Nationaldichter als Protagonisten

Walter Laufenberg versucht sich an Erzählungen über „Goethe und Tschechow“

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Wolfgang von Goethe und Anton Pawlowitsch Tschechow waren unbestritten hervorragende Autoren. So ist ihr Werk nicht nur Gegenstand für literaturwissenschaftliche Untersuchungen, sondern auch Autorinnen und Autoren setzen sich immer wieder mit ihren Schriften auseinander. Nicht zuletzt wird ihre Popularität durch solche literarische Texte gesteigert, hat doch Bettina von Arnims halbfiktionales Briefbuch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) bei den Zeitgenossen großes Interesse gefunden.Man erhoffte sich durch die Lektüre des drei Jahre nach Goethes Tod erschienenen Bandes Aufschlüsse über die wahre Persönlichkeit des Dichters und seine geheimnisvolle Beziehung zur Schwester Clemens Brentanos und Frau Achim von Arnims. Dichtung und Wahrheit liegen in solchen Werken genauso eng beieinander wie in Goethes eigener Autobiographie. Diesem Muster, historische Quellen mit fiktionalen Elementen zu verbinden, folgen auch die beiden Erzählungen in dem Band Goethe und Tschechow. Kühler Kopf und warmes Herz von Walter Laufenberg.

Dreh- und Angelpunkt der Erzählung Goethe versus Vulpius, Vulpius, Vulpius und Vulpius ist – wie der Titel bereits vermuten lässt – Goethes Verhältnis zur Familie Vulpius. Dieses wurde bereits von Sigrid Damm in ihrer Recherche Goethe und Christiane minutiös aufbereitet. Ist bei Sigrid Damm der wissenschaftliche Anspruch auch aufgrund der vielen historischen Quellen, die sie verwendet hat, unverkennbar, so wählt Walter Laufenberg für seinen Text die Gattungsbezeichnung Erzählung. Es besteht also kein Anspruch auf historische Korrektheit, stattdessen steht dichterische Freiheit im Vordergrund. Das Ergebnis kommt wie eine wissenschaftliche Untersuchung im narrativen Gewand einher, die versucht, die negativen Charaktereigenschaften Goethes unter anderem anhand seiner Beziehung zu seiner späteren Frau Christiane und deren mit seinen Unterhaltungsromanen sehr erfolgreichen Bruder Christian August Vulpius zu erzählen. Chronologisch wird Goethes rücksichtsloser Kampf für sein eigenes Werk und um die literarische Vorherrschaft in Weimar geschildert, der zugleich als Ringen um die Gunst der Leser zwischen Unterhaltungs- und Bildungsliteratur entworfen wird. Auch wenn dabei immer mal wieder ein verständnisvoller Blick auf die Arbeitsbelastung des Ministers geworfen wird, kommt Goethe als Mensch dabei nicht gut weg. Neu ist das allerdings nicht – bereits Bettina von Arnim hat Goethe als berechnenden Briefpartner gezeigt, der sich überhaupt nur herabgelassen hat, der jungen Dame zu antworten, wenn diese Geschenke geschickt oder die Erzählungen seiner Mutter transkribiert hat.

Die Geschichte Goethes mit der Familie Vulpius beginnt mit dem Registrator und Kopisten Johann Christian Vulpius. Goethe entdeckte kurz nach seiner Ankunft in Weimar in den Büchern der Bibliothek Unstimmigkeiten – entweder fehlten Bücher oder Gelder wurden unterschlagen. Verantwortlich gemacht wurde dafür der Registrator – auch wenn sich im Nachhinein herausstellte, dass diesen keine Schuld traf, war sein Ruf und der seiner Familie ruiniert. So gelang es auch seinem Sohn Christian August nur schwer, beruflich Fuß zu fassen. Erst durch das Bittgesuch seiner Schwester Christiane beim Minister Goethe wendete sich das Blatt. Christiane wurde zur Lebensgefährtin Goethes und dieser setzte sich für ihren Bruder Christian August ein. Ihm gelang der literarische Durchbruch Jahre später mit dem 1799 erschienenen Trivialroman Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Dieser Erfolg, so Laufenberg, schmerzte Goethe, weshalb er versuchte, Vulpius durch Beförderung vom weiteren Schreiben abzuhalten. Selbst die Geburt des Sohnes Rinaldo Vulpius soll laut Laufenberg ein Schlag für Goethe gewesen sein. Hier ist es wohl eher der narrative Zwang, der einen vierten Kontrahenten aus der Familie hervortreten lassen muss. Die Geschichte lässt sich mit den Worten des Autors wie folgt zusammenfassen:

Den Namen Vulpius […] hatte Goethe fast während seiner gesamten Weimarer Zeit im Kopf, also mehr als fünfzig Jahre lang, mal weiblich, mal männlich, mal alt, mal jung, mal liebevoll, aber meistens ärgerlich. Immer vulpiuste es um ihn herum. Der Name Vulpius war für ihn wie die Schattenseite des Mondes, fremd und düster.

