Ankünfte jenseits der Zeit

Patrick Wildens „Schreibers Ort“ verwebt Natur und Sprache zu einer fein ausbalancierten Textur semantischer und lautlicher Spannungsverhältnisse

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Plätze, zu denen sich poetisch Schreibende hingezogen fühlen, sind mindestens so vielfältig wie ebendiese literarischen Personen, denen sie zuzuordnen wären, und vielleicht ist sich auch nicht jede davon überhaupt darüber im Klaren, wo ihr ureigener Platz zu suchen respektive zu finden sei: Ist es der Ort der Kontemplation, der Ort der Begegnung mit anderen, mit Ideen oder der Geschichte, eine Form von Heimat, sei sie aufgrund von Herkunft determiniert oder von einer erfolgreichen Suche nach ihr aufgefunden? Oder können diese Orte nicht sogar viele sein, den Imponderabilien des Geschicks geschuldet, eine im Vorhinein nicht vorhersagbare Anzahl von Würfelaugen?

Patrick Wildens Schreibers Ort gibt auf diese Fragen mehrere Antworten. Die Tatsache, dass die meisten Gedichte daraus während eines und nach einem Aufenthalt im heute polnischen Agnetendorf im Riesengebirge nahe der tschechischen Grenze entstanden sind, gibt denn auch nur einen äußeren Hinweis. Der Autor verbrachte im Jahre 2016 als Stipendiat der Sächsischen Kulturstiftung zwei poetisch prägende Monate im dortigen Gerhart-Hauptmann-Haus. Diese letzte Wohnstätte des großen naturalistischen Dramatikers und der Umstand, dass in der Nähe auch tatsächlich eine Ansiedlung mit dem Namen Pisarzowice – zu Deutsch Schreibersdorf – existiert, mögen Inspiration für die Wahl des Buchtitels gegeben haben, doch Wildens eigener, eigentlicher Ort des Schreibens erscheint weniger als eine topographische als vielmehr eine thematisch einzuordnende Angelegenheit: seine Gedichte kreisen vor allem um eine Inbezugsetzung von Natur und Literatur, enger zu fassen vielleicht noch von Baum und Buch, die ja auch tatsächlich eine unmittelbare materiale Beziehung zueinander haben.

Bereits in dem dreiteiligen Eröffnungsgedicht Buchentiere klingt die tiefe psychische Verbundenheit des lyrischen Ichs mit den alten Baumriesen an: 

und eure Sprache spreche ich nicht und dennoch
bei euch fühle ich mich sicher

Bis zur Fällung und darüber hinaus besteht dieses Aufgehobensein, 

bis zum Umfallen nach dreihundert
rindengrauen Jahren

 bei euch fühle ich mich unverloren unübersetzt[,]

also in gewisser Weise vor allem Sprachlichen im Kern verstanden als Mit-Wesen; die Bäume fungieren darüber hinaus jedoch auch als Urgrund des eigenen Dichtens, wenn das Ich von sich schreibt: 

ich bin der Buchfink in euch
der Winzigleib mit riesiger Stimme

Eine Baum- und Vogelmotivik zieht sich als wiederkehrendes Element durch den ganzen Gedichtband und wird gleichzeitig auf raffinierte Weise immer wieder sublimiert wie etwa im Gedicht Alte Himmel, in dem die Bäume zu Büchern und Regalen, die Vogelstimmen zu Klingeltönen mutiert sind.

Zugleich ist diese un-topographische eigene Ortsbestimmung des Schreibers Patrick Wilden auch häufig eine lautliche: sie konstituiert sich in der Beziehung von Vogel- und anderen Tierstimmen, dem Rauschen der Blätter einerseits und dem musikalischen und onomatopoetischen Anteil der Wildenschen Lyrik andererseits auf ganz eigene Art und Weise. Im Gedicht kargenossen karkonosch werden etwa spielerisch die polnischen und tschechischen Bezeichnungen des Riesengebirges (Karkonosze bzw. Krkonoše) mit allerlei anderen Kar-Anlauten aus dem Deutschen verbunden und munter weiterpermutiert (wie etwa Karbid, Kartell, Karthause, Kartenhaus, Kartoffeln oder Kartographen) und durch den Untertitel des Bandes, Suite karkonosque mit seinem Anklang an Debussys Suite bergamasque noch obendrein anspielungsweise musikalisiert. In den fünfzehn kleinen Variationen in D des Zyklus Klemmton bewirkt der defekte D-Saitendämpfer eines Klaviers, dass der Ton auf einmal frei schwingen kann:

