Eine reine Sprache

Szczepan Twardochs Roman „Demut“ hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Krieg, den der Kriegstreiber beim Namen zu nennen verbietet, wütet seit dem 24. Februar 2022 in Europa.

Zu Beginn des Romans Demut von Szczepan Twardoch befinden wir uns im Endstadium des Ersten Weltkriegs in Flandern. Noch ist es dunkel an diesem 23. Oktober 1918. Wenige Augenblicke später wird der Kampf für Leutnant Alois Pokora zu Ende sein. Ihn trifft ein Schlag, „als hätte jemand mit einem Fünf-Kilo-Bergmannshammer gegen meinen Stahlhelm gedonnert“. Er wird ohnmächtig und erwacht erst wieder am 19. November. „,Herr Leutnant, der Krieg ist vorbei‘“ sind die ersten Worte, die er in seinem Bett in einem Krankenhaus in Berlin hört.

Im Fieber hat Pokora Polnisch gesprochen, wie die Krankenschwester berichtet. „‚Sind Sie Pole, Leutnant?‘ fragt die Diakonisse. ‚Nein‘, erwidere ich, ‚ich bin aus Oberschlesien.‘“

Was zeichnet einen Oberschlesier aus, was einen Ukrainer, woran erkennt man einen Russen? Szczepan Twardoch selbst begreift sich als Oberschlesier:

Für einen nicht geringen Teil der Öffentlichkeit in Polen war es schwer zu begreifen, dass ein Autor, der sehr gute Romane in polnischer Sprache schreibt, konsequent betont, dass er kein Pole sei, sondern Oberschlesier. Und dass er selbstbewusst behauptet, Oberschlesisch, das die meisten Einwohner des Landes – auch Sprachwissenschaftler – für einen Dialekt halten, sei eine eigene Sprache.

Pokora spricht Polnisch und Deutsch, im Erzählverlauf des Romans wechseln er und andere Figuren häufig zwischen den Sprachen. Dabei dienen diese beileibe nicht allein der Verständigung, sondern fungieren als Ausweis verlässlicher Zugehörigkeit zu einer Nation, sei es die polnische oder die deutsche. Rein muss sie sein, diese Sprache, akzentfrei, denn in dieser Reinheit gibt sich der Sprecher als wirklicher, wahrer und eigentlicher Pole oder Deutscher zu erkennen.

Alois Pokora möchte sich dieser Logik nicht unterwerfen – und kann ihr doch nicht entkommen. Immer sind es die anderen, die bestimmen, wer er vermeintlich ist, ja, wer er zu sein hat. Als er erfährt, dass nicht sein Vater, sondern der örtliche Pfarrer sein leiblicher Erzeuger ist, spricht er aus, woran er leidet. „‚Als deine Mutter gestorben war, glaubte ich, ich dürfte das nicht, ich hätte kein Recht auf dich.‘ ‚Welches Recht kann man auf einen anderen Menschen haben?‘, frage ich. ‚Welches?‘“ Solange die Mutter lebt, sorgt der Pfarrer als sein leiblicher Vater dafür, dass Pokora Abitur machen und dadurch den vorgezeichneten Weg als Kind einer Bergarbeiterfamilie verlassen kann. Doch diese gut gemeinte Hilfe entfremdet Alois seiner Familie und damit dem sozialen Umfeld seiner Herkunft, ohne dass er als Aufsteiger in bürgerlichen Kreisen wirklich Fuß fasst.

