Fröhliche Wissenschaft, wo bist du?

Moritz Senarclens de Grancy erklärt in „Der heißeste Wunsch der Menschheit“ mit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies die Ursachen für unsere gegenwärtigen globalen Probleme, denn wer die Wahl hat, kann sich auch falsch entscheiden

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur wenige Lektüren haben mich so ratlos zurückgelassen wie diese. Jemand wirft einem die Bibel auf den Schoß und befiehlt wie beim Monopoly-Spiel: Gehe zurück zu Adam und Eva. Klar, zumindest für die Christenheit scheint damals etwas falsch gelaufen zu sein, was wir seither als Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies kennen. Man könnte es auch die Entdeckung des Genießens nennen mit dem Wiederholungswunsch als ständigem Begleiter. Jene Paradiesbewohner naschten bekanntlich vom verbotenen Baum der Erkenntnis, vermasselten damit die sorgenfreie Zukunft des Menschen und ließen ihn fortan sterblich sein. Doch nebenbei gefragt, was ist an Erkenntnis so falsch, wenn sie das Nicht-Wissen ersetzt oder auch die Dummheit? „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“, heißt es in der Bibel. Nun, die Augen sind Adam und Eva aufgegangen, um als erstes zu erkennen, dass sie in ihrer „Göttlichkeit“ nackt waren. Und schon war es aus mit dem Paradies, Scham kam über sie, und Adam und Eva wurden zu den ersten Vertriebenen auf der Welt. Mühsal wurde ihr Los und das ihrer Nachfahren, und auch die Qual der Wahl blieb uns treu, die uns die falsche Entscheidung eingibt samt dem Begehren, es immer wieder neu probieren zu wollen.

Das ungefähr ist die Ausgangssituation für den Essay des Psychoanalystikers Moritz Senarclens de Grancy, der mich ständig fragen ließ: Ist der Mensch mythischen Ursprungs? Liefert die Bibel den letzten Wissensstand über die Entstehung der Welt und des Lebens? Ist die Frau sozusagen eine patriarchale Mann-Geburt und ihre Unterwerfung als Strafe gottgewollt? Gab es den Garten Eden als ein einziges Fest aus Symmetrie und Harmonie samt ewigem Leben tatsächlich? Oder haben nicht vielmehr Evolutionsbiologie, Paläontologie, Kosmologie und Astrophysik unserem Wissen über das Woher der Welt und des Lebens und schließlich über das Woher des Menschen als Nachzügler der sogenannten Schöpfung in den letzten zweihundert Jahren mächtig auf die Sprünge geholfen? Wurden da nicht ganz andere Fragen gestellt und erst recht ganz andere Antworten geliefert? Richtig, aber der Autor des hier zu besprechenden und ausgerechnet in einer mit „Fröhliche Wissenschaft“ betitelten Reihe erschienenen Essays hält es lieber mit der Bibel und als Psychoanalytiker selbstredend mit Sigmund Freud. Was mir wiederum Simone de Beauvoirs Mutmaßung in Erinnerung rief, wonach die Psychoanalyse auch nur eine Religion sei, die sie immerhin neben Christentum und Marxismus stellt.

„Natürlich wissen wir“, heißt es ziemlich zum Schluss, dass nicht Gott den Menschen erschaffen hat, „sondern umgekehrt – der Mensch erschuf sich diesen Gott als eine mythische Ursprungserzählung.“ Trotzdem verkauft uns Senarclens de Grancy hundert Seiten vorher genau diese „Tatsache“: „In der Tat hätte der Mensch ein unbeschwertes Leben haben können, ein Dasein frei von Sünde, Gefahr und Unglück, wenn er das Wort Gottes geachtet hätte.“ Bei so viel Konjunktiv fällt mir nur der Volksmund ein – hätte der Hund nicht geschissen, hätte er einen Hasen gehabt.

Die Bibel lässt sich durchaus als „Tagebuch der Menschheit“ lesen, aber dann bitte so kritisch und gewinnbringend, weil erkenntnishaltig wie dies beispielsweise Carel van Schaik und Kai Michel in Die Wahrheit über Eva zuletzt getan haben. Vor allem aber sind Mythen keine realen geschichtlichen Ereignisse, auch wenn Mythen oft einen Nukleus aus Realem enthalten. Ein Blick in andere Religionen zeigt, was da alles noch möglich ist. Wer deshalb an einen paradiesischen Urzustand glaubt, kann das zwar gerne tun, aber sollte uns das nicht als diskutierbare Startsituation für die Menschheitsgeschichte verkaufen wollen. Denn die Menschen haben bis heute mehr erkannt als nur ihre Nacktheit.

