Abstand halten

Einige skeptische Anmerkungen zu Durs Grünbeins neuem Gedichtband „Äquidistanz“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für Durs Grünbein immer gesprochen hat, war, dass er sich zwar der avanciertesten Schreibtechniken bewusst war, aber nie den letzten Schritt in die Hermetik tun wollte. Das hat ihn der Kritik ausgesetzt und ihm zugleich den Erfolg gesichert. Ein Autor, der nie damit vor dem Berg hält, dass er jeden, der ihn liest, vor den Kopf stoßen könnte, aber darauf verzichtet hat – wie viele Autoren dieses Kalibers hat es im 20. und 21. Jahrhundert gegeben? 

Aber so viel Klugheit ist nicht nur von Vorteil, wenngleich es wohl einen guten Kopf braucht, um gute Lyrik zu schreiben. Ein Gedicht wird immerhin gemacht, wenn man Herrn Benn noch folgen mag. Und von diesem Herrn Benn wie dessen Antipoden Brecht hat Grünbein viel gelernt, eben auch, dass man Distanz wahren sollte. Dem scheint sich Grünbein bewusst zu sein, denn selbst wenn er sich in seiner Schreibweise von beiden lang emanzipiert hat, sind sie auch in diesem Band, der soeben bei Suhrkamp erschienen ist, nur halbwegs verborgen präsent: die Birke im Hinterhof, das immer wieder hervorgeholte Blau. Sogar Paul Celan – der im Werk Grünbeins nicht minder präsent ist – ist als Folie allenthalben zu erkennen. Wenngleich Grünbein den gebotenen Abstand einhält.

Das gefällt, dennoch stellt sich bei der Lektüre von Äquidistanz, dieses neuen Bandes Durs Grünbeins, ein Unbehagen ein, das zwei Gründe hat: der Grünbein-Ton und die Unbedenklichkeit, mit der Grünbein seinen eigenen Aufzeichnungen zu folgen scheint. 

Ad 1: Selbst in den Italiengedichten, die im mittleren Teil des Bandes zu finden sind, lässt Grünbein eine Qualität vermissen, die die großen Lyriker des 20. Jahrhunderts auszeichnet. Es fehlt ein Sound. Nicht derselbe oder ein ähnlicher wie bei Benn und Brecht, Celan oder Bachmann. Das wäre der Kardinalfehler, dem viele Lyriker Mitte des 20. Jahrhunderts verfallen sind, nämlich zu klingen wie irgendeiner der großen Vorbilder. Ganz im Gegenteil, wie klingt denn Grünbein? Gibt es einen typischen Grünbein-Sound? Nach dem man fragt, den man im Kopf hören will und den er – wie auch immer – neu zu generieren versteht, jenseits von Manier?

Vielleicht muss man dafür in der Tat die Referenzen schlichtweg aus dem Kopf verjagen und sich auf den Grünbein einlassen, in dem sich so viele Sprechweisen zu kreuzen scheinen. Das wirkt unprätentiös und gelegentlich profan, aber das ist wohl bewusst gewählt. Italien ist – um auf diese Gedichte zurückzukommen – kein Sehnsuchtsort. Grünbein ist diesem vormals arkadischen Ort viel zu nahe gerückt, als dass er ihn zu idyllisieren vermag. Und dennoch wäre es schön, dieses Italien behielte etwas von seiner Aura (so anachronistisch sie auch sein möge). Mariel Luise Kaschnitz hat so etwas gekonnt (man erinnere sich an Genazzano).

Aber Grünbein? 

Wenn er im titelgebenden Gedicht, das er an das Ende des Bandes gestellt hat, von der Distanz dieses jungen Mannes zu allem spricht, dann scheint er auch auf sein eigenes Schreiben zu verweisen: „Du bist nicht ganz da“, „Du bist soweit weg“, eben in Gedanken. Dann skizziert er damit nebenbei eben auch seine Poetologie. „Mitten“ in den „Erscheinungen“ in „Gedanken“ sein zu können, hat eben auch die Qualität, zu diesen Erscheinungen auf genügend Distanz gehen zu können, sich eben nicht mit ihnen gemein machen zu müssen. Das lädt, zweifelsohne, dazu ein, dieses Weltverhältnis in Sprache zu fassen. Ist aber auch zugleich Verweis darauf, dass Lyrik hier als Ausdruck einer Disposition vorgestellt wird – immerhin nicht als Produkt einer Gefühlswallung, was Gedicht und sein Produzent von vorneherein diskreditieren würde.