Am 25. Februar dieses Jahres kommt Twardoch in einem Interview zum Kriegsausbruch auf die Frage der Identität zu sprechen: „Identität ist etwas sehr Intimes, und dann kommt Putin und sagt: Ihr liegt mit eurer ethnischen Identität falsch und seid nur ‚Kleinrussen‘. Der grosse Bruder ist Russland.“

Twardoch definiert sich als Oberschlesier, weil er ohne diese Zuweisung seine Identität verleugnen und verlieren würde. Das hat nichts zu tun mit Patriotismus um seiner selbst willen, und ebenso wenig mit irgendeinem Gefühl von Überlegenheit gegenüber denen, die sich Polen, Deutsche, Russen oder Ukrainer nennen. Denn Identität bedeutet lediglich, man selbst zu sein und von allen anderen als dieses Selbst wahrgenommen und vor allen Dingen akzeptiert zu werden. Indem wir eine Person in ihrer Identität akzeptieren, erkennen wir ihr das Recht zu, sich von uns zu unterscheiden. Denn wer ich bin, kann nur ich selbst wissen, so wie Gott es Moses gegenüber zur Antwort gibt: „Ich bin, der ich bin.“

Dieses Recht, die eigene Identität zu definieren, um dadurch mit und bei sich selbst zu sein und so erst im eigentlichen Sinne zur Person zu werden, wird Alois Pokora verwehrt. Vorausgesetzt, dass Olaf Kühl den polnischen Originaltext sinngemäß und exakt übersetzt hat, – und wir haben keinerlei Zweifel an der Qualität seiner Übersetzung –, sollte man sich die oben bereits zitierte Antwort auf die Frage der Krankenschwester nochmals vor Augen führen: „‚Sind Sie Pole, Leutnant?‘ fragt die Diakonisse. ‚Nein’, erwidere ich, ‚ich bin aus Oberschlesien.‘“ Die Antwort beginnt mit einem Nein, und mündet dann in eine Selbstdefinition, die zu denken gibt, denn, wie Twardoch angesichts des Ukrainekrieges betont: „Identität ist etwas sehr Intimes […].“ Pokora antwortet mit einem Nein, das in der Erläuterung „ich bin aus Oberschlesien“ das Nein insofern relativiert, als Pokora eben nicht sagt, er sei kein Pole, sondern Oberschlesier.

Wie lässt sich diese Antwort deuten? Wir fühlen uns an zweierlei erinnert: an Goethes Gedicht Ginkgo Biloba und an Südtirol.

Die letzten beiden Zeilen des Gedichtes lauten:

Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin? 

Hier soll weder Goethes West-östlicher Divan noch das Gedicht Ginkgo Biloba näher gedeutet oder erläutert werden; ich erwähne es an dieser Stelle, weil es dem Dichter gelingt, im Bild des Ginkgoblattes das Undenkbare zu denken.

Damit kommen wir zu Südtirol, das nunmehr seit über 100 Jahren zweifelsohne zu Italien gehört. Sicherlich allerdings würden viele deutschsprachige Südtiroler auf die Frage, ob sie Italiener seien, wohl ähnlich antworten wie Alois Pokora, vielleicht eher mit einem ‚Ja und Nein‘, oder einem ‚Ja, aber‘: Ja, wir sind alle Italienerinnen und Italiener, aber wir kommen aus Südtirol.  

Alois Pokora kann und darf eine solche Antwort nicht geben, er muss sich entscheiden, ob er Pole sein will oder Deutscher. Indem Twardoch uns dies vor Augen führt, verweist sein Roman auf den Krieg in der Ukraine, einem Land, in dem zwei Sprachen gesprochen werden und dessen Geschichte mit der Russlands eng verbunden ist. Der Diktator im Osten zeigt sich außerstande, diese Verbindung als eine des „eins und doppelt“ zum gedeihlichen Zusammenleben aller zu akzeptieren.

Kurz bevor Pokora das Bewusstsein verliert, kommt einer seiner Mitkämpfer zu Tode: 

Die Mannschaft zeigt hin, wir kehren um, ich gehe nach rechts, Kiesel, da ist er, sitzt unten im Graben, an die Wand gelehnt, und versucht mit einer Hand, die Stümpfe beider Beine zu umfangen, die es ihm abgerissen hat, eins, das andere hängt noch, nur an der Haut.

