Zwischen Lebensrealität und Mystik

Eva Tinds Roman erzählt in „Ursprung“ von der Suche nach Identität dreier Familienmitglieder in verschiedenen Lebensphasen

Von Christine LentzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Lentz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Sui achtzehn wird, zieht sie aus und lässt ihren Vater Kai allein zurück. Er hat sie großgezogen während die Mutter Miriam, eine in Dänemark lebende weltberühmte Künstlerin, die beiden schon früh hinter sich gelassen hat, um konsequent ihren Weg zu verfolgen. Die drei Familienmitglieder sind keine Familie und waren es nie, doch sind sie alle drei miteinander verbunden und suchen jede*r für sich die eigene Identität und den Platz im Leben. Wer ist Kai neben seiner Rolle als Vater, wenn die Tochter erwachsen wird? Wer ist die Mutter, wenn sie nie eine sein wollte und konnte? Wer ist die Tochter für die Mutter? Autorin Eva Tind folgt je einer der drei Protagonist*innen in einzelnen Kapiteln und über verschiedene Zeitebenen hinweg, als sich für Sui, Miriam und Kai Wendepunkte im Leben auftun. Ursprung ist dabei keine klassische Familiengeschichte und doch geht es um Familie.

Obwohl die Kapitel zwischen den Jahren 1991 und 2010 spielen, wirkt der Roman seltsam zeitlos. Sui sucht nach dem Auszug bei ihrem Vater und der Trennung von ihrem Freund ihre Mutter auf, die selbst nach vielen Stationen im Ausland nun zurückgezogen in einem Wald in Schweden lebt. Es ist das erste Zusammentreffen zwischen Mutter und Tochter, seit Sui sie als Siebenjährige zum letzten Mal sah. Die verlorenen Jahre lassen sich nicht aufholen und keine der beiden versucht den Anschein zu erwecken, das überhaupt zu wollen. Ein offenes, rationales Gespräch um Mutterschaft und Verantwortung zwischen ihr und Miriam gibt Sui aber nicht wirklich die Antworten, die sie ihr Leben lang vermutlich gesucht hat. Sie verlässt die Künstlerin, die sich im Wald, fern von der Zivilisation ihrem eigenen Altern hingeben möchte. Es zieht sie nach Korea, dem Heimatland ihres Vaters, der selbst als Adoptivkind dorthin bisher keine Verbindung aufgenommen hat.

Sui macht Bekanntschaft mit dem koreanischen Teil der Familie auf der Insel Marado und lässt sich zur Muscheltaucherin ausbilden. Ihr Vater Kai hat indessen sein gut laufendes Architekturbüro aufgegeben, sucht in einem indischen Ashram nach Antworten auf seine innere Leere und erkennt dabei seine Kräfte als Heiler. Miriam im fernen Schweden wird währenddessen ein letztes Mal mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Vergänglichkeit konfrontiert. Was sich wie eine klischeebeladene Geschichte eines Selbstfindungstrios anhört, bekommt durch Eva Tinds angenehm zurückhaltende Sprache und die Sympathie für alle ihre Figuren und deren sanftem Humor eine fast poetische Suche nach Existentialität.

Tind streift übernatürliche Elemente, ohne allzu sehr ins Esoterische abzugleiten. So schafft die Autorin eine Welt, die unsere ist und doch gleichzeitig Mythisches mitschwingen lässt. Das verstärken die von Tind gewählten Zeitsprünge in Vergangenes und Gegenwärtiges. Das macht aber auch, dass sich die Stimmen der Figuren gleichen und man die Charaktere trotz ihrer Unterschiedlichkeit nicht differenziert wahrnimmt, sondern die drei Stimmen als eine begreift. Eine Stimme, die die Lebenswege dieser drei Menschen erzählt, die so eng miteinander verbunden und doch jede*r für sich allein unterwegs sind. Die szenenhafte Beschreibung lässt Leerstellen in der Geschichte und in den Beweggründen der Figuren, die den philosophischen Unterton verstärken – ohne dass Tind klare Antworten liefern möchte. Als Schriftstellerin hat sich Eva Tind die Identitätssuche und Zugehörigkeit in ungewöhnlichen Familienkonstellationen zum Thema gemacht. Sie selbst ist Adoptivtochter dänischer Eltern mit Wurzeln in Korea. Ursprung ist das erste Buch der dänischen Autorin, das auf Deutsch erscheint und wurde für den DR Romanpreis nominiert.

Titelbild

Eva Tind: Ursprung.
Mare Verlag, Hamburg 2022.
320 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783866486478

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