Dafür sind seine Setzungen und sogar seine sprachlichen Störer zu offensichtlich gesetzt. Da verirrt sich immer wieder eine Vokabel aus der Alltagssprache ins Gedicht, das dort seine eigene, eigentümliche Sperrigkeit entwickelt, so als ob es Grünbein darauf ankäme, ein allzu großes Wohlbefinden, ein sich Einrichten im Falschen im Grundsatz zu verhindern. 

Das findet sich thematisch gerade in jenen Gedichten im Auftakt wieder, die den urbanen Raum, vor allem das von einer grausamen Geschichte aufgeladene Berlin vorführen. Celan taucht als Referenz auf, und jene machtgeprägte Unrechtsgeschichte, die zwischen Kaiserreich und Realem Sozialismus über ihre eigenen Leichen gegangen ist. Da ist wenig auszulassen.

Freilich hat das auch schon wieder einen fast konventionellen Einschlag (und damit d 2), wenn die Geschichte in den Berliner Schauplätzen immer präsent ist. Kein Landwehrkanal ohne seine berühmten Leichen und jene gewaltbereiten Schergen, die sich um einen Mord mehr oder weniger nicht gekümmert haben.

Leser bewegen sich hier auf unsicherem Gebiet, was – wie man Grünbein zugestehen wird – sicher auch konzeptionell begründet ist. Die „Äquidistanz“ zu halten ist eine große Kunst, und Grünbein ist ein großer Lyriker, zweifelsohne. Und dennoch.

Dennoch scheint auch er in die Fallen lyrischen Sprechens zu treten, nämlich immer dann, wenn er in die willfährige Konfrontation geht. Der Abwehrgestus gegen ein vermeintlich übermächtiges Etwas, das er durch ein distanziertes „sie“ anspricht, erinnert allzu sehr an den demonstrativen Unterlegenheitsgestus einer unterworfenen Schicht, in der sich der Lyriker zu verorten weiß. Ihr da oben, wir hier unten, sie da hinten. Da lässt es sich wohnlich in der Unterwerfung einrichten: 

Sie haben nun wieder Spaß,
Kameraden, und sind sich einig
über deine und keine Gräber hinweg. 

Aha, und das in einem Gedicht, dem zwei Zeilen Celan als Motto vorangestellt sind?

Oder jenes Gedicht, in dem ein berühmtes Exilgedicht Brechts durchscheint, das aber sich am Ende gegen den Barbarismus jener richtet, die wieder in Besitz nehmen, was ihnen geraubt wurde? Die „Birke im Hinterhof“ „erinnert“ an vieles, „Barbaren“, den Neuaufbau, die Zeit nach der Wende und wird von den neuen, vormals vertriebenen Besitzern als erstes gefällt, im Gedicht der offensichtliche Versuch, Vergangenheit ungeschehen zu machen und sich damit an ihr zu vergehen. Wenn denn nicht die Birke bewusst in diese Zentralposition gerückt worden wäre. Im Gedicht Memorial ist eine Birke ansonsten eine Birke. Und wer sind die „feinen Leute“, die sich wieder in den Besitz des Hauses bringen? Sicher nicht jene, die deportiert und ermordet wurden. In der Spannung, die im Gedicht durch die Aufwertung der Birke erzeugt wird, gibt es nur Unrecht. Und zu fragen ist, wohin das führen soll.

Manchmal scheint der Schreibprozess Grünbein doch in Extreme zu treiben, die er ansonsten – und gerade in den Debatten der letzten Zeit – oft so klug vermieden hat. Will am Ende heißen, dass die gleichmäßige Distanz zu halten dann doch nicht so einfach ist. Und manches schließlich doch einfach nur notiert ist.

Titelbild

Durs Grünbein: Äquidistanz. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
183 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430989

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