Die Moral von der Geschicht‘

Quellenforschung, fundiert und originell: der Sammelband „Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert“ von Jürgen Finger und Benjamin Möckel

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, Aufrufe, „faire“ Produkte zu kaufen, Vorstellungen darüber, wer wenig und wer viel haben darf, die Geißelung von Gier, Ausbeutung, Sozialneid und – sehr häufig – das Lob von fleißiger Arbeit und sparsamer Lebensführung … Zeitungsleser können wirklich ganz leicht erahnen, dass wirtschaftliche Konzepte voll mit moralischen Überlegungen sind.

Das ist nicht neu – ein Blick in die Geschichte zeigt, dass ökonomisches Handeln jeher mit moralischen Überzeugungen verknüpft ist. Mehr darüber kann man in der Anthologie Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert erfahren. Das von den Historikern Jürgen Finger (Paris) und Benjamin Möckel (Köln) herausgegebene Buch enthält 20 historische Fallstudien über die vielen moral histories der Ökonomie. Es umfasst den weiten Zeitraum von Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute – also vom Beginn der kapitalistischen Moderne bis zur zeitgenössischen globalen Ökonomie.

Das Buch geht davon aus, dass Wirtschaft und Moral nicht als getrennte Sphären interpretiert werden sollten – auch wenn abstrakte ökonometrische Modelle dies glauben machen und so ihre wissenschaftliche Autorität untermauern wollen. Hier die naturgesetzlich erscheinenden Mechanismen des Marktes (Angebot, Nachfrage, Preis, Produktion und Distribution, Nutzenmaximierung, Konsum) – dort die Moraldebatten über „Marktversagen“ oder „Auswüchse“ des Kapitalismus. Gegen diesen Dualismus verweisen Finger und Möckel auf soziologische Denktraditionen (zum Beispiel Émile Durkheim, Max Weber) und wirtschafts- und sozialgeschichtliche Arbeiten (Karl Polanyi, Edward P. Thompson), die ökonomisches Handeln und soziale Normen zusammendenken und die Passung oder den Konflikt zwischen beiden betrachten.

Darüber hinaus nutzen die Herausgeber Impulse aus der neueren soziologischen Diskussion zur „sozialen Einbettung der Ökonomie“ und „Moral Economy“. Das Ziel ihrer Bemühungen besteht darin, die impliziten normativen Vorstellungen wirtschaftlicher Entscheidungen herauszuarbeiten, wirkmächtigen Regeln, Institutionen und sozialen Zuschreibungen auf die Spur zu kommen.

Dieser Ansatz ist insofern konflikttheoretisch angelegt, als er sich auf moralisierende Auseinandersetzungen um ökonomische (aber auch soziale und politische) Interessen konzentriert. Dabei geraten strategische Diskurse über wirtschaftliche Konzepte und Aushandlungen über die jeweils zu akzeptierenden Pflichten und Erwartungshorizonte in den Fokus. Der disziplinierende, pädagogisierende, nicht selten diskriminierende Charakter so verstandener Moral wird sichtbar. Außerdem interessiert die Frage, wie individuelle und kollektive Akteure (mit ihren jeweiligen Motiven, Zielen und Strategien) normative Argumente verwenden, um eigene Positionen zu legitimieren oder durchzusetzen.

Dieses in der Einleitung entfaltete methodologische Programm gewährleistet zum einen eine breite Anschlussfähigkeit. Zum anderen bildet es die moralsoziologische Klammer für die im Sammelband präsentierten Einzelstudien. Die Historikerinnen und Historiker gehen in medias res. Jeder Beitrag thematisiert eine konkrete Quelle – Texte, Bilder, Artefakte, Broschüren, Filme, Alltagsgegenstände – und analysiert daran in historisierender Perspektive moralische Subtexte, gesellschaftliche Konflikte und Deutungskämpfe, auch biographische Hintergründe.

Die Frage etwa, ob nicht allein schon das Verständnis und der Gebrauch von Geld als „universelles“ Zahlungsmittel kulturell zu relativieren wären, werfen beispielsweise ethnologische Forschungen zur „Ökonomie der Anderen“ auf; Timo Luks verweist auf sozialanthropologische Feldstudien der 1950er-Jahre von Mary Douglas (1921–2007) über Textilien als Tauschmedium (cloth money) im Kongo. Sören Brandes zeigt, dass im sich „sachlich“ gebenden Grenzproduktivitätsmodell von John Bates Clark (1847–1938) eine „moralische Rechtfertigung des Kapitalismus mit wissenschaftlichen Mitteln“ angelegt ist. Wie sich die deutsche Kritik an Börsenspekulationen Ende des 19. Jahrhunderts mit antisemitischen Stereotypen verbindet, arbeitet Catherine Davies‘ tiefe Textanalyse eines Zeitungsartikels über den amerikanischen Börsenmakler James Fisk (1834–1872) heraus.

