Der Mystiker aus Wasserburg

Jochen Hieber porträtiert „Martin Walser“ kundig, mit Sympathie und Teilhabe

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Martin Walser und seinem literarischen Werk scheiden sich die Geister. Außer Frage steht die nationale Wirkmächtigkeit des Romanciers, Erzählers, Poeten und Beobachters wie Kommentator des Zeitgeschehens. Zugleich hat Walser – etwa durch seine Betrachtungen zur deutschen Zeitgeschichte – kritische Resonanzen hervorgerufen, ja auch Formen sprungbereiter Feindseligkeit erleben müssen, nicht weil er provozieren wollte, aber doch provoziert hat, etwa mit einem scheinbar harmlosen Begriff wie „Geschichtsgefühl“ oder mit dem satirisch gemeinten, aber nicht nur von Marcel Reich-Ranicki als grenzüberschreitend beurteilten Roman Tod eines Kritikers. Jochen Hieber, Germanist und Literaturkritiker, würdigt den oft ungewollt streitbaren, unbeirrbaren Dichter und Denker, äußert nuancierte, sparsam dosierte Kritik, die indes auch eher unbestimmt bleibt, an manchen politischen Einlassungen und schreibt über ihn mit aufrichtiger Verehrung.

Fraglich erscheint, ob Walsers „Lebensthema Deutschland“ lautet – auch wenn die deutsche Geschichte in vielen seiner Werke nicht nur hervorscheint, sondern deutlich präsent ist. Über den „Nachkriegsautor“, der am 24. März 2022 seinen 95. Geburtstag begehen durfte, schreibt Hieber: 

Schon rein statistisch sind das geteilte Deutschland, die vereinte Bundesrepublik und der Schriftsteller Martin Walser annähernd eins, physisch wie metaphysisch sind sie es ohnehin: das gemeinsame Beginnen, die mittlere bis lange bis sehr lange Dauer, der ungebrochene Fleiß und das trotz manchen Wellentals auch stete Vermehren, das enorme Wachstum.

Der Begriff „Fleiß“ passt zumindest nicht ganz – und diese Einschätzung wird von Hieber im weiteren Verlauf des Buches auch modifiziert. Er wählt dafür eine „einfache wie emphatische Formel“: „Schreiben ist Atmen, also wird erst der Tod das Schreiben enden.“ Das klingt schwergewichtig, graduell pathetisch, bei dem Schriftsteller ist es aber eine Existenzweise – er schreibt, schreibt weiter, nicht weil er will, eher weil er nicht anders kann. Schreiben ist für ihn eine Passion. Walser, so Hieber, stehe in der „Tradition romantischer Reflexion und Empfindung“, er sei ein „Nachkömmling der deutschen Romantik“:

Allein das permanente Notieren, das ununterbrochene Schreiben und unentwegte Publizieren über die Jahrzehnte hinweg weisen auf eine genuin romantische Natur, das heißt: auf einen ruhelos Reflektierenden, dessen eigentliches Lebenselixier der unendliche Text und dessen Lebensvollzug die möglichst umgehende, vor allem jedoch unaufhörliche Verwandlung von Erlebtem und Erfahrenem in Literatur – romantisch gesprochen: in Poesie – darstellt.

Der Schriftsteller sei „mit ganzer Seele ein zumindest halber Romantiker“, dem das „Elend der Aufklärung“ ebenso bewusst sei wie die Kargheit von „Helmut Kohls neokonservativer Wende“. Walser rebelliert gegen alle „autoritären Vorgaben“, auf seine Weise, streitet wider alle zeitgeistlichen Strömungen und hegt Sympathien für Träume, die er nicht gedeutet oder psychoanalytisch seziert wissen möchte: „Die blaue Blume wird nicht nur im Traum gefunden, sie hat sich auch fürs tätige Leben als vorteilhaft erwiesen: Sie hält länger jung.“ Doch Walser äußert sich auch polemisch, etwa gegen den „Verfassungspatriotismus“, ein spröder, farbloser Begriff, der hier Jürgen Habermas zuerkannt wird, aber von Dolf Sternberger stammt – auch darum mag der Schriftsteller den Philosophen in diesem Zusammenhang nicht erwähnt haben. Walser möchte auch im Jahr 1988/89 den Gedanken an die deutsche Einheit nicht aufgeben, zu einer Zeit, als unmittelbar vor dem Ende der DDR kaum ein Intellektueller aus Deutschland sich hierzu zu bekennen wagt. Walsers „unbeirrtes Engagement“ gilt einer Überzeugung, „mit der man unter seinesgleichen ziemlich allein ist“, aber der er souverän, entschlossen und gelassen treu bleibt, zur Not auch kämpferisch. Er kann vom „deutsch-deutschen Geschichtsgefühl“ nicht lassen, bis 1989 dann endlich – wie Willy Brandt am 9. November 1989 sagte – „zusammenwächst, was zusammengehört“.