In der Ukraine sterben auf beiden Seiten der Front Menschen auf diese Weise, weil der russische Diktator erneut mit maßloser Gewalt seine kruden Ziele verfolgt.

Das Romangeschehen beginnt im Oktober 1918 und endet im Mai 1921. In der Figur des Alois Pokora konzentrieren sich die Widersprüche und fatalen Folgen eines arroganten Nationalismus, der die Identität der Einzelnen ignoriert, um sie im Kollektiv der Nationen untergehen zu lassen.

Ein gelungener Roman also, weil er vor Augen führt, dass, um es mit Brecht zu sagen, der Schoß, aus dem das kroch, immer noch fruchtbar ist? Dem müssen wir, leider, widersprechen.

Der Ich-Erzähler Alois Pokora adressiert alles, was er schildert, an Agnes, eine Art Femme fatale, der er hörig ist. Einige Zeit hat er sie aus den Augen verloren, doch nun, gegen Ende des Romans, im Mai 1921, sitzt sie „an einem Tisch in der Kaiserkrone, in diesem sogar für das fortschrittliche Jahr 1921 unerhört kurzen Kleid“, und trinkt, wie könnte es anders sein, nicht Sekt, sondern „vermutlich Champagner“. Unmittelbar vorher skizziert Pokora sein kleinbürgerliches Leben, in das er für einige Zeit geschlüpft war:

Emma und ich lebten ein Leben, das erzählt zu werden nicht lohnt, ein anderes Leben wollte ich nicht, ich glaubte sogar, es noch weiterführen zu können, doch jetzt sitzt du, Agnes, an diesem Tisch in der Kaiserkrone, und ich weiß, dieses mein Leben ist zu Ende.

Dieser Roman benennt und erklärt alles und jedes. Man möchte dem Autor ins Wort fallen und ihm sagen, ja, wir haben verstanden, was du meinst, du musst es uns nicht eintrichtern. Twardoch reiht eine Erläuterung an die nächste, ohne dass es ihm, bis auf wenige Ausnahmen, gelingen würde, einen eigenen und unverwechselbaren Blick auf die geschilderten Ereignisse zu werfen. So entsteht der Eindruck, der Autor übersetze lediglich das, was in historischen Quellen bereits geschildert wurde, in die fiktive Form des Romans. Die künstlerische Gestaltung des Geschehens lässt die historischen Quellen dergestalt durchscheinen, dass man meinen könnte, das, was Twardoch uns zu lesen vorsetzt, unterscheide sich in seinem Kern nicht von dem, was historische Darstellungen und Quellen bereits benannt haben.

Wenn der Kunsthistoriker Max Imdahl die Leistung des Gemäldes Guernica von Picasso wie folgt umschreibt, wird damit gleichzeitig benannt, was dem Roman von Szczepan Twardoch fehlt: „Was diese Bildsprache im Bild ‚Guernica‘ vergegenwärtigt, hätte ohne sie kein Vorkommen […].“ Noch genauer formuliert Imdahl die Leistung des Bildes, wenn er darauf hinweist, dass dieses Bild etwas über die Bombardierung der Stadt Guernica sagt, was ohne dieses Bild nicht gesagt worden wäre. In diesem Vermögen besteht die besondere Leistung von Kunst, und Szczepan Twardoch hat mit seinen früheren Romanen bewiesen, dass auch er dies vermag. Leider nur bedingt in dem hier vorliegenden Erzählwerk.

Natürlich muss zwischen Gemälden und Romanen unterschieden werden, doch wenn wir Imdahls These folgendermaßen auf einen gelungeneren Roman übertragen, sollte deutlich werden, was gemeint ist: Was Joseph Roths Radetzkymarsch vergegenwärtigt, hätte ohne diesen kein Vorkommen.

Titelbild

Szczepan Twardoch: Demut.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022.
462 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101219

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