Als die Sprache ihre Unschuld verlor

Jürgen Becker synchronisiert in „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ das Sichtbare mit den Erinnerungen und findet im Gestern das Repertoire des Heute

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Journalgedichte, wie Jürgen Beckers Texte im Untertitel heißen, sind vor allem einer intensiven Erinnerungsarbeit des Autors entsprungen. Die Vergangenheit spielt eine zentrale Rolle und umfasst ein mittlerweile neunzigjähriges Leben und sie spiegelt sich – auch das ganz auffällig – permanent in der Gegenwart. Dieser schmale Band enthält im wahrsten Sinne des Wortes eine lebenskluge Prosa in Gedichtform mit eigenwilligen, wechselnden syntaktischen Strukturen, die ständig bilanziert und bei aller Fragmentierung des Wiedergegebenen praktisch fast ein Jahrhundert durchmisst und verklammert, mit zwei Diktaturen darin und dem Versuch, es danach besser zu machen. Aber schon der Titel lässt vermuten, dass es auch und gerade unerwartete Kontinuitäten gibt.

Becker hatte sich von Anfang an einem „geläufigen Schreiben“ verweigert. Das war ein bewusster Bruch mit literarischen Konventionen und Tradiertheiten, mit einer linearen Narration. Er hatte das in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg Büchner Preises 2014 so erklärt: Sein Umgang mit der Sprache habe sich aus der Erfahrung ergeben, wie diese Sprache im Alltag angewandt wurde – „wie sie sich interpretieren, verwischen, verschönern und verfälschen läßt in Meinungen, Bildern und Kommentaren“. Ausschlaggebend hierfür waren seine Erfahrungen mit der Nazi-Zeit (Becker ist Jahrgang 1932) und mit dem, was dann zur DDR werden sollte. Aber schon 1947 ging er nach Westdeutschland. „Dem Verlust der sprachlichen Unschuld war ja der Verlust des Vertrauens gefolgt.“

Daraus entstand das Bruchstückhafte als seine ganz eigene narrative Technik, ein Collagieren und De-Collagieren, das unvermittelte Nebeneinander von Beobachtungen und Erinnerungen, die in ihrer Synchronisation immer wieder zu Engführungen und unerwarteten Einsichten führen:

[…] Das Früher: ein Repertoire. Es ist verfügbar
für jeden Fragebogen. Es liefert Zitate, wo es
um Anklage geht, um die Rechtfertigung, um Verstehen,
wenn es an der Erfahrung fehlt, an Augenzeugen, am Dabeigewesensein. Man kann es als Muster
benutzen, das zu jeglichem Verhalten paßt, ob
Persilschein, Blütezeit, Verkehrsdelikt, Rutschgefahr.

Und als Beispiel aus pandemischen Tagen: 

Die neuen Gewohnheiten setzen sich Gesichtsmasken auf
und lassen die Gewohnheiten von früher
draußen in der Schlange stehen.

Besonders häufig geht Jürgen Becker weit zurück in sein Leben, gräbt in all den Anfängen, um lauter Gleichzeitigkeit über die geschichtlichen Bruchlinien hinweg aufzuspüren: 

Bratkartoffeln, Wunschkonzert damals,
als es nur Kartoffeln gab.
Die Pfanne hing am Haken
neben Hammer und Sichel, zuvor ein Ährenkranz mit Hakenkreuz.
der Gutshof enteignet, das Bahngleis demontiert.

Oder so: 

Die Abendnachrichten fangen an
mit Meldungen von der Virusfront, 
und die Kinderabende sind wieder da, als der Nachrichtensprecher meldete,
zuallererst, allabendlich,
was das Oberkommando der Wehrmacht
von der Front, von den Fronten 
bekanntgab. 

Ich glaube, es sind nicht die Botschaften selbst, sondern gewisse Haltungen, mit denen sie mitgeteilt werden und in denen Becker das Gestern im Heute widergespiegelt sieht. Wichtig sind dabei die Verhaltensstrukturen, die diese Haltungen ausbilden. Dem Autor geht es, so meine Annahme, nicht um eine Gleichsetzung, wohl aber um diese Verhaltensstrukturen, die er Gewohnheiten nennt.

Dennoch, die Furie des Verschwindens räumt am Ende alles unerbittlich ab vom Lebenstisch, an dem wir wie lange auch immer sitzen mögen:

Ob man
es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.
Hausdächer aus den dreißiger Jahren; Straßen mit Biographien, […]. 