Martin Walsers Werk wächst, auch im hohen Alter erscheinen weiterhin neue Bände aus der Schreibstube des schwäbischen Alemannen, der ganz in Wasserburg am Bodensee zu Hause ist und fortwährend sinniert, grübelt und spekuliert. Auch die Gottesfrage bewegt ihn, nicht weil er unbedingt gläubig sein will, wohl aber weil die Glaubenslosigkeit ihm unbefriedigend erscheint und die Sehnsucht ihn nicht loslässt. Martin Walser will auch von der Sehnsucht nach Gott nicht lassen. Er war „Zentralakteur öffentlicher Debatten“, mehr noch aber wurde über ihn diskutiert– und das Alterswerk des vielleicht nicht weisen, aber staunenden und weitsichtigen Autors gibt andere Einblicke in die Weltsicht des Literaten, der sich mit der Welt nicht ganz zu begnügen weiß oder dem die bloße Welt und Wirklichkeit nicht genug sind. Er sinniert, schaut hinaus, auch über den Bodensee, äußert schwebende Gedanken.

Jochen Hieber nennt ihn ein „bundesrepublikanisches Monument“ und einen „Weltverworter“. Zum Denkmal, auch zum „Literaturwunder“, taugt der nachdenkliche Walser aber nicht. Er schreibt eben, und er schreibt auch weiter. Martin Walser spielt nicht mit Worten, er weiß, was er schreibt und sagt, auch wenn er nicht immer verstanden, ja bisweilen grob missverstanden wird und sich auch mehr als einmal missverständlich geäußert hat. Hieber charakterisiert das Frühwerk treffend. Er widme sich dem „undurchsichtigen, verworrenen, unaufrichtigen, verlogenen Gang der Dinge“: „Grundmuster: Leute vom Land wollen aufbrechen, sich im Urbanen zurechtfinden, kommen aber nie wirklich an.“ Walser schreibt über den „Preis des Sich-Verbiegens“, die „berufliche Anpassung“, damit einhergehend auch über die „seelische Deformation“. Für den alten Walser ist Lyrik „Mitte und Ziel des Literarischen“, entstanden durch „konzentrierte Kontemplation“, und er schenkt in dem Gedichtband Sprachlaub 2021 den „Seelensprachenfarben“ weiten Raum: „Naturmeditationen über Bäume, den Regentag, den Fluss, den Mond, den leeren Himmel. Einverstanden sein.“ Seine Tochter Alissa verbindet die Gedichte mit ihren Aquarellen, auf eine harmonische Art und Weise, zugleich eigenständig.

Jochen Hieber schreibt, Walser suche seit dem achten Lebensjahrzehnt einen „Pfad der säkularen Transzendenz“, er wolle das „Nichts-als-Schöne“ und eine Art „innerweltliches Beseeltsein“ – der Walser-Leser fragt sich: das gewiss, aber vielleicht hält Martin Walser noch weiter Ausschau? Über den Horizont des Säkularen hinaus – ahnungsvoll, auf gewisse Weise religiös musikalisch? Ob wir uns Martin Walser als Mystiker vorstellen dürfen, der verborgen vor der Welt am Bodensee lebt, denkt, schreibt, dichtet und hofft? Besonders die späten Gedichte und Erwägungen legen den Gedanken an die Sympathie für das Mystische nahe.

Über die Werke ließe sich vieles sagen. Jochen Hieber führt anschaulich in sie ein, aber bemerkenswert erscheinen besonders die Überlegungen zu Walsers Art zu schreiben: 

Dass der zuerst hingeschriebene Satz bleibt, ist wünschenswert, muss aber nicht sein. Präziseres gibt es nicht, schon gar den exakten Bauplan, die kompositorische Skizze, ganz zu schweigen von einer Art Kursbuch mit Abfahrtszeiten, Streckenführung, Umsteigestationen, Zielankunft. […] Primär ist nur das Unmittelbare, im Verhältnis von Autor und Sprache, also die Lyrik, das Gedicht.

Die erzählende Prosa sei „etwas Sekundäres“. Martin Walser liebt die Lyrik, sei aber „im emphatischen Sinn kein Dichter, obwohl er Hunderte von Gelegenheitsgedichten verfasst“ hat – das aber ist eine Untertreibung. Er fand Gelegenheiten, Gedichte zu schreiben, und diese mögen auch „Gelegenheitsgedichte“ sein, aber deswegen weder banal noch belanglos, sondern wertvoll und lichtreich. Die Leserschaft darf den Lyriker aus Wasserburg und seine schwebenden Gedanken für sich entdecken.

Jochen Hieber hat eine kluge und kenntnisreiche Darstellung von Martin Walser vorgelegt, der Mann und das Werk werden sichtbar, insbesondere das Gewebe der Werke untereinander wird kunstvoll erarbeitet und verständlich präsentiert. Walsers Werk gehöre zur „Dauermelodie unseres Leselebens“, schreibt Hieber. Dieses anregende Buch sei allen, die Martin Walser literarisch entdecken oder sein vielfältiges, facettenreiches und kontrovers diskutiertes Werk besser verstehen möchten, zur Lektüre empfohlen.

Titelbild

Jochen Hieber: Martin Walser. Der Romantiker vom Bodensee.
wbg Theiss, Darmstadt 2022.
336 Seiten , 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783806243550

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