Leider ist das Zitat auch sprachlich symptomatisch für die Erzählung. Neben der teilweise verqueren Bildlichkeit erinnert sie an eine populärwissenschaftliche Darstellung von Goethes Verhältnis zur Familie Vulpius mit literarischen Einsprengseln. Weder lässt sich ein Spannungsbogen in der chronologisch erzählten Handlung entdecken, noch bietet die Erzählung mehr als Klatsch und Tratsch über die Verhältnisse in Weimar. Im Nachwort verweist der Autor darauf, dass die Erzählung das Ziel verfolgt, den Weimarer Heroen als Menschen wie Du und ich darzustellen und ihn dadurch auch jüngeren Leserinnen und Lesern näher zu bringen. Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass gerade dieses Zielpublikum aufgrund des oftmals schwierig zu lesenden Stils mit langen Satzkolonnen wohl kaum über die ersten Sätze hinwegkommen wird.

Etwas anregender ist die zweite Erzählung Tschechow zu Gast beim Doppelmörder. Hier widmet sich Laufenberg der Reise des russischen Autors zur im Pazifik gelegenen Sträflingsinsel Sachalin im Jahr 1890. Dort will er die berüchtigte Strafe der Katorga untersuchen, eine nur in Russland bekannte Strafmaßnahme. Diese ist direkt nach der Todesstrafe angesiedelt und besteht aus Zwangsarbeit mit anschließender Ansiedlung für mehrere Jahre auf der Insel Sachalin bzw. in einem anderen Katorgagebiet. Die Schilderung der Reise sowie des Aufenthalts auf der sibirischen Pazifikinsel ist immer wieder durch Gespräche unterbrochen, die durch erzählende Passagen in erlebter Rede Einblick in Gefühle und Gedanken der Beteiligten geben. Damit erzählt Laufenberg die Leerstellen aus dem bewusst objektiv gehaltenen Bericht Tschechows aus, der auf Deutsch unter dem Titel Die Insel Sachalin im Diogenes Verlag erschienen ist. Ein besonderes Interesse liegt auf dem Besuch des Autors bei dem Doppelmörder Landsberg. Dieser hatte erhebliche Spielschulden und tötete den Geldverleiher Wasslow, als dieser ihn bei der Suche nach den Schuldscheinen überraschte. Die besondere Tragik der Geschichte bestand darin, dass Wasslow Landsberg die Schulden erlassen und ihn sogar als Erben einsetzen wollte. Das Aufeinandertreffen zwischen dem ehemaligen Offizier und Tschechow ist als mit Worten ausgetragenes Duell gestaltet. Die Uneinsichtigkeit Landsberg in seiner Selbstdarstellung ist kaum zu überbieten:

Der Mann ist dreist, aber gar nicht so dumm. Dann muss er eigentlich auch den Begriff der Moira kennen, mit dem die Alten Griechen dieses vergebliche Ankämpfen gegen ein missgünstiges Geschick bezeichneten. Mal sehen, ob er da mithalten kann. „Ich bin Opfer des Schicksals“, stellte Landsberg mit einem gewissen Pathos fest, „ein Opfer wie Ödipus, der bekanntlich bei dem Bemühen, alles richtig zu machen, genau das Falsche tat. Sie wissen, er erschlug seinen Vater und schlief mit seiner Mutter, beides aus Unwissenheit. So machte ihn sein persönliches Schicksal zum Opfer. Die Alten Griechen wussten schon, was das Unvermeidbare, nämlich die Moira, ist.“

In der erlebten Rede wird für den Leser der sprachliche Schlagabtausch mit Emotionen und Absichten unterlegt, während in der direkten Rede die Höflichkeit gewahrt bleibt. Die sprachliche Gestaltung ist hier durchaus reizvoll. Die Umkehrung literarischer Motive und Themen ist allerdings so überspitzt, dass sie nicht entlarvend, sondern vielmehr komisch wirkt. Die Frage, warum der bereits an Tuberkulose erkrankte Tschechow diese beschwerliche Reise auf sich nimmt, ist immer wieder Gegenstand der Gespräche, wird aber am Ende nicht aufgelöst. Die erschreckenden Zustände auf der Sträflingsinsel sind auch heute noch schockierend. Der Versuch, einen entlegenen Landstrich zu besiedeln, ist zum Scheitern verurteilt. Die Schilderungen dieser Insel der Unmenschlichkeit sind beeindruckend, was allerdings weniger das Verdienst Laufenbergs als das Tschechows ist.

Der Untertitel des Bandes Kühler Kopf und warmes Herz beruht auf einer Bewertung des Sachaliner Inselkommandanten, der seinen Vorgesetzten in Moskau berichtet, dass von Tschechow keine Gefahr ausgehe: Er sei „[n]ur ein Dichter, mehr warmes Herz als kühler Kopf.“ Der Gegensatz, den Walter Laufenberg aufmachen möchte, ist der zwischen dem eitlen Dichterfürsten Goethe und dem empfindsamen Kämpfer für eine bessere Welt Tschechow. Mit seiner polarisierenden Darstellung hat Laufenberg die Chance vergeben, die beiden historischen Persönlichkeiten zu Helden von Erzählungen zu machen, die auch ein nicht literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum in ihren Bann schlagen.

Titelbild

Walter Laufenberg: Goethe und Tschechow – Kühler Kopf und warmes Herz. Zwei Erzählungen.
Dittrich Verlag, Berlin 2022.
172 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783947373796

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