Weshalb Becker irgendwann die Frage stellt, wen es denn noch gebe, von denen, die dabei gewesen sind, worauf eine lange Liste mit Namen und Orten folgt – darunter Galerie Der Spiegel, Paris Bar, Hanseatenweg. Und dann plötzlich dazwischen solche wunderschönen Sätze: „Die nächste Seite weiß noch nicht, was / an Wörtern auf sie zukommt.“

Das Buch hat Jürgen Becker seiner im letzten Jahr verstorbenen Ehefrau Rango Bohne gewidmet. Sie war Malerin mit einer Vorliebe für Landschaften, wobei sie den Blick weg vom Horizont hin zu dem lenkte, was am Wegrand und im Vorbeigehen zu finden ist und eigentlich immer schon im Verschwinden begriffen ist. Gemeinsam entstanden beispielsweise Korrespondenzen mit LandschaftHäuser und Häuser und Scheunen im Gelände. Auch diese Epoche hat aufgehört. Um das Vergessen geht es in den Journalgedichten ganz zum Schluss:

vergessen, was man vergessen hat; geblieben,
was noch zu tun ist. Zeitlebens ist geblieben ein Rest, und du weißt nicht, wenn sie wegkehren das Zeug oder
wiederverwenden, was die Nachkommen sich dabei denken.

Ein persönlicher Nachtrag: Den Namen Jürgen Becker erinnere ich seit frühester Zeit immer zusammen mit dem von Wolf Vostell (einem meiner damaligen Kunst-Heroen). Der simple Grund: Beide gaben 1965 bei Rowohlt eine Dokumentation heraus, die aktuellen Kunstentwicklungen gewidmet war und die unter Benennungen wie Happening, Fluxus, Pop Art und Nouveau Réalisme firmierten. Mich zog das alles mächtig an und seit Ende der sechziger Jahre steht bei mir das Buch von Becker und Vostell im Regal. Als ich jetzt Die Rückkehr der Gewohnheiten las, nahm ich das Buch wieder zur Hand, um noch einmal Beckers Vorwort zu lesen. Es war übrigens nicht die erste Zusammenarbeit der beiden. 1960 erschien in einer Edition der legendären Kölner Galerie Der Spiegel Phasen. Texte und Typogramme, das heute, nebenbei bemerkt, antiquarisch mit 4000 Schweizer Franken gehandelt wird.

Wie oben schon erwähnt, sollte die weitere literarische Arbeit Beckers immer wieder nahe an der bildenden Kunst siedeln. Interessant an dem Happening-Vorwort war für mich die Feststellung, wie eng gewisse Bedenken des Autors gegen neueste ästhetische Tendenzen mit seinem literarischen Credo verbunden waren und wie sehr sie es begründeten. Was meine ich damit? Vostell bezeichnete seine Happenings als Ideen, die vom Publikum gelebt werden müssen. Becker erinnerte das an die politischen Ideen in Diktaturen, also an übergeordnete Ideen, respektive Ideologien, die das Verhalten lenken. Und genau das löste ein Unbehagen in ihm aus. Bezeichnend, wie er in seiner skeptischen Haltung vor allem auch die Ohnmacht des Subjekts ins Spiel bringt:

Denn das verzweifelte Verlangen, der Realität mit ihren eigenen Mitteln auf den Leib zu rücken, wird begleitet von Ohnmacht. Von der Ohnmacht nämlich, mit der die Mittel der Kunst geschlagen sind. Die Wut darüber ist in den Fluxus-Aufführungen ausgebrochen, in denen Musiker ihre Instrumente zerstörten […], aus denen sich künstliche Klänge zwar, nicht aber das Geräusch des Lebens herausholen ließ. Es wurde hörbar im Augenblick der Demolierung, wie Realität sichtbar wird, wenn man sie ausstellt.

Problematisch erschien ihm zudem die Ästhetisierung der Wirklichkeit, weil „noch der übelsten Realität die ästhetische Würde der Kunst“ verliehen werde. Aber das ist freilich nicht erst zum Problem geworden durch das Happening, denn alle Wirklichkeitsdarstellung, vom Pressefoto angefangen, schafft unmittelbar eine ästhetische Distanz durch das Moment der Betrachtung. Genau hier aber treffen sich die Skepsis und die eigene literarische Produktion, nämlich in der durch sie vermittelten Sprachskepsis und in dem Wissen der Kontaminierung von Sprache, verbunden mit einem scheinbar irreparablen Vertrauensverlust. Die Philosophie der Alltagssprache hatte das einst in die Frage verpackt: Müssen wir meinen, was wir sagen? Das Durchlässige und Offene waren seither Beckers literarische Antwort auf Sprach- und Denkdiktate jeglicher Art – eine überzeugende und bis heute konsequent durchgehaltene Antwort.

Titelbild

Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
80 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430453

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