, Lückenhaftes und die Toten des Ghettos sind wirklich zu nichts geworden. Der Dialog findet aber auch, und das ist ebenso bewegend, mit den ArchivarInnen des Jüdischen Historischen Instituts statt, die mit Didi-Huberman die Reise zu den Papieren und Fotos unternehmen.

Da ein Dialog nicht möglich ist – und dies ist eine weitere faszinierende Erfahrung, die man mit Didi-Hubermans Buch macht, zitiert er viel aus den Papieren, die Ringelblum und seine Gruppe sammelten. Ist man in der Lage, sich die Situation vorzustellen, wenn man weiß, dass man vernichtet werden wird? Ich nicht. Soll man es überhaupt versuchen? Oder ist das billige Emotionalisierung? Ich weiß es nicht. Aber liest man den einen oder anderen Brief, so kommen einem die Tränen: „Liebe Mutter, mach dir keine Gedanken, man kann nichts tun.“ 

Oder wenn eine Frau aus einem anderen Ghetto an Bruder und Schwägerin ins Warschauer Ghetto schreibt: 

Die Stimmung ist nicht sehr gut, ich musste mich überwinden, Euch zu schreiben. Das wird vorübergehen. […] Du hast uns geschrieben,  dass Ihr bereit seid, Euch auf den Weg zu machen. Ich bin jetzt nervös, aber achtet nicht auf das, was ich schreibe. […] Dass ich noch nicht verrückt geworden bin, ist ein wahres Wunder. […] Entschuldige, ich kann nicht. Entschuldige. Könnten wir uns eines Tages wiedersehen. Ich umarme dich.

Titelbild

Georges Didi-Huberman: Zerstoben. Eine Reise in das Ringelblum-Archiv des Warschauer Ghettos.
Konstanz University Press, Konstanz 2022.
144 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391468

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