Der Dämpfer bewegt sich
nicht. Der Ton hat seinen Peiniger abgeschüttelt[,]

was das lyrische Du dieses Textes zur wiederholten Aufforderung an sich selbst führt: Schreib ein Gedicht in D.“ Am Ende steht eine perfekte Verschmelzung von Worten und Tönen:

Es klingt – Ich schreibe – und
klingt – ein Gedicht – und klingt – über D …

Die beständige Verschränkung von Landschaft und Literatur ist geradezu Programm: 

jetzt
tropfen die Bäume
ihrer Silben schmerzhaft sicher
Material für einen Morgen
und weiter im Text

So heißt es etwa in Mutter Natur aus dem Zyklus mit dem bezeichnenden Titel Das Gedicht im Gebirge. Vor diesem Hintergrund bleiben die mitunter portraitierten Menschen, eine rothaarige Frau namens Jadwiga oder der Portier Kasimir mit dem Nietzscheschnauzer“ etwa, Episoden mehr oder weniger geglückter Kommunikation zwischen dem Gast und den Einheimischen, eingebettet in das große Ganze der überwältigenden Riesengebirgsszenerie und der von ihnen angestoßenen Gedichte: 

du hast dich mit Wörtern beladen die du nicht kennst
und trägst sie die Wege entlang 

du findest wieder zurück
zu der winzigen Stimme
in deiner Hand

Den Texten wohnt gleichzeitig auch eine überzeitliche Dimension inne, Vorher und Nachher relativieren sich auf seltsame Weise, wenn es einmal im namensgebenden Zyklus Schreibers Ort heißt: „Es ist wie ein Anfang ohne Beginn“ und zwei Gedichte später: „Wie ein Beginn ohne Anfang“ oder im ersten dieser Texte: „Du verstehst nicht was die Radiostimmen sagen“, was im letzten zu einem „Du trittst in deinen Sprachraum ein / verstehst was die Radiostimmen sagen“ wird. Dazu korrespondiert, dass die Texte in diesem, dem zweiten Lyrikband Patrick Wildens, zu einem guten Teil zeitlich vor denen des Debütbandes von 2019 enstanden sind. Der Ort und die Zeit des Schreibens scheinen (auf eine glückliche kreative Art und Weise) durcheinander zu geraten, sind

Abstraktion
einer Landschaft von Schatten auf Steinen
die sich ständig bewegen du hältst sie
für unbekannte Karten

Wegweiser, die sich in Wildens erstem Gedichtband mit dem Titel Alte Karten von Flandern, freilich in Bezug auf eine ganz andere topographische Region, dann erst wiederfinden.

So erlebt Patrick Wildens Lesegemeinde in Schreibers Ort literarisierte Ankünfte jenseits der Zeit. Denn dazu sind diese Gedichte von einer unprätentiösen, zeitlosen Schönheit, die sich auch in den verschiedenen Vers- und Strophenformen widerspiegelt, von freien, prosanahen Textblöcken wie in Klemmton über vielgestaltig freirhythmische und in unterschiedlichste Strophenkombinationen gegossene Verse bis hin zu einer fast formstrengen Sestine im titelgebenden Gedicht des Zyklus‘ Stadt Land Kuss. In dieser Überzeitlichkeit findet zudem auch beinahe wie von selbst eine Versöhnung der Nachmoderne mit dem Überlieferten statt. Im Bonusgedicht Muttersprache, welches der Verlag auf ein auch als Lesezeichen verwendbares Extrakärtchen gedruckt hat, scheint die über allem stehende Gewissheit von Schreibers Ort noch einmal auf: 

Hab Vertrauen:
selbst im dicksten Gestrüpp
hält die Muttersprache 
Wort

Titelbild

Patrick Wilden: Schreibers Ort.
parasitenpresse, Köln 2022.
98 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783947676934

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