Vom Woher und Wohin in der Fremde
Elina Penner erzählt in „Nachtbeeren“ aus drei Perspektiven vom schwierigen Ankommen einer russlanddeutschen Mennonitin im Land ihrer Vorfahren
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNelli Neufeld – „eine 35-jährige gläubige, fromme und bekehrte Mennonitin“, wie sie sich selbst den Lesern vorstellt – ist als kleines Mädchen mit ihrer Familie aus Russland nach Minden übergesiedelt. Ihre der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde der Mennoniten angehörenden Vorfahren waren einst nach Russland ausgewandert, weil ihnen versprochen worden war, dort frei von Verfolgung und getreu ihrem Glauben leben zu dürfen, Privilegien, die man spätestens unter Stalin wieder einbüßte. Die Perestroika-Zeit Ende der 1980er Jahre führte schließlich zur Rückkehr vieler mennonitischer Familien – sie machen heute circa zehn Prozent aller Russlanddeutschen aus – in ihre alte Heimat. Für Nelli, das jüngste von fünf Kindern der Neufelds, beginnt damit eine schwierige Zeit, in der ihr die Anpassung an ihre neue Umgebung alles andere als leicht fällt.
Die 1987 als mennonitische Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion geborene Elina Penner erzählt Nellis Geschichte in ihrem ersten, autobiographisch inspirierten Roman Nachtbeeren. Die Autorin selbst übersiedelte 1991 als Vierjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. Heute lebt sie mit Mann und Kindern in Ostwestfalen. Ihr Romandebüt will die studierte Amerikanistin und Politikwissenschaftlerin, die bereits als freiberufliche Autorin und Bloggerin wertvolle Schreiberfahrungen sammeln und erste Erfolge erringen konnte, hauptsächlich als „eine Liebeserklärung an meine eigenen Leute“ verstanden wissen.
Mit Nachtbeeren reiht sich Penner ein in die beständig wachsende Gruppe jener Autorinnen – Alina Bronsky, Sasha Marianna Salzmann, Olga Grjasnowa, Lena Gorelik und Anna Galkina zählen unter anderen dazu –, die, alle in den frühen 1990er Jahren aus dem postsowjetischen Raum als Kinder mit ihren Eltern und Geschwistern nach Deutschland gekommen und sich in den zurückliegenden drei Nachwende-Jahrzehnten ihren ganz eigenen Platz in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart erschrieben haben. Dass bei den meisten dieser in den 1970er und 1980er Jahren geborenen Frauen das Thema der Einwanderung in einen fremden Kulturkreis mit allen sich daraus ergebenden Problemen eine große Rolle spielt, verwundert dabei keineswegs. Mussten sie, die ihre ersten Prägungen in einem anderen Kulturkreis erfuhren, doch nach ihrer Aussiedlung zumeist sehr schnell registrieren, dass die meisten ihrer bisherigen Lebenserfahrungen in dem neuen Umfeld ihre Gültigkeit verloren hatten.
Keine geringe Hürde für ihr Ankommen stellt dabei die deutsche Sprache dar, in die sie sich als Kinder aber in der Regel schneller hineinfinden als ihre Eltern und Großeltern. Sie sensibilisiert sie auf ganz eigene und ausgesprochen intensive Weise für ihr späteres, dem Schreiben gewidmetes Leben. In Familie und Bekanntschaft von Elina Penners Heldin wird freilich weiterhin das Plautdietsche – die mennonitische Variante des Plattdeutschen, die heute weltweit noch von einer halben Million Menschen gesprochen wird – dem Deutschen vorgezogen.
Oma und Opa heißen bei den Neufelds deshalb weiterhin Öma und Öpa und die Angehörigen der eigenen Community nennt man „ohnse“ und unterscheidet sie grundsätzlich sowohl von den „Hiesigen“ wie auch den „Kolnisten“, den nicht mennonitischen russlanddeutschen Aussiedlern. „Wir Mennoniten haben die Sprache mitgenommen, überallhin, und sie eingefroren. In Tupperware konserviert und die Öffnung im Deckel nur kurz aufgemacht, um russische, englische, spanische Wörter einzustreuen“, heißt es, die Wichtigkeit einer eigenen Sprache auch für das Leben in der Fremde unterstreichend, an einer Stelle des Textes.
Nachtbeeren – der Romantitel stellt einen metaphorischen Bezug zwischen den wenig beliebten Umsiedlern und den Früchten jenes Krauts her, das, ohne dass man mehr über sein Herkommen weiß, gesellig, unauffällig und unverwüstlich wenig braucht, um an den kärgsten Orten zu wachsen – erzählt vom schweren Ankommen einer russlanddeutschen Familie in einem Land, das einst für ihre Vorfahren Heimat war. Nach der mit großen Erwartungen angetretenen Übersiedlung sieht man sich freilich vor Hürden gestellt, die kaum überwindbar erscheinen. Was man in seinem früheren Leben auch immer darstellte, es gilt nicht mehr: „Wer vorher jemand war, hatte kein Glück, fast kein Werdegang wurde anerkannt. Du warst Lehrer in der Sowjetunion? Du wurdest Altenpfleger. Du warst Beamter in der Sowjetunion? Du hast Tischler gelernt. Und alle gingen putzen.“ Dass drei von den vier älteren Brüdern Nellis es nicht schaffen, vom Alkohol wegzukommen, und sie selbst nach ihrer Ankunft in der Fremde für lange Zeit in ein tiefes Loch fällt, ist unter diesen Umständen kein Wunder.
Elina Penners Geschichte einer schwierigen Integration wird aus drei Perspektiven in 30 kurzen Kapiteln, die je ein Wort als Überschrift haben und mit einer Zeitangabe sowie dem Namen des jeweils Erzählenden versehen sind, dargeboten. Außer Nelli Neufeld, dem Alter Ego der Autorin im Text, das die größten inneren Monologanteile besitzt, treten noch ihr Lieblingsbruder Eugen Epp, „der jüngste, der kleinste und der schwächste“ des Brüderquartetts, der sich seit jeher schützend vor seine Schwester gestellt hat, und Jakob, ihr Sohn, auf. Wobei Letzterer ein Geheimnis zu hüten scheint, welches die Abwesenheit von Kornelius Neufeld, Nellis untreuem Mann aus der Community der russlanddeutschen Umsiedler, erklärt.
Die heimliche Hauptperson des Romans ist allerdings Nellis Großmutter. Mit deren Tod ist die entscheidende Wendung im Leben von Elina Penners Protagonistin verbunden. Am Grab dieser Frau stehend, die ihrer Enkelin vor allem Geborgenheit in einer ansonsten kalten Welt vermittelte – „Sie ließ uns groß werden, indem sie das Kleinsein nicht klein machte. Ihre Freude, ihr Leben waren wir Kinder, und sie war die einzige bedingungslos Liebende, die ich kannte.“ –, entschließt Nelli sich, den mennonitischen Glauben anzunehmen und sich taufen zu lassen: „Wenn Öma tot war und Öma das alles glaubte, dann hatte ich keine andere Wahl, als es auch zu glauben, in der Hoffnung, irgendwann wieder bei ihr zu sein.“
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