Die heute häufig betonte Vision vom „ehrbaren Kaufmann“ nimmt sich Marc Buggeln vor und problematisiert anhand einer Karikatur von 1918, einer betriebswirtschaftlichen Arbeit von 1923 und einer Programmschrift von 2009 den darin verborgenen weltanschaulichen Konservatismus und die Ressentiments, die diese imaginierte Figur von damals bis jetzt bedient. Matthias Ruoss weist darauf hin, dass Ehemänner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenhaft Zeitungsanzeigen geschaltet haben, um andere davor zu warnen, ihren Ehefrauen Geld oder Waren zu leihen; diese Drohungen bilden ab, wie die entstehende kapitalistische (Kredit-)Wirtschaft mit Geschlechterkonflikten und mit Disziplinierungsversuchen darüber einhergeht, was eine Ehefrau tun darf und was nicht. Ein juristischer Kommentar zur „Unterhaltspflicht des schuldig geschiedenen Ehemannes“ von 1938 regt Annemone Christians zur Rekonstruktion des damaligen Familien- und Scheidungsrechtes an; Ehe wurde demnach als Institut der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ konstruiert, und in der Unterhaltsfrage scheint die abhängige und sich im NS-System verschlechternde Rolle von Ehefrauen hervor.

Der Anspruch, Ökonomie nicht als losgelöste, sondern als historisch-soziale Praxis zu verstehen, schließt die Betrachtung von politischen Spannungen ein: etwa als die Europäische Gemeinschaft ab Ende der 1970er-Jahre Unternehmen auf einen Verhaltenskodex im Umgang mit dem Apartheidsregime Südafrika verpflichten wollte (Knud Andresen); als der soziale Protest der „Gelbwesten“ 2018 mit seinem Bezug auf demokratische Ideale die französische Gesellschaft erschütterte (Jürgen Finger); oder wie Statistiken der US-Regierung über weltweite Rüstungsausgaben um 1970 im außenpolitischen Nord-Süd-Konflikt um „Militär-“ und „Entwicklungshilfe“ strategisch arrangiert und genutzt wurden (Daniel Stahl).

Vermutlich weil kapitalistisches Wirtschaften alle Lebensbereiche betrifft, weist der Band eine große Themenvielfalt auf; er enthält Beispiele aus Deutschland, den USA, Großbritannien, Frankreich und der Niederlande – siehe nur das Inhaltsverzeichnis. Die Herausgeber haben die jeweils nur rund zehn Seiten kurzen (zweispaltig gesetzten) Beiträge weder zeitlich noch thematisch geordnet, sondern alphabetisch nach Autoren aneinandergereiht. Eine vorangestellte „Gebrauchsanweisung“ mit acht Schlüsselkategorien (Gemeinschaft, Entfaltung, Bedürfnis, Pflicht, Nutzung, Preis, Innovation, Verdienst), die in den einzelnen Beiträgen rot markiert sind, sollen intertextuelle Bezüge erlauben. Ein Personen- und Stichwortverzeichnis – das leider fehlt – ersetzt dies aber nicht.

Die Originalität des Buches sticht bereits beim Durchstöbern und bloßen Betrachten der 36 unterschiedlichen, teilweise farbigen Quellenabbildungen ins Auge. Die Autorinnen und Autoren holen Material hervor, das nicht unbedingt allgemein bekannt und zum Teil wirklich kurios ist. Schmunzeln könnte man beispielsweise über die DDR-Fotogeschichte „3 Eimer Mörtel -schnell und unbürokratisch“ (1963); diese Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Werkstoffe für Reparaturen zu beschaffen sind, ist im Zusammenhang mit Mangelwirtschaft und realsozialistischer Staatsstruktur zu verstehen (Reinhild Kreis) – und da hört das Lachen sicher auf. Oder man schaue sich den aufklärerisch daherkommenden BRD-Film „Putzke will es wissen“ von 1952 (auch im Netz zu sehen) an; mit ihm wollte das Finanzministerium die Steuermoral der Westdeutschen heben – im Kontext von re-education, tax-education und als Versuch medialer Beeinflussung der Öffentlichkeit gelesen, wirft er ein Schlaglicht auf die moralische Verfassung des Nachkriegsstaates (Korinna Schönhärl).

Insgesamt bietet das Buch ein fundiertes theoriestrategisches Setting und inspirierende Quelleninterpretationen, die über nacherzählendes historisches Storytelling hinausgehen – eine Fundgrube, um möglicherweise eingespielte Denkmuster in wirtschafts- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen zu öffnen und weitere fruchtbare Forschungsarbeiten anzustoßen. Dem Band ist ein großes Publikum zu wünschen.

Titelbild

Jürgen Finger / Benjamin Möckel (Hg.): Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert. Eine Anthologie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
255 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352001

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