Doch der Reihe nach. Was will uns Senarclens de Grancy eigentlich sagen? Der Titel Der heißeste Wunsch der Menschheit stammt als Zitat von Sigmund Freud, gefunden in einem seiner zahllosen Vorträge. Dieser „heißeste Wunsch“ sei, „etwas zweimal tun zu dürfen“. Der Autor reklamiert diesen menschlichen Wunsch als Freuds Entdeckung, „dass in der Wiederholung die Chance liegt, sich in ein günstigeres Verhältnis zu überwältigenden Eindrücken der Vergangenheit zu setzen“. Lassen wir mal beiseite, wie originär diese Entdeckung zu bewerten ist oder wie elaboriert das Ganze erscheint, so geht es also um die simple Tatsache, dass sich der Mensch in all seinen Wahlmöglichkeiten falsch entscheiden kann und dass er die als falsch erkannte Entscheidung durch Wiederholung revidieren möchte. Und wo ist bitteschön der Witz dabei? Dass Freud nicht vor Banalitäten schützt – so vielleicht?

Der Wunsch nach Wiederholung enthält noch eine weitere Perspektive, so Senarclens de Grancy, nämlich das Genießen: „Wir erkennen aber auch, wie sehr die Frage nach der richtigen Wahl mit der Genussthematik verknüpft ist.“ Woraus der Autor dann schlussfolgert: „So lassen sich künftige Entwicklungen als Veränderungen der Libidoökonomie, das heißt als Veränderungen im Verhältnis zu den Regeln des Genießens auffassen.“ Wir sind gespannt.

Doch das Dilemma bleibt uns mit der Qual der Wahl und dem Mangel an absoluter Sicherheit. Auch die Wiederholung könnte am Ende mehr versprechen als sie wirklich hält. Weshalb der Autor nicht ganz zu Unrecht fragt: „Was ist bloß so heiß am Wiederholungswunsch?“ Denn in der Wiederholung bleibt die genossene Befriedigung fraglich. Wenn es nämlich zutrifft, dass einmal keinmal ist, wie es im Volksmund heißt, warum soll es dann mit zweimal getan sein und nicht mit drei-, viermal usw.? „Das Zweimal gehorcht keiner Moral, und die menschlichen Wesen sind allzu oft außerstande, aus ihren Fehlern zu lernen.“ Ist auch nicht gerade neu, und klingt eher nach Kreisverkehr ohne Ausfahrt oder nach der pessimistischen Einsicht: Keine Sicherheit, nirgends. Wir können zwar die Uhren zurückstellen und den Kopf in den Sand stecken, und trotzdem schreitet die Zeit (raumzeitliche Besonderheiten einmal ausgenommen) unerbittlich voran und raubt uns mit der Lebenszeit auch noch Zeit für Entscheidungen. Und hat uns nicht Heraklit gelehrt, dass es keine Wiederholungen gibt, weil niemand in denselben Fluss zweimal steigt?

Wo es bei Senarclens de Grancy um das Geschlechterverhältnis geht, wird es vollends schwurbelig: „Um es dem Menschen am Anfang seiner Selbständigkeit so einfach wie möglich zu machen, verfügte Gott, dass Adam den Boden zu pflügen habe, während Eva die Kinder zur Welt bringt.“ Und so konnte schließlich die katholische Kirche zum „Fort Knox des Patriarchats“ werden, wie es bei Carel van Schaik und Kai Michel heißt.

Zwar bringt der Autor hie und da auch ein paar religionskritische Überlegungen ins Spiel, wenn er beispielweise Freuds Vergleich der Religion mit einer menschlichen Zwangsneurose zitiert, aber an der biblisch begründeten Geschlechterdifferenz soll bitte nicht gerührt werden. Denn schließlich sei die erste Ordnung nach der Vertreibung die Geschlechterordnung gewesen – sie „ergab sich aus der Anatomie der Körper und ihrer unterschiedlichen Funktionen“. Warum aber musste sie patriarchal organisiert sein? Dabei steuert der Autor an anderer Stelle genau auf die Frage zu, ohne freilich den wertvollen Gedanken weiterzudenken: „Eingedenk der Genesis entstammt das Geschlecht einem Mythos, und in gewisser Weise ist es ein Mythos geblieben.“ Zu wessen Nutzen? Da kann auch sein Einspruch gegen Diversität nicht mehr verwundern, die er als „Einfallstor für ein regressives, undifferenziertes Denken“ beschreibt, nämlich immer dann, wenn „die gleichwertige Anerkennung von Vielfalt zum Feind einer kritischen Bewusstseinshaltung wird. Denn wo Vielfalt nur als reiner Nutzwert betrachtet wird, ist kein Raum für Gerechtigkeit und Verantwortungsbewusstsein“. Das hätte ich mir gerne mal erklären lassen.

Titelbild

Moritz Senarclens de Grancy: Der heißeste Wunsch der Menschheit.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
239 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783